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Einleitung.

Es ist ein großes, weites, schmuckloses Haus, ein Haus mit stark vergitterten Fenstern und Thoren, die einer Festung hätten angehören können – dennoch ist aber dies Haus kein Kastell, dem Feinde Trotz zu bieten, sondern nur ein Gefängnis mit vielen, vielen Zellen für Einzelhaft. Und in einer dieser Zellen stand ein junges Weib an dem schmalen, vergitterten Fenster und ließ die Luft über ihr lichtes, blondes Haupt hinwegstreichen und sah mit trocknen, traumverlorenen Augen hinaus auf das Fleckchen blauen Himmels, das sich dort zeigte, wo die hohe, graue Gefängnismauer endlich aufhörte – diese furchtbare Mauer, welche in den Himmel zu wachsen schien.

Und das junge Weib schaute zur Höhe, bis die Augen sie schmerzten und sie den Blick herabsenken mußte bis zu der Stelle, wo man wilden Wein gepflanzt hatte, die graue Mauer zu verkleiden mit den Reizen einer immer schmückenden Natur. Dicht kletterten die Ranken empor an dem kahlen Gemäuer, und da es Herbst wurde, hatte sich das einst dunkle Grün der Blätter rot gefärbt.

»Wie mit Blut überrieselt,« sagte sie erschauernd und wandte sich ab. Doch nichts Freundlicheres als jene liebreich verhüllenden Ranken fand hier ihr Auge: kahle, weißgetünchte Wände, ein niederes, schmales und hartes Bett mit sauberem, aber grobem Linnenzeug, Becken und Krug auf einem Schemel und in der Mitte der engen Zelle ein Tisch und ein Stuhl davor, und auf dem Tisch ein Tintenfaß, Federn und ein paar Bogen billigen Papieres – das war alles.

Und in dieser Umgebung die Gestalt dieser Frau! Groß, schlank, gebietend, wie eine Königin, nicht wie eine Gefangene, stand sie in dem engen Raume und schien ihn zu erhellen durch den Glanz ihrer Augen und den metallischen Schimmer ihres lichten Haares. Ihr schönes Gesicht war wohl schmäler geworden und blaß durch die lange Haft, aber vielleicht darum noch schöner, und die Hände, welche sie jetzt mit einer heftigen Gebärde der Ungeduld zusammenschlug, waren lilienschlank, wohlgepflegt und edel geformt – es waren die Hände einer vornehmen Dame, welche in ihrem Dasein vielleicht nie härtere Arbeit damit gethan als höchstens in Gold und Seide gestickt, Spitzen geklöppelt oder Klavier gespielt. Wie aber kam diese Frau in die Zelle eines Gefängnisses für Einzelhaft?

»Es ist unerträglich!« stöhnte sie.

Dann warf sie sich auf den Stuhl vor dem Tische und begann nervös mit dem Federhalter zu spielen.

Dabei fiel ihr Blick auf das Papier.

»Schreiben!« murmelte sie verächtlich. »Sie wollen mich durch diese unerträgliche Einsamkeit und Langeweile zum Schreiben zwingen. Als ob ich mich jemals durch eine Zeile kompromittiert hätte! Schlafen ist besser!«

Und sie stand auf, um sich sofort wieder auf das Bett niederzuwerfen. Aber der Schlaf kam nicht am hellen Tage – kam er doch selten genug des Nachts zu ihr, wenn sie mit brennenden Augen und fieberndem Blut auf dem harten Lager lag und nicht einmal Licht machen konnte, um die Gedanken damit zu verjagen oder ihnen eine andere Richtung zu geben.

Die Gedanken!

»Wenn ich nur nicht denken müßte,« ächzte sie, setzte sich in ihrer Rastlosigkeit wieder auf und wühlte mit den schlanken, weißen Fingern in der üppigen, welligen Fülle ihres lichten Blondhaares. »Denken, immer denken, immer dasselbe denken! Dasselbe – –! Werde ich denn immer das eine nur denken müssen? Auch wenn ich heraus sein werde aus diesem Schreckensort von Gefängnis, wenn ich wieder frei sein werde, gefeiert, umworben, verwöhnt wie früher? Nein, nein, dann werde ich es vergessen haben. Ach! wenn ich doch heut' schon vergessen könnte!«

Und wieder sank sie, das Gesicht mit den Händen bedeckt, auf das harte Pfühl zurück, den schönen Leib durchschauert wie von einem namenlosen Entsetzen.

Draußen auf den Steinfließen des Korridors erschollen Schritte, Schlüssel rasselten und die Thür der Zelle ward geöffnet. Doch die Gefangene sah nicht auf. Wer konnte es anders sein als der Aufseher, welcher ihr das spartanisch-einfache Mahl brachte oder die Frau hereinließ, welche Wasser trug und frische Wäsche brachte? Und dennoch war es keine dieser Personen, sondern ein Priester mit weißem Haar, ein ehrwürdiger Mann, aus dessen Antlitz eine Milde und Güte leuchtete, wie die Kinder dieser Welt sie nur selten besitzen und noch seltener üben. In seiner Hand trug er ein kleines, schwarzgebundenes Buch und einen kleinen Strauß weißer Moosrosen, wie sie der Herbst noch so schön spendet – beides sollten Liebesgaben bedeuten, denn das Buch, das er jetzt leise und geöffnet auf den Tisch legte, war ein Andachtsbuch, und die weißen Rosen legte er auf die offenen Seiten, nicht als einen Gruß aus der Welt, der die Gefangene entrückt war, sondern als einen beredten Hinweis auf Gottes Größe, Güte und Allmacht. Über Buch und Blumen deckte er einen der auf dem Tisch liegenden Papierbogen.

Das leise Knistern des Papieres aber machte die Gefangene aufhorchen – das war nicht ihr Kerkermeister, der die Zelle betreten hatte! Unwillkürlich richtete sie sich empor, aufgestört aus ihrer dumpfen Träumerei, und stand Aug' in Aug' dem Priester gegenüber. Da richtete sie sich hoch auf; ein seltsamer Zug, gemischt aus Hochmut, Spott und Zorn flog um ihren schönen stolzen Mund, und ihre Augen sprühten.

»Wer hat Sie zu mir geschickt?« fragte sie mit verletzender Kühle, »ich habe Sie nicht rufen lassen!«

Aber ein Gefängnisgeistlicher besucht die Zellen für Einzelhaft nicht in der Hoffnung auf höfliche Reden und demütiges Entgegenkommen; – Demut und Reue sind die Gaben, die er mitbringt, um sie in die Herzen zu pflanzen, welche hier an diesem Ort oft hoffnungslos versteint und verstockt zu finden sind. Und darum nickte der Priester auch nur zu den kalten Worten.

»Nein, meine Tochter, Sie haben mich nicht rufen lassen,« sagte er dann mild, »aber ich habe auf Ihren Ruf gewartet, Sehnsucht im Herzen, und ich habe Ihren Ruf unter heißen Gebeten erfleht – vergebens!«

»So scheint es,« erwiderte sie noch um einen Hauch kühler und unnahbarer.

Da trat er einen Schritt näher an sie heran. »Wenn ich trotzdem zu Ihnen komme, meine Tochter,« sagte er, »so geschieht es, weil ich als verordneter Priester dazu verpflichtet bin, weil mein Gewissen und mein Herz mich zu Ihnen treiben. Und als Priester ist es meine heilige Pflicht, vor Sie hinzutreten und Sie zu mahnen an die letzten Dinge, deren wir stets gewärtig sein sollen –«

»Ich danke Ihnen,« unterbrach sie ihn kalt und mit der Kopfbewegung einer Königin, welche einen Unterthan entläßt. »Sobald ich das Bedürfnis nach geistlichem Zuspruch empfinden sollte, werde ich Sie rufen lassen, Herr Pfarrer. Ich fürchte nur,« setzte sie spöttisch hinzu, »daß ich dann diesem Hause und mithin auch Ihnen schon weit entrückt sein werde.«

»Das fürchte ich auch,« erwiderte der Priester ernst und traurig. »Dennoch aber, meine Tochter, muß ich versuchen, Ihr Herz dem Ewigen zuzuwenden, wie Gott es von uns fordert zur ewigen Seligkeit unserer unsterblichen Seele. Wir wissen, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Heile gereichen, sagt der Prophet. Nun denn, meine Tochter, öffnen Sie Ihr Herz, damit es sich zu Gott wende, und auch Ihnen kann noch zum Heile gereichen, was Ihrem kurzsichtigen, irdischen Auge als der Gipfel des Elends erscheint. Denn Sie dürfen nicht vergessen, daß die irdische Gerechtigkeit Sie zum Tode verurteilt hat!«

»Eine bloße Form, Herr Pfarrer,« erwiderte sie kühl und unbewegt, »eine Form, welche in ihrer plumpen Machart gut und wirksam sein mag für jene Gefangenen, deren Bildung nicht so weit reicht, um unter der Hülle des Fürchtemachers das harmlose Geschöpf zu erkennen. Mich aber kann diese Form aus dem Apparat juristischen Humbugs weder erschrecken noch täuschen. Mein Verteidiger war ein Schwachkopf, und der Staatsanwalt schmetterte ihn daher mit seinen Gemeinplätzen als öffentlicher Ankläger einfach nieder, – aber wer hat mich bei dieser Rede zittern oder erbleichen sehen? Ich habe nur dazu gelächelt!«

»Leider, meine Tochter, leider thaten Sie's!«

»Leider?«

»Ja, denn es hat Ihre Sache sehr verschlimmert.«

Jetzt lachte die Gefangene wirklich – ein leises, melodisches Lachen, das aber nicht von Herzen kam.

»Ah, Sie meinen, weil der Staatsanwalt es bemerkte und deshalb in seine Rede einen schwungvollen Satz über meine Verstocktheit, die ein Beweis meiner Schuld sein sollte, einflocht? Und das sollte mich erschrecken?«

Mit einem unsäglich traurigen Blick sah der alte Priester auf das schöne junge Weib.

»Ich verlasse Sie wieder, meine Tochter,« sagte er dann seufzend, »denn Sie würden in dem jetzigen Zustand Ihres Herzens nicht nur allein nicht auf mich hören, sondern meinen Worten auch jenen kühlen Trotz entgegenstellen, welcher Ihrer Sache vor dem irdischen Richter so geschadet hat, daß ein Gnadenspruch wohl kaum für Sie zu erwarten ist. Ich gehe deshalb jetzt wieder und lasse Ihnen ein Buch zurück, dessen Inhalt Ihr Herz vielleicht mehr bewegen wird als mein gesprochenes, armes Wort. Wollen Sie mir versprechen, in diesem Buche zu lesen, was ich für Sie darin aufgeschlagen habe.«

»Vielleicht thue ich's nicht, vielleicht aber doch,« erwiderte sie nachlässig.

»Wohl, so sei es, denn Sie wissen nicht, wie oft Sie die Nacht noch kommen sehen werden, der bisher stets ein Morgen folgte,« rief der Priester ernst. »Schon steht die Sonne tiefer und schnell verrinnt Stunde um Stunde. Wenn dann die ewige Nacht für Sie gekommen ist, dann ist es zu spät, zu bereuen und Gottes Barmherzigkeit zu erbitten. Halt – nicht dieses überlegene Lächeln, meine Tochter,« fuhr er mit erhobener Stimme und abwehrender Hand fort, als sie die Achseln zuckend den lieblichen Mund zu schrecklicher Lustigkeit verzog, »nicht dies überlegene Lächeln, das Ihre Waffe ist gegen die Schmerzen Ihrer Seele, gegen die Todesangst des Weltkindes, gegen die irdische Gerechtigkeit! Aber Sie täuschen mich nicht damit, denn ich bin's geübt, die Hieroglyphen zu entziffern, welche das menschliche Antlitz mir in meinem schweren Berufe zu raten giebt. Und ich lese auch in Ihrem Auge Schuld und Todesfurcht – Schuld, trotz Ihres nicht einen Moment schwankenden Leugnens, und Todesfurcht trotz Ihrer gemachten Gleichgültigkeit gegen ein Urteil, das schon starke Männer zu Boden geschmettert und bezwungen hat.«

»Feiglinge,« warf sie ein, unbewegt, ruhig, als spräche sie über das Gleichgültigste. »Ich kann Sie, Herr Pfarrer, nicht verhindern in meinen Zügen zu lesen, was Ihnen beliebt, aber Sie fangen mich nicht in dieser Schlinge, wie ich mich in keiner anderen habe fangen lassen. Die ganze Anklage gegen mich ist absurd, das Urteil noch mehr, und es kann jeden Augenblick der mich auf freien Fuß stellende Gnadenerlaß des Königs eintreffen, bei dem mein Name hoch angeschrieben steht. Wozu also die Aufregung?«

Da wandte der Priester sich ab.

»Gott sende Ihnen sein Licht,« sagte er, »denn Sie sind noch nicht reif, sein Wort zu hören. Lesen Sie, was ich Ihnen bezeichnet habe dort in jenem Buch – vielleicht, ehe es ganz Abend wird, bin ich wieder bei Ihnen, und Sie sehen durch die zerrissenen Nebel der Weltlust einen Strahl des Lichtes, das auch dem Sünder verheißen ist, wenn er Buße thut.«

Und damit wendete er sich ab und pochte an die Thür, welche alsbald für ihn aufgeschlossen wurde; doch kaum hatte der Priester noch die Schwelle überschritten, so ward auch schon wieder ein anderer eingelassen, den der Direktor des Gefängnisses selbst bis an die Thür der Zelle geleitet hatte. Dieser andere war ein noch junger Mann, um zehn Jahre älter vielleicht als die Gefangene und ihr so ähnlich, wie eben nur Geschwister sich ähnlich sehen können. Er war als Mann fast ebenso schön wie sie als Weib und beide trugen die Zeichen einer edlen Geburt unverkennbar in ihren Zügen und ihrem Wesen ausgeprägt. Blaß vor innerer Erregung betrat er die Zelle, und wie sie ihn erblickte, flog die Gefangene ihm mit einem Jauchzen der Freude entgegen.

»Bruder Ludwig! Bruder Ludwig!« lachte sie glückselig, mit geöffneten Armen und jenen Tonfall der Stimme, der auf eine zur Unerträglichkeit gesteigerte Spannung der Nerven deutet. »Kommst du endlich? Bringst du mir die Freiheit?«

Was auch seine Antwort sein mochte, sie wurde ihm erspart. Denn als die Gefangene ihm entgegentrat, die wenigen Schritte bis zur Thür in fliegender Eile zurücklegend, stieß sie an den Bogen Papier, den der Priester über die Seite des Buches gebreitet, welche er für sie aufgeschlagen und mit dem Zartgefühl seines warmen Hirtenherzens mit Rosen bedeckt hatte. Und als das Papier von ihrer schnellen Bewegung herabflog, wandte sie unwillkürlich den Blick auf das Buch und die Blumen – da überzog Leichenblässe ihre Wangen, und mit entsetztem Blick streckte sie beide Hände aus wie abwehrend gegen die zarten, stark duftenden Blüten.

»Die weißen Rosen von Ravensberg!« schrie sie auf, daß es gellte, und dann, mit einem scheuen, heiseren Flüstern wiederholte sie: »Die weißen Rosen von Ravensberg! Und die Sage geht, daß weiße Rosen den Männern, Frauen, Töchtern und Söhnen aus dem Hause der Ravensberg den nahen Tod ankündigen. Wie kamen die weißen Rosen auf seine Decke, als – als er starb? Sie waren dort, ich habe sie gesehen – er griff nach ihnen im letzten Augenblicke. Es war im Mai. Und jetzt will's Herbst werden – –«

Mit kalter, bebender Hand, scheu und doch wie magnetisch angezogen griff sie nach den schneeweißen Moosrosen und las mechanisch die ersten Worte der aufgeschlagenen Seite: »Die Gebete für einen Sterbenden. Der 110. Psalm: ›Aus der Tiefe rufe ich zu dir; Herr, erhöre meine Stimme‹ –«

Sie brach jäh ab und wandte ihr blasses Antlitz mit den weitgeöffneten starren Augen dem Manne zu, der schweigend und traurig hinter ihr stand, den sie so freudejauchzend begrüßt und urplötzlich vergessen hatte – um ein paar weißer Rosen willen.

»Muß ich wirklich sterben, Ludwig?« fragte sie leise, herzzerreißenden Jammer in der Stimme, mit gerungenen Händen.

Der Mann seufzte tief auf und trat nahe zu ihr heran. »Ja,« sagte er mit Überwindung, aber fest. »Es ist alles vorbei, jede Hoffnung dahin. Der König macht von seinem Rechte, Gnade zu üben, keinen Gebrauch und läßt der Gerechtigkeit freien Lauf.«

Da sank das schöne, stolze Weib, das noch vor einer Viertelstunde so trotzig auf ihre Überlegenheit gepocht, so fest an eine andere Lösung geglaubt, wie gefällt in die Kniee und rang die Hände über ihrem Haupt.

»Sterben, sterben! Und ich bin noch so jung!« stöhnte sie.

»Auch dein Gatte war es,« sagte er leise, so leise wie ein Hauch, aber sie hatte es doch verstanden. Wie getroffen fuhr sie empor und trat einige Schritte zurück.

»Ich that es nicht,« flüsterte sie heiser, aber mit schrecklicher Deutlichkeit.

Der Mann trocknete sich mit dem Tuche den kalten Schweiß von der Stirn. »Denk' an die Ewigkeit, Marie! In wenig Stunden wirst du vor Gott stehen, und –«

»Sterben?« unterbrach sie ihn entsetzt. »Wirklich sterben, und so bald schon? So bald –«

»Es ist eine besondere königliche Gnade, daß ich es dir vor der Bekanntmachung der Resolution des Monarchen mitteilen durfte, um dich vorzubereiten. Meine Mission – die schwerste meines Lebens – den König um Gnade für dich zu bitten, ist gescheitert. Zwar hat mein Name mir die Privataudienz verschafft, um welche ich bat, und Seine Majestät waren gnädig wie nur je und gütig wie ein Vater und hat jedes Einzelne mit mir beraten und besprochen – doch in dem einen Punkt blieb er fest: die Gerechtigkeit soll nicht behindert werden, die Schuldige zu treffen. Hättest du freimütig deine Schuld bekannt, so war alles bereit, für eine Verirrung deinerseits einzutreten; du aber leugnetest mit solch' verstocktem Herzen, zeigtest dich so fühllos, so oft dein Opfer genannt wurde, und trotz der erdrückenden Wucht der Zeugenaussagen leugnetest du mit solch' dreister Stirn, daß deine Richter und die öffentliche Meinung sich empört von dir abwendeten als von einem Ungeheuer in menschlicher Gestalt. Hier Gnade zu üben vermochte der König nicht, denn sein Volk hätte ihn, sehr mit Recht, einer Parteinahme für den Adel bezichtet, der durch dich ein Brandmal erhalten hat, das nur dein Tod auszulöschen vermag – ja, deine Begnadigung hätte das Murren des Volkes erweckt. Und so ist alles vorbei! ich komme, Abschied von dir zu nehmen, Marie!«

Er reichte ihr seine Hand. Aber sie sah diese Hand nicht. Stieren Blickes rang sie die schmalen, weißen, durchsichtigen Hände ineinander, und über ihre Lippen zitterte es kaum hörbar: »Sterben! Sterben! O, die weißen Rosen von Ravensberg!«

Da trat der Mann hart vor sie hin.

»Ja, sterben,« wiederholte er mit starker Stimme. »Marie, zeige, daß du eine Tochter unseres Stammes, daß du eine Erlenstein bist. Denn es hat noch niemals ein Erlenstein vor dem Tode gezittert, und keiner ist mutlos durch die dunkle Pforte in die Ewigkeit getreten. Gott ist ein strenger Richter, aber er ist auch unendlich gütig und mild, er wird aus deinem Herzen die Goldkörner heben, welche wir Menschen mit unserem schwachen Auge nicht gefunden haben und die dennoch für dich das Mittel werden können zum ewigen Leben. Es bleibt dir noch Zeit genug, zu bekennen und zu bereuen. Und vergiß auch nicht, daß es auf Erden noch ein Band für dich giebt, das zu lösen ist: dein Kind!«

Sie fuhr auf, wie getroffen.

»Mein Kind!« rief sie, »wo ist mein Kind?«

Es war das erste Mal, daß sie nach ihrem Kinde rief, seit sie gefangen war.

»Dein Kind ist wohlgeborgen, sagte er traurig. »Ich habe wohl daran gedacht, es dir zu bringen zum letzten Lebewohl, aber ich wollte das zarte Geschöpf den Gefahren einer langen Reise nicht aussetzen – solch ein leise flackerndes Lebenslicht ist leicht verlöscht. Und so sage ich dir denn zum Trost für den Moment, wo dein Herz sich um das Kind beunruhigen könnte – es ist in meiner Obhut und wird als mein Kind gelten. Es wird durch die Gnade des Königs meinen Namen tragen, damit sein unschuldiges Dasein nicht von Kindheit an mit dem Kainszeichen gebrandmarkt werde und das junge Leben vergifte. Meine Frau und ich verlassen Deutschland für Jahre – im Süden soll unser Kind geboren werden, und dann wird das deine sein erstes Lebensjahr überschritten haben. Wir werden dann ein Zwillingspaar haben, denn unten kennt uns kein Mensch, und wenn wir zurückkehren, wird der Unterschied des einen Jahres nicht bemerkbar sein. So ist unser Plan, und wir haben uns gelobt, dem Kinde liebende, pflichtgetreue Eltern zu sein, als ob es unser eigen Fleisch und Blut wäre, und es zu vergessen, welches unser eigenes und welches dein Kind ist. Und es soll nie erfahren, wer seine Mutter war, wenn auch der ehrliche, fleckenlose Name seines Vaters dabei mit versinken muß in das Meer ewigen Vergessens. Und wenn nichts dein Herz berührt, Marie, so muß das es treffen wie ein zweischneidiges Schwert: daß dein Kind den Namen seines liebenswerten Vaters nicht kennen darf – um deinetwillen. Und nun leb' wohl!«

»Leb' wohl,« wiederholte sie mechanisch, den Blick auf den weißen Rosen, als seien diese ein Magnet, welcher alle ihre geistigen Kräfte im Banne hielte.

Doch ehe er an die Thür klopfte, trat er noch einmal vor sie hin.

»Und du hast mir nichts, wirklich nichts zu sagen, Marie?«

»Ich that es nicht!« sagte sie hastig und ohne aufzusehen.

»Bedenk' es, Marie! Es ist vergebens, zu leugnen, denn jede Hoffnung ist dahin für dich. Nichts kann dich mehr retten, nichts, nichts! Und morgen früh, wenn die Sonne aufgeht, bist du schon jenseits ihres ewigen Lichtes.«

»Morgen schon?« schrie sie auf, und ein trostloser, gehetzter Blick aus ihren Augen irrte zu dem Fenster. »Die Sonne ist am Untergehen – und nur noch eine Nacht?«

»Nur noch eine Nacht, deine letzte,« wiederholte er.

Nervös tasteten ihre Hände nach den weißen Rosen.

»Die Todesrosen von Ravensberg,« flüsterte sie. »Nein, es ist keine Hoffnung mehr. Alles dahin, alles! Unschuld, Reinheit, Ehre, Liebe – nichts ist geblieben.«

Und sie sprang auf und drückte die Hände gegen die pochenden Schläfe und irrte umher in der engen Zelle.

»Nichts!« wiederholte sie, nichts als Nacht und Grauen und Todesangst. Und das ist das Ende! Wie soll es geschehen?« fragte sie scheu und tonlos, plötzlich vor dem Bruder stehen bleibend. Und er verstand sie und wendete sich erschüttert ab. Doch auch sie hatte verstanden.

»Also so?« fragte sie kaum hörbar. Und dann sprach sie laut und gleichgültig: »Ja, ich habe davon gelesen und im Theater immer weinen müssen, wenn Schillers Maria Stuart zur Hinrichtung ging und Leicester oben alles mit anhörte. Und wer wird bei mir weinen? Leicester wohl nicht, trotzdem er mich in den Tod getrieben! Erst Sammet und Seide und Zobel und Juwelen, und jetzt –? Ein Block und ein Beil und ein Armesündersarg! Und ich bin immer noch so jung! Werdet ihr mich in eine Gruft legen oder muß ich hinter der Kirchhofsmauer schlafen?«

»Marie! Marie!« bat er leise. »Du mußt nicht so irre reden. Fasse dich! die Zeit verrinnt!«

»Ja, die Sonne will untergehen,« erwiderte sie und trat an den Tisch, um wieder die weißen Rosen aufzunehmen. »Noch eine kurze Stunde und es ist Nacht – ewige Nacht. Ob es ein Jenseits giebt?«

»Es ist uns verheißen worden vom Heiland selbst, Marie!«

»Aber man hat keinen Begriff davon. Ist es ein neues Leben, in welchem es keine Schuld, kein Elend und kein Ende giebt? Und werden wir dort alle die Wiedersehen, die voran gingen durch die dunkle Pforte? Und werde ich ihm dort begegnen, und wird er als Ankläger wider mich auftreten?«

»Es bedarf vor Gott keines Anklägers. Er hat deine That gesehen.«

»Meine That!« wiederholte sie. »Wer sagt mir, ob mein Tod diese That sühnt?«

»Wenn du sie bereuest – gewiß!«

»Reue! Was ist Reue? O, ich weiß, das Bedauern über eine begangene Sünde. Dann habe ich keine Reue. Und Gewissensbisse? Ich bin zu all diesen Gefühlen noch nicht gekommen, weil ich gewartet habe, gewartet auf die Stunde der Erlösung und der Freiheit – umsonst, umsonst. Kannst du mir nicht zur Flucht verhelfen?« fügte sie flüsternd, heimlich hinzu mit stockendem Atem und blitzenden Augen.

»Flucht?« lächelte er mitleidig. »Flucht aus diesen Mauern? O Schwester, unmöglich!«

»Unmöglich für dich – ich glaube es,« fuhr sie erregt fort, »aber er, er hätte es für mich thun können und er hätte mich befreien müssen, denn ich habe es doch für ihn gethan, um ihn! Und kein Wort von ihm diese ganze lange Zeit, keine Zeile, keine Botschaft –«

»Marie, Marie – so ist es wahr, was der Ankläger als wahrscheinlich hinstellte – daß du um einen anderen die dunkle That vollbrachtest?«

»Das hab' ich nicht verraten – nicht einen Moment, nicht mit einem Atemzuge,« fiel sie rasch ein.

»Nein, du hast seinen Namen wohl zu verschweigen gewußt –«

»Freilich, jetzt könnte ich mich rächen und diesen Namen nachträglich durch den Schmutz schleifen,« rief sie heftig, doch schnell erlosch dieses Feuer wieder in ihren Augen. »Es würde nicht viel helfen, denn man würde ihm nichts beweisen können. Er ist schuldlos – denn was kann er dafür, daß er mir unbewußt zum Versucher wurde? Nein – dieser Name wird begraben mit mir in dem Armensündersarge –«

Ein Geräusch an der Thür mahnte den Mann zum Abschiede.

»Leb' wohl, Marie,« sagte er. »Möge Gott dir ein gnädiger Richter sein.«

»Bleib'!« schrie sie auf, »laß mich nicht allein – die Sonne geht unter und es wird finster – und dort, dort in der dunkeln Ecke im Bett, dort liegt er mit dem blassen Totengesicht. Bleib' – ich fürchte mich vor ihm. Siehst du das kleine, blutige Mal dort an seiner Schläfe?« flüsterte sie scheu. »Von diesem blutigen Male habe ich Nacht für Nacht träumen müssen. Ist das Reue? Bleib' – o Gott im Himmel, bleib'!«

Doch schon ward die Thür geöffnet – noch ein letzter Blick, und erschüttert, verhüllten Angesichts verließ der Graf von Erlenstein seine unglückliche Schwester, die noch vor Monden so vielgefeierte und umworbene Freifrau von Ravensberg, welche jetzt in ihrer engen Zelle unter der furchtbarsten Anklage zum erstenmal zusammenbrach – jung und schön, und blühend wie eine Maienrose trotz monatelanger Kerkerhaft.

*

Und der Mond, der in stiller Nacht emporstieg am sternenhellen Himmel, er sah auch hinein in die enge Zelle, wo ein greiser Priester vor einem schluchzenden jungen Weibe stand und ihr von Gottes Gnade und Allgüte sprach, unermüdlich, voll Milde, Mitleid und heiligen Feuers. –

Des Mondes sanftes Licht verblich allmählich in der opalbleichen Dämmerung des neuen Tages; und als ein siegender Lichtstrahl im Osten die Ankunft der Sonne verkündete, da begann ein Glöckchen leise, klagend zu läuten, und in der Zelle droben hob der Priester an, die Gebete für Sterbende zu beten.

*

Mond und Sterne waren ganz verblaßt. Das Frührot tauchte die grauen Gefängnismauern wie in Purpur und Gold. Die Sonne war emporgestiegen, einen glorreichen Tag verheißend. Das Glöckchen war verstummt. Und als die Tageskönigin leuchtend zur Höhe stieg und über die graue Mauer ihr siegendes Licht warf, da trug man auf einer Bahre einen schwarzgetünchten, schmucklosen Sarg hinweg. Drinnen in der Zelle nahm der Graf von Erlenstein in Empfang, was man ihm jetzt bedingungslos aushändigte: einen Brief, ein Spitzentuch, das sie zuletzt über dem blonden Haar getragen, dies schöne, seidenweiche Haar selbst, eine kleine Schatulle, mit Gerichtssiegeln verschlossen, welche die Pretiosen enthielt, die seine Schwester bei ihrer Verhaftung getragen, und – einen kleinen Strauß weißer Moosrosen, die sie bis zuletzt in den Händen gehalten und in Purpurrosen verwandelt hatte.

Der Priester aber berichtete aufs tiefste bewegt, wie sie gestorben war – reuig und gefaßt, ohne Todesfurcht, aber demütig und ergeben – ein Sühnopfer für schwere Schuld.

» Requiescat in pace,« schloß er, und wie er es sagte, hob das Glöcklein noch einmal an und zitterte seine leisen, klagenden und wimmernden Klänge in die Morgenluft des goldigen Herbsttages hinein, läutete einen kurzen Puls und verstummte dann.

Das war die Mahnung zur Fürbitte für die arme Seele, die jetzt schuldbeladen vor Gottes Throne stand.

Verdorben und gestorben – – –

*


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