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In sich gekehrt und still wanderte Graf Egon mit dem Schnerfer auf dem Rücken das Gefäll des Tauernthales abwärts; seine Gedanken weilten bei dem lieblichen Mädchen, das ein günstiger Zufall ihm entgegengeführt hatte, und dessen Bild seine junge Seele ausfüllt, wiewohl der kühle Verstand zur Vorsicht mahnt. Die Kleine ist zu niedlich, reizend, fesselnd, als daß ein junges Herz sich nicht danach sehnen und auf ein Wiedersehen hoffen sollte. Das zierliche Fräulein verklärt dem gräflichen Schwärmer den Schauplatz künftiger Amtswirksamkeit. War Egon anfangs, als es hieß, er werde Bezirkshauptmann in Lienz, nicht gerade erbaut, in dem kleinen osttirolischen Städtchen hausen zu müssen, jetzt geht er gerne hin, der Ort ist ihm sympathisch, weil Ida gleichfalls dort ihr Leben verbringt. So hatte das hübsche Mädchen wenigstens gesagt. Ida wohnt in Lienz, wer aber mag der Vater sein, in welcher Stellung, in welchem Berufe?
Fast zieht etwas wie Angst in Egons Brust, gepaart mit dem Gedanken, daß doch bei aller Sympathie für das herzige Kind auf die eigene Abstammung und Geburt Rücksicht genommen werden müsse.
Wie war doch die Scene oben im Gschlöß heute morgen beim Frühstück? Ida servierte unzweifelhaft mit entzückender Grazie, dabei aber mit einer Sicherheit, die auf Übung, ja Gewohnheit schließen läßt. Einmal darüber sinnierend, drängt sich der quälende Gedanke auf, ob nicht das Fräulein gar jene Serviergewandtheit in dienender Stellung erworben haben könnte? Doch nein, eine Kellnerin kann das herzige Geschöpf nicht sein; in abhängender dienender Stellung wäre auch eine mehrwöchige Sommerfrische, sei solche auch noch so bescheiden, undenkbar. Oder ist Ida etwa eine Wirtstochter? Dann – hochgeborener Graf – muß ein Gedanke ebenfalls aus der jungen Brust gewaltsam gerissen werden; was würde Onkel Botho sagen, er, der grimmigste Feind jeder Mesalliance!
Egon lächelte; so weit ist er ja doch noch nicht; seine Gedanken eilen zu sehr voraus; von der Sympathie für ein Mädchen bis zu einer Heirat ist der Weg doch sehr weit, und Graf Rothenburg weiß ja von der zierlichen Kleinen weiter gar nichts, als daß sie Ida heißt, sehr hübsch, ganz nach seinen Traumgebilden und Wünschen allerliebst ist und in Lienz wohnt. Das ist zwar sehr viel, aber zugleich sehr wenig.
Mit solchen Gedanken beschäftigt, war Egon mählich in die Nähe des Marktes Windisch-Matrey gekommen, und das Tosen eines Baches erregte seine Aufmerksamkeit.
Inmitten eines hohen Walles von Schutt und Geröll tobt ein Wildbach dem Orte zu, lärmend, zischend, brausend, und dessen zornige Wogen führen Holz und Blöcke mit, die klatschend an die Geschiebwände schlagen und die Wallmauern zu durchbrechen suchen.
Egon erinnert sich, von diesem berüchtigten Wildbach, der an der Bretterwand entspringt, gehört zu haben und widmet diesem gefährlichen Feind des Ortes Matrey sein volles Interesse.
Auf den ersten Blick bachaufwärts ist zu sehen, daß es an Versuchen nicht gefehlt haben mag, durch Thalsperren und erhöhte Uferdämme der stetigen Überschwemmungs- und Vermuhrungsgefahr einigermaßen vorzubeugen. Doch zeigen die Geröllfelder hinein in den Wiesen- und Feldgrund deutlich, daß das furchtbare Element solchen Anstrengungen doch nur spottet. In nächster Nähe des Ortes liegen schier unermeßliche Schutthaufen und jeder Wettersturz muß neues Geschiebe aus dem morschen Quellgebirge herabbringen. Und dieser furchtbare Wildbach rauscht mitten durch den Ort, ihn in zwei Teile trennend, stets mit völliger Vernichtung bedrohend.
Wie man sich nur in solch' gefährlicher Nähe seßhaft machen kann? dachte Egon bei diesem Anblick und spann den Gedanken dahin aus, in seiner künftigen Amtsthätigkeit den Matreyern nahezulegen, solcher Gefahr einigermaßen durch Wohnsitzveränderung aus dem Wege zu gehen. Gelänge das, es wäre eine gute, segensreiche That, auf die der neue Amtschef als Vater seines Bezirkes wahrlich stolz sein könnte.
Hastig kritzelte Egon sich diesen Gedanken in sein Notizbuch, und als er dieses in die Tasche seiner Touristenjoppe steckte, befühlte er das knitternde Papier in derselben, sein Anstellungsdekret, wodurch ihm in Erinnerung kam, daß er ja sein Amt noch gar nicht angetreten habe, also derartige Reformationspläne doch sehr verfrüht seien. Aber solche Wahrnehmungen und Notizen können immer Nutzen stiften. Ist doch Graf Egon im Begriffe, inkognito und von rückwärts, von den höchsten Erhebungen seines zukünftigen Verwaltungsgebietes herab, den Bezirk zu durchwandern und mit offenen Augen zu schauen, sich ein Bild zu verschaffen.
Vom Gschlöß herab nach Matrey hatte Egon freilich die Augen auch offen gehabt, aber mehr nach innen und hatte so eigentlich vom durchwanderten Tauernthal sehr wenig gesehen.
Also gewissermaßen ein »blinder« Bezirkshauptmann, blind aus Sympathie für ein zierliches Mädchen.
Egon fühlte selber, daß es nun hohe Zeit sei, die Augen energischer offen zu halten und schritt durch den Ort zum Gasthofe »Rauter«, um hier Unterkunft zu finden.
Vor dem Hause standen eine Anzahl Männer, Leute, denen die frühere Militärdienstzeit doch eine gewisse Strammheit in die Haltung gebracht hatte, und die sich eben anschickten, den Platz zu verlassen. Egon erriet sogleich, daß hier von Amts wegen eine Kontrollversammlung abgehalten worden sein mußte, und fand seine Mutmaßung alsbald bestätigt durch die Abfahrt des Bezirksoffiziers, der in einem Einspännerwägelchen den Ort in der Richtung hinaus ins Iselthal eben verließ.
Fährt der militärische Leiter einer Kontrollversammlung weg, wo bleibt aber der Vertreter des Bezirkshauptmannes, welcher in diesem Falle der Bezirkssekretär sein muß?
Kurz nach Bezug seines Quartiers und vollzogenem Toilettenwechsel fand Egon die Antwort auf die selbstgestellte Frage in der Honoratiorenstube, wo breit, behäbig und gewichtig der kleine, dicke Bezirkssekretär an einem Tische saß und in unverkennbarer Herablassung sprach, wobei der kleine Mann mit seinem lächerlich aufgedrehten Schnauzbart sich durch den Eintritt Egons nicht im geringsten stören ließ.
Nur die dürre, ältliche Kellnerin kümmerte sich um den neuen Gast, der sich an einem Nachbartisch niederließ und nun Wein mit Gießhübler Wasser bestellte.
»Was wöllen S'?« fragte erstaunt die dünnzöpfige Hebe.
Egon wiederholte die Bestellung mit dem Erfolg, daß Moidl (Marie) kurz und bündig erklärte, dergleichen Gewässer nicht zu haben. Der Wirt mit dem mohammedanischen Namen Adrian Opel wandte sich nun auch zum neuen Gast, lüftete leicht die Hauskappe zur Begrüßung und erkundigte sich nach dem Begehr, während Moidl das Viertel Wein brachte.
»A Wasser wöllen S'? Selles haben wir nitta, Herr! Die Gäscht' sollen lieber Wein trinken. Wenn S' aber decht a Wasser wöllen, selles vom Brunnen ischt auch gut und kostet nichts! Wünscht der Herr auch was zum Schnabulieren?«
Egon schmunzelte und bestellte ein Backhuhn.
»Mir auch!« rief der dicke, kleine Sekretär.
»Sehr wohl, Herr Bezirkssekretär! Gleich haben S' die Ehr'!« erwiderte der Wirt und entfernte sich mit der Kellnerin.
Es dauerte nicht lange, erschien der Wirt, um dem Sekretär zu melden, daß auftragsgemäß der Vorsteher von Virgen erschienen sei und um Empfang bitten lasse.
Der kleine Sekretär pustete vor Wichtigkeit und Würde. »Ganz gut! Soll hereinkommen, werde die Sache gleich da erledigen.«
Mochte der Wirt selbst das Gefühl haben, daß eine Amtssache nicht in einer öffentlichen Wirtsstube erledigt werden dürfe, er meinte: »Wenn's gefällig ischt, Herr Bezirkssekretär, ein Zimmer im ersten Stock ständ' schon zur Verfügung!«
»Wo ich amtiere, das ischt meine Sache! Verstanden! Herein mit dem Kerl!«
In Egon stieg ein kribbelndes Gefühl auf und die Finger juckten ihm. Am liebsten würde er jetzt dreinfahren und dem reglementwidrigen Verhalten eines Manipulationsbeamten ein sofortiges Ende bereiten. Doch fiel es Egon rechtzeitig ein, daß er ja inkognito hier weile und diese Gelegenheit vielleicht sehr günstig werden könne zu einer Beobachtung, wie Subalternbeamte auf Kommission sich gebärden. So verhielt sich der Amtschef still und beobachtete den Sekretär, welcher den eingetretenen Dorfvorsteher nun wegen seines späten Kommens rüffelte.
Geduldig ließ der Vorsteher den kleinen Beamten wettern und schimpfen; erst als dieser zu Ende war und Atem holte, brachte der hagere Gebirgler langsam die Antwort hervor: »Mit Verlaub, Herr! 's letzte Mal sind Sie um a halbe Stund' zu spät kemmen und haben uns aftn (nachher) noch a Stündel umensunst warten lassen. Mit Vergunst, ich moan', die paar Minuten werden der Herr decht heut auch warten können!«
»Rammel! Was untersteht Er sich?! Wenn ich zu spät komm', so komm' ich immer dienstlich zu spät! Verstanden! Quietscht er noch ein einziges Wort, so verknurr' ich Ihn zu einer Geldstrafe wegen Ungebühr vor dem Amt! Ich bin hier als Vertreter des Bezirkshauptmannes, also heute genau soviel wie der Bezirkshauptmann selber, und das ischt der öberste vom ganzen Bezirk, verstanden! Über mir ischt nur noch der Statthalter und der Minister, dann kommt schon der Kaiser selber an die Reihe! Jetzt das Maul gehalten, verstanden!«
Der verdatterte Vorsteher knickte zusammen und stand demütig vor dem aufgeblasenen Beamten, der nun auf die Sache selbst einging und anhub:
»Der Herr Bezirksarzt hat wie alle anderen Gemeinden des politischen Bezirkes Lienz auch an Seine Gemeinde einen Fragebogen zur Ausfüllung geschickt. Sein Bericht, das heißt der Bericht der Gemeinde Virgen ischt offenbar unrichtig abgefaßt; es ischt ganz unmöglich, daß in einer Rotte von dreihundertneunzig Einwohnern sich achtzig Kretins befinden. Ich bin vom Bezirksarzt ersucht worden, in dieser Angelegenheit den Vorsteher persönlich einzuvernehmen. Was weiß Er anzugeben?«
»Mit Vergunst, Herr Kommissär! Mein Bericht ischt auf Treu und Glauben völlig richtig abgefaßt, ich kann's beschwören!«
»Ach was, Unsinn! Bei einer so kleinen Bevölkerungsziffer ischt es undenkbar, daß achtzig Kretins darunter sind. So degeneriert ischt das Alpenvolk decht noch nicht!«
»Mit Verlaub, es ischt aber nicht anders! Ich nehm's auf meinen Deansteid!«
»Tod und Teufel! Ich sage, es ischt nicht möglich!«
»Es ischt aber decht so und nicht anders, Herr Kommissär!«
Der kleine Beamte war für den Augenblick ratlos, und Egon verfolgte die Scene mit größter Aufmerksamkeit. Endlich schien über den Sekretär eine Art Inspiration gekommen zu sein, indem er fragte: »Hör' Er, Vorsteher! Weiß Er denn, was ein Kretin ischt?«
»Wohl, wohl! Sell sein bei uns die – Deanstboten!« Faktum, wie alle späteren diesbezüglichen Angaben aus dem Verkehr des Bergvolkes mit der Verwaltungsbehörde aus dem Leben geschöpft sind. D. V.
»So! Dann kann Er nach Hause gehen! Na, der Bezirksarzt wird Augen machen!« schrie der Sekretär und entließ den aufatmenden Dorfvorsteher, der mit großen Schritten die Herrenstube verließ.
Egon fühlte sich versucht, die Deutung Kretins mit Dienstboten zu Papier zu bringen, unterließ dies jedoch, um sein Inkognito nicht zu lüften.
Als weiterer Gast erschien nun der Bürgermeister von Matrey zum Dämmerschoppen, vom Sekretär lärmend begrüßt: »Ah, der Obertürk! Das ischt schön, daß Sie mir Gesellschaft leisten.«
Sich zum Beamten setzend, wehrte der Ortsgewaltige den Spitznamen ab, worauf der Sekretär witzelte: »Sie heißen im Gegensatz zum Untertürken Konstantin Opel, Ihr seid also beide Mohammedaner dem Namen nach und da hilft nix dagegen.«
»In Gottes Namen halt! Was ich fragen wollte: Sind der Herr Sekretär nicht mit dem Bezirksoffizier hinausgefahren? Wär' doch eine schöne, billige Fuhrgelegenheit gewesen!«
»Freilich! So dumm werd' ich sein! Na, na, mein Lieber, da hätt' ich die Hälfte vom Fuhrlohn dazuzahlen müssen. So aber rechne ich einen eigenen Wagen auf und lauf' zu Fuß hinaus nach Lienz! Unsereiner kommt eh (ohnehin) so wenig auf Kommission. Wissen S', Obertürk, die Diäten schlucken der Hauptmann und der Kommissär so viel gern, und was die nicht nehmen, schlucken die zwei Konzeptspraktikanten. Bleiben für unsereinen nur noch Kommissionsreisen betreffend Jagdversteigerungen, Pferdeklassifikationen und wie heute die Kontrollversammlungen!«
»Ah, so wohl!« meinte der Bürgermeister in einem Tone, dessen Geringschätzung der eitle Sekretär sofort herausfühlte und der ihn reizte, zu beteuern, daß trotz alledem auf dem Bezirkssekretär die Hauptsache aller Verwaltungsarbeit ruhe.
Spöttisch erwiderte der Marktvater: »Wird decht nicht sein?!«
»Was wissen denn Sie von der politischen Behörde! Ich sage Ihnen, ich als Sekretär, Mann des Ein- und Auslaufes, Chef der Registratur, ich bin die Säule, auf welcher das Gebäude ruht. Ohne den Sekretär und dessen zuverlässige Hand wäre das Amt verloren! Nicht einen einzigen Akt würden die Beamten finden, wenn ich nicht wäre!«
»Ah so wohl! Sell hab' ich nicht gewußt! Also die Säule der Bezirkshauptmannschaft ischt immer der Sekretär! Hm! Da haben wohl Sie selber die schöne Negergeschichte gemacht?«
»Was für eine Negergeschichte?«
»Na, in Lienz war decht vor einiger Zeit ein Mann mit zwei schwarzen Negern und wollte Vorstellungen in der ›Rose‹ geben. Die Bezirkshauptmannschaft hat das aber verboten, weil die Schwarzen kein – Moralitätszeugnis aufweisen konnten. Sind noch weit zurück, die Beamten in Afrika!«
»Selle Geschichte hab' ich nicht gemacht, das war der welsche Konzeptspraktikant. Und die Sache ischt dienstlich ganz korrekt, denn die Konzession zum Herumziehen war abgelaufen. Ein Gesuch um Erneuerung muß an die erste Instanz, das ischt die Bezirkshauptmannschaft, gerichtet werden und ohne Beibringung des absolut notwendigen Moralitätszeugnisses kann keine Neuvorlage des Gesuches an die kompetente Statthalterei erfolgen. Im übrigen ischt die Sache strenges Amtsgeheimnis, und ich begreife nicht, wie der Fall bekannt werden konnte!«
»So, sell begreifen Sie nicht? Für einen politischen Beamten, der eine Säule ischt, sind Sie aber merkwürdig begriffstutzig!«
»Herr, Sie wollen decht nicht anzüglich werden? Bedenken Sie, daß die Gemeidevorstehung unter mir steht!«
»O, o! Soll wohl decht heißen: über der Gemeinde steht die Bezirkshauptmannschaft, nicht der Bezirkssekretär!«
»Ich bin hier der Vertreter des Kaiserlich Königlichen Bezirkshauptmannes und verbitte mir jede Anzüglichkeit!«
»Na, sind S' nur wieder gut. Ich denke, wir trinken zur Versöhnung einen Liter Burgunder. Mein Bruder Adrian hat ein feines Tröpfel davon im Keller!«
»Das ischt was anderes, da kann ich auch nicht so hart sein. Aber Respekt vor der politischen Behörde, das bitt' ich mir aus!«
»Aber freilich, Sie sind ja die Säule der Bezirkshauptmannschaft! Jesses, jetzt fällt mir grad' ein: Wann kommt er denn, der neue Häuptling?«
»Soviel er mir geschrieben hat, kommt er bald!«
Der Bürgermeister fuhr zusammen, so sehr überraschte ihn dies Wort. »Was? Der neue Hauptmann hat Ihnen geschrieben? Sind Sie denn mit ihm bekannt von früher?«
Pustend vor Wichtigkeit verkündete der Prahler: »Natürlich! Wir haben ja nebeneinander und miteinander gedient!«
»Ah, nicht möglich! Wo denn, wenn ich fragen darf?«
»Ja – hm – ja in Trient!«
»Was waren Sie denn damals? Der jetzige Hauptmann mußte damals etwa Konzeptspraktikant gewesen sein.«
»Ja, ja! Die Hauptsache ischt, daß ich und Graf Rothenburg eng befreundet geworden sind. Ich kann gar nicht sagen, wie ich mich freue, meinen Freund als Vorstand in Lienz wiederzusehen. Da werden nun wohl bessere Zeiten für den armen, vielgeplagten Sekretär kommen, denn erstens kriege ich weniger Arbeit, der Hauptmann Graf macht das meischte selber, und dann bekomme ich eine bessere Behandlung und Koscht!«
»Was, Koscht auch?«
»Freilich! Der liebe Graf, mein Freund, hat mir geschrieben, solange er Junggeselle bleibe, soll ich täglich an seinem Tische essen. Alle Tage kann ich das nun nicht annehmen, aus Gründen der Bescheidenheit, und dann muß ich decht auch ab und zu im Bräuhause bei Piffrader verkehren von wegen des Fräulein Ida.«
»Wieso? Was geht denn Ihnen die schöne Ida an?«
»So, wissen Sie das noch nicht? Ischt nämlich möglich, daß ich dem Piffrader sein Tochtermann werde!«
»Nicht möglich!«
»Warum soll denn das nicht möglich sein?! Bin ich nicht ein Mann von nahezu angenehmem Äußern, in schöner Stellung, politischer wichtiger Beamter von tadellosem Ruf und Freund eines Grafen? He! Der Piffrader darf froh sein, wenn er einen solchen Schwiegersohn kriegt heutzutage, wo alles social sozusagen unterwühlt ischt und nur die Beamtenschaft innertakt dasteht!«
»Nein, ischt das eine Neuigkeit!«
»Halt, Freunderl! Die Sache muß vorderhand mit reservierter Dischkretion behandelt werden. Auch habe ich noch nicht geruht, mit Ida selber zu reden. Ich werde das erscht thun, wenn sie vom Gschlöß herunterkommt. So arg pressiert es nämlich nicht. Ich bin nämlich kein Freund vom Überhudeln. Eile mit Weile!«
»Ganz richtig! Drum kann man es schier nicht erleben, bis man vom Amt eine Erledigung bekommt!«
Der Wirt Adrian Opel trat ein und empfing vom Bruder-Vorsteher vergnügt den Auftrag, Burgunder zu Ehren des Herrn Sekretärs zu bringen.
Egon saß wie versteinert auf seinem Platze; was er eben vernommen, warf alle seine bisherige Meinung vom Beamtenleben über den Haufen und die Äußerungen über die zierliche, holde Ida vernichteten einen süßen Traum. Die Tochter eines Bräuers und angebliche Braut eines notorischen Prahlers und Schwätzers! Doch das kann nicht wahr sein, eine Persönlichkeit wie dieser Subalternmensch ist keine Gewähr, zumal der lügenhafte Hansdampf gar noch mit seiner Freundschaft zu Egon Rothenburg protzt, ohne ihn auch nur von Angesicht zu kennen.
Die Kellnerin brachte ein Backhuhn mit Salat und servierte es dem grinsenden Sekretär; dann ging sie zu Egon und sagte schnippisch: »Sie müssen schon eppas anderes bestellen; es ischt nur ein Hendel da und selles hat der Herr Sekretär bekommen! Mögen S' vielleicht a Wurscht?«
Egon erwiderte: »Danke, nein! Bringen Sie mir zwei weiche Eier!«
»So? Na, mir ischt's auch recht! Mögen S' noch a Viertele Wein?«
»Danke, nein!«
Ein geringschätziger Blick streifte den genügsamen Gast, dann ging Moidl in die Küche, um der Wirtin zu verkünden, daß der Notniggl mit dem einen Viertele ganze zwei weiche Eier haben möchte.
Zwischen dem Sekretär und dem Bürgermeister hatte ein Gespräch über die Wildbachverbauung begonnen, dem Graf Egon doch mit einigem Interesse zuhorchte, und das in der Behauptung gipfelte, daß solange nicht an eine völlige Gefahrbeseitigung zu denken sei, bevor nicht durch einen sozusagen Gewaltakt der Behörden die Ansitzer zur Verlegung ihrer Wohnhäuser gebracht werden. Das koste aber heidenmäßig Geld und dazu werde sich keine Behörde verstehen.
Der Burgunder kam auf den Tisch, freudig vom Sekretär willkommen geheißen, denn der feine Rötel paßte wundersam auf das inzwischen verzehrte Backhuhn.
Egon erhielt die Eier hartgesotten und wollte gehen, als Moidl ihn noch um Eintrag ins Fremdenbuch von wegen der Gendarmeriekontrolle bat. Mit festen Zügen schrieb Egon seinen Namen ein, doch ohne Titel und Charge, legte das Buch in eine Ecke und begab sich auf sein Zimmer zur Nachtruhe.
Sein Abgang wurde von den scharf zechenden Herren kaum beachtet. Warum auch eines Touristen achten, der bloß ein Viertele den ganzen Abend trinkt. Der Untertürke ließ dem unbekannten Gast nicht einmal die Treppe hinaufleuchten.
Spät und schweren Kopfes kroch, von Moidl und dem Wirt gestützt, der Sekretär in seine Stube, voll des herrlichen Burgunders; doch hatte die Säule noch so viel Verstand, Auftrag zu geben, daß man ihn um sechs Uhr früh wecken solle.
Das Touristenwecken verstand man im »Rauter« trefflich; wenn auch nur ein einziger Gast herausgeklopft werden sollte, wach wurden alle Inwohner durch das Gepolter an der einen Thüre; denn der wackere Hausknecht gab sich nicht früher zufrieden, bis der Geweckte leibhaftig an der Thüre erschien, zum Zeichen, daß die Weckung geglückt sei.
Der brave Sekretär Ladurner kam auf diese Art wenige Minuten nach sechs Uhr fertig zur Abreise, beglückt mit einem Kater, den man ohne Übertreibung hätte einen ausgewachsenen Königstiger nennen können, in die Gaststube und rief kläglich nach der Magenstärkung.
Ein Frühmorgen in einem tirolischen Wirtshause erfordert vom Gast noch viel mehr Geduld als etwa die Marendzeit oder die Mittagsstunde; in der Küche herrscht noch Ruhe, die Kaffeeköchin lebt immer der Meinung, daß ein Frühgast zu warten habe, und die Stelle der Kellnerin versieht irgend eine Küchenmaid mit Verdruß und ungekämmten Haaren.
Ladurner kannte derlei Hausbräuche zur Genüge, um sich resigniert in das Unvermeidliche zu fügen; zum Zeitvertreib holte er sich das Fremdenbuch aus der Ecke und studierte die letzten Einträge. Auf diese Weise ist zugleich zu erfahren, wer denn der nach seiner Meinung nicht wenig arrogante Gast und schlechte Zecher von gestern abend ist. Da steht nun mit fester Hand geschrieben: »Egon Graf Rothenburg.«
Mit wahrem Entsetzen liest Ladurner diesen Namen, eine Gänsehaut läuft dem Sekretär über den Rücken, er fühlt, daß ihm die Haare zu Berge stehen.
»Rothenburg, Egon Graf Rothenburg! Heiliger Gott, das ischt ja der neue Bezirkshauptmann, mein neuer Chef!« stammelt zu Tode erschrocken die Säule und starrt auf die Buchstaben, als enthielten diese ein Todesurteil. Dann aber jagen und kreisen die Gedanken im Beamtenhirn und der Gedanke an Flucht, schleunigste Flucht gewinnt die Oberhand.
»Fort, um Gottes willen fort!« ruft Ladurner in heller Verzweiflung, packt seinen Hut und stürmt zum Hause hinaus, in raschen Sätzen der Landstraße ins Iselthal zu.
Was liegt bei solcher Gefahr daran, daß die Handtasche mit den Reiseutensilien zurückbleibt, daß die Zeche noch nicht bezahlt ist! Fort, nur fort aus dem Bereich des neuen Chefs, der gestern abend alles gehört haben muß, die ganze alberne Renommage, das Aufdrehen mit der Freundschaft und so weiter.
So ist der Sekretär in seinem ganzen Leben noch niemals gelaufen, wie er jetzt die Straße hinaus nach Huben rennt, von der fürchterlichen Angst gepeinigt, daß der Chef hinterdreinfahren und den Prahler abfassen, nach Gebühr rüffeln, des Amtes entheben werde.
An die Wahrscheinlichkeit des nachträglichen Rüffels im Amte selbst denkt der ums Leben laufende Sekretär gar nicht; nur fort, nur jetzt nicht erwischt werden.
Im Schweiß gebadet, erschöpft erreicht der Flüchtling nach wenigen Stunden die Ortschaft Huben; schon will er im Galopp durchspringen, da kommt ihm beim Anblick des vor seinem Hause stehenden Ortsvorstehers ein rettender Gedanke. Wie wäre es, wenn der Gemeinderat zu einer Ovation für den nachkommenden neuen Bezirkshauptmann aufgefordert würde? Eine unvermutete Ovation muß den Chef erfreuen, dürfte ihn besänftigen und aufhalten. Mittlerweile gewinnt Ladurner wieder einen tüchtigen Vorsprung, auch kann er Lienz alarmieren, und hintendrein könnte er sagen, die Inscenierung dieser Ovationen sei sein verdienstliches Werk gewesen und vielleicht vergißt dann der Chef die dumme Aufschneiderei in Matrey.
Gedacht, gethan! Ladurner verständigt fliegenden Atems den überraschten Vorsteher von Huben: »Der neue Bezirkshauptmann kommt hinterdrein gefahren! Aufhalten! Böllerschießen, Gemeinderat erscheinen, Ansprache halten, Fahnen heraus! Es pressiert!«
Bevor der Vorsteher die Alarmkunde nur recht verstanden, ist der Sekretär schon wieder katschaus davon. Der Ortsgewaltige aber lief in seiner Aufregung zum Feuerwehrsignalisten, und kurz darauf ging der Rummel in Huben los.
Dank der Sekretärweckung war auch Egon aus dem Morgenschlummer und einem süßen Traum, dessen Schauplatz die Gschlößer Eiswelt gewesen, gerissen worden. Da die Abreise aber in keiner Weise eilt, zögerte Egon und kam erst zu einer Stunde herab, in welcher im »Rauter« alles bereits munter auf den Beinen war. Sogar der Türke Adrian Opel hatte eine That bereits hinter sich, die Kellerinspektion mit dem Anlängen und Schulen des »Special«, weil dieser Wein sonst den Gästen zu stark werden könnte.
So bekam Egon in verhältnismäßig kurzer Zeit den Kaffee und die gewünschte Hotelrechnung auf der Schiefertafel, deren oberer Teil die unbeglichene Zeche des flüchtig gegangenen Sekretärs enthielt. Egon konnte sich nicht versagen, Moidl nach diesem Herrn zu befragen, und die Kellnerin antwortete schnippisch:
»Weiß es nit! Katschaus ist er! Muß ihm arg pressiert haben! Sell ischt schon so bei die Beamten diemalen! Leicht brennt es wo!«
»Macht es der Herr denn öfters so?«
»Na, na, bloß heut hat's halt so schrecklich pressiert! Der Wirt weiß davon, und mich geht's weiter nix an!«
Egon bestellte auf zehn Uhr einen Wagen zur Fahrt nach Huben beziehungsweise Lienz, wodurch sein Ansehen sich erheblich steigerte. Ein Gast, der einen Zweispänner verlangt und im voraus bezahlt, muß doch mehr sein als er zu sein scheint. Adrian Opel, hiervon verständigt, entwickelte eine ihm selbst ungewohnte Höflichkeit; die Wirtin erschien, um dem Gast den Morgengruß zu entbieten, und Moidl wagte die Frage, ob dem gnädigen Herrn vielleicht ein Gabelfrühstück vor der Abfahrt angenehm sei.
Das Trifolium schien von der Absicht erfüllt, dem Gast bis zur Abfahrt Gesellschaft leisten zu wollen, weshalb Egon nochmals bat, den Wagen pünktlich auf zehn Uhr bereit zu stellen, und dann ins Freie flüchtete.
Das Donnern des Bretterwandbaches veranlaßte Egon zu einer Wanderung bachaufwärts und mit Interesse studierte er die Geschiebeverhältnisse dieses Wildwassers und dessen Verheerungen.
Unterdessen langten die Gschlößer Damen beim »Rauter« in Matrey ein, freundlich empfangen vom Türkenpaar. Besonders Ida wurde herzlich willkommen geheißen aus Gründen, die in Opels Bierrechnung beim Vater des Fräuleins, dem Brauereibesitzer Piffrader in Lienz, wurzelten. Wider Willen wurden die Fräuleins, welche nun ihre Gschlößer Sommerfrische beendet hatten, mit Wein und kaltem Aufschnitt traktiert, und die dicke Opelin versicherte, um die Eßlust zu steigern, daß »die Sach' nixen koschte«. Hedwig hatte Hunger und griff zu, während Ida, das Angebot ignorierend, den Wirt um Beistellung eines Wagens nach Lienz ersuchte.
Nun saß Opel in der Zwickmühle; sein einziger Wagen ist bestellt und bezahlt von dem vornehmen Touristen, das kann nicht rückgängig gemacht werden. Ein anderes Fuhrwerk ist nicht zur Verfügung; die Brauereitochter muß aber trotzdem die gewünschte Beförderung nach Lienz erhalten, weil ansonsten Piffrader unangenehm werden könnte. Was nun in solcher Verlegenheit beginnen? Opel versuchte es, die Fräuleins zu einem längeren Aufenthalt in Matrey zu bewegen, um Zeit für die Rückkehr des bestellten Wagens zu gewinnen, doch Ida erklärte, noch heute nach Lienz fahren zu müssen.
Inmitten dieser für das Opelpaar unangenehmen Debatte kam Egon ins Wirtshaus zurück, in dessen Honoratiorenstube er zu seiner freudigen Überraschung Ida erblickte. Herzlich war die gegenseitige Begrüßung; auch Hedwig schien gut gelaunt zu sein und ließ ein Sprühfeuer aus den Augen strahlen.
Bald hatte Egon denn auch Kenntnis davon, daß die Damen heimfahren wollen, doch kein Fuhrwerk bekommen können. Galant bot der Graf seinen Wagen an, doch Ida erklärte, von dieser Liebenswürdigkeit nur Gebrauch machen zu wollen, wenn der Herr Graf mitfahre.
»Mit großem Vergnügen! Könnte mir eine angenehmere Reisegesellschaft gar nicht wünschen!« versicherte Egon, der im Anblick der entzückenden Mädchengestalt deutlich fühlte, wie der kühl erwägende Verstand vom heftig klopfenden Herzen zurückgedrängt wurde.
Hedwig entwickelte im Hinblicke auf die angenehme Fahrt einen ansteckenden Übermut und drängte zu raschem Aufbruch.
Der Wirt aber wußte nicht, worüber er sich mehr wundern sollte. Einmal ist die Bekanntschaft der Weibets mit dem Herrn zu verwundern, dann ist zu staunen, daß der Herr ein wahrhaftiger Graf ist, drittens ist es ein Wunder, daß die Verlegenheit mit dem Fuhrwerk einen so guten Ausgang genommen.
Punkt zehn Uhr konnte der Wagen zwar nicht abfahren, aber eine halbe Stunde später rasselte er mit den drei Insassen doch auf der Straße hinaus nach Huben. Die Damen saßen im Fond, Egon auf dem Rücksitz Ida gegenüber, zum Mißvergnügen der geärgerten Hedwig, die denn auch bald verstummte.
»Wer das gedacht hätte!« meinte Egon mit einem zärtlichen Blick auf Ida, deren zarte Wangen sich färbten zu lieblichem Rot.
»Ja, der Zufall spielt oft wunderbar!« lispelte die zierliche Kleine und ordnete das Sträußchen von Gamsröseln, die sie als Spätlinge im Gschlöß zum Abschied noch gepflückt.
»Ist der Zufall nicht oft Fügung eines wohlwollenden Geschickes?«
»Im Volksmund nennt man das ›aufg'setzt‹!«
»Und das Wort bedeutet?«
»Was einem vorher bestimmt ischt! Uns war es wohl aufg'setzt, daß wir mit Herrn Grafen diese herrliche Fahrt machen werden. Zu ahnen war das nicht! Doch um so größer die Freude!«
»Diese ist doch wohl mehr auf meiner Seite, die Freude, den Damen dienen zu können!« Der diese Worte begleitende Blick traf Ida allein, weshalb Hedwig die Lippen verzog und mit voller Absicht sich aus dem Wagen beugte.
Erglühend löste Ida die Hälfte der duftenden Gamsröseln los und überreichte sie dem Grafen mit den Worten: »Zum Dank sollen Sie von den Blümlein haben, die spät als letzte in unserem lieben, einsamen Gschlöß erblühten, gleichsam erblüht zum Abschied, bis neues Leben oben erwacht um Sonnenwend'! Zum Dank, Herr Graf, und zum – Andenken!«
Ida beugte sich etwas vor und steckte die Blümlein in Egons Knopfloch. Mit Wonne fühlte Egon den Atem des zarten Mädchens, den Duft der nußbraunen Haare.
Hedwig nestelte am Hutband, der frische Wind entführte den Strohhut sogleich, und boshaft rief sie: »Kutscher, halt!«
Betroffen fuhr das Paar auseinander; Ida rief erschreckt: »Was ischt geschehen?«
Hart klang Hedwigs Stimme: »Mein Hut ischt fort!«
Der Kutscher stieg ab und holte den Flüchtling, welchen er Hedwig mit der Mahnung überreichte: »Jetzt bindest Dir 'n aber fescht um die Ohren, aftn derfet ich alle Daumenlang auf und ab kraxeln!«
»Unverschämt!« zischte Hedwig.
»Ischt schon so! Wegen einer Bäckin werd' ich kein Soaltanzer!«
Egon horchte auf; Hedwig errötete vor Zorn und Scham bis in die Haarwurzeln.
Inzwischen hatte der grobe Pferdelenker den Bock wieder erklommen und sein »Hüh, Bräundeln!« setzte die Pinzgauer Rosse wieder in Bewegung.
Egon war des Tiroler Dialektes nicht kundig genug, um den Sinn der zweifellos groben Äußerung des Kutschers sogleich zu erfassen, doch das erriet der Graf, daß Bäckin mit Bäckerei zusammenhängen müsse. Und die Gedanken sprangen von der Bäckerei hinüber zur Brauerei. Sitzt der hochgeborene Aristokrat da nicht in einer sehr bürgerlichen Gesellschaft? Zwei Fräuleins aus dem Gewerbestand und ein Mitglied des österreichischen Hochadels. Was da wohl Onkel Botho sagen würde? Es fröstelte Egon bei dem Gedanken an den Oheim trotz der mittäglichen Wärme an diesem herrlichen schönen Septembertage.
Hedwig blieb stumm, ihre großen, wenig gepflegten Zähne nagten an den Lippen und die Nasenflügel zitterten vor verhaltener Wut.
Auch Ida schwieg.
Der Wagen näherte sich der Ortschaft Huben und noch waren die ersten Häuser nicht erreicht, da krachten Böllerschüsse, deren Knall die müden Gäule hüpfen machte.
»Ho, ho! Seind die Hubner decht völlig narrisch 'worden!« wetterte der Kutscher.
Das ganze Dorf stand inmitten der Straße versammelt; von verschiedenen Häusern wehten Fahnen in tirolischen Farben, auch etliche Fichtenkränze schmückten das Gemeindehaus.
»Weg da von der Straßen!« brüllte der geärgerte Matreyer Kutscher; doch die Dörfler begannen auf ein Zeichen des Vorstehers zu schreien: »Der neuchi Bezirkshauptmann löbe hoooch!«
Vom schrillen Diskant bis zum rauhen Bierbaß in allen Tonarten klangen die Hochrufe; die zu einem Ferialtag gekommene Schuljugend schmetterte frohlockend Extrahochs in den milden Herbsttag.
Der Wagen mußte halten, die Menschenmenge umringte das Gefährt, in welchem die Damen höchst erstaunte Gesichter zeigten, während Graf Egon nervös an seinem Schnurrbart zerrte. Wer in aller Welt kann diesen Streich insceniert haben?!
Und da fängt der Vorsteher auch schon zu reden an: »Geöhrter Herr Bezirkshauptmann! Es thut uns leid, ischt uns aber sehr angenehm, daß Sie ohne alle Vorkenntnisse und bei gänzlicher Bewußtlosigkeit der Gemeindevorstehung hierher gekommen sind. Die Böller sagen Ihnen mehr und lauter als ich es kann: der hochgeöhrte Herr Bezirkshauptmann, neuch wie er schon ischt, er löbe hoch, dreimal hoch!«
»Dreimal hoch!« rief die Menge, und Dutzende von Händen streckten sich dem überraschten Grafen entgegen.
Allen kam aber Ida zuvor, die ihre schmale Rechte darbot und erglühend sprach: »Welche Freude! Herr Graf sind unser neuer Chef! Herzlichst willkommen!«
Hedwig echote gleichfalls: »Sehr willkommen!« blieb jedoch bewegungslos im Fond des Wagens sitzen.
Egon wußte im Augenblick nicht, was beginnen.
Der Vorsteher benutzte diesen Moment zur Aufforderung: »Außer müssen Sie, Herr Hauptmann! Wir wöllen 's Pulver nit umensunst verschießen! Haben S' die Ehr' und steigen Sie aus! Aftn werd' ich Ihnen nun den Gemeinderat vorstellen und ich bitt' auch um gnädige Inspektion! Da sein Sie amol, Herr Hauptmann, und jetzt gehören Sie uns!«
»Aber ich kann doch die Damen nicht so lange warten lassen!« rief Graf Rothenburg fast etwas ärgerlich aus.
»Die Weibets geahen uns nixen an! Selle kinnen weiterfahren! Der Herr Hauptmann bleibt da! 's Fuhrwerk kann ihn zum Abend wieder abholen, haben S' die Ehr'!«
Ida bat den Grafen, den Leuten die Freude zu machen, denn es sei die Ovation zweifellos gut gemeint und eine Ablehnung würde schmerzen.
»Ja doch! Gern, aber die Damen?!« meinte Egon.
»Die Sache wird, so wie ich die Verhältnisse kenne, lange währen. Wenn Herr Graf gestatten, fahren wir völlig bis Lienz und ich schicke Ihnen den Wagen abends mit frischen Pferden von Papa heraus!«
»Nun denn, Ihr Wunsch sei mir Befehl! Doch gestehe ich, der Verlust einer so liebreizenden Reisegefährtin ist schmerzlich für mich!«
Ida errötete und reichte Egon das Händchen zum Abschied; Hedwig nickte. Graf Rothenburg stieg aus und ward von der Menschenmenge im Triumphe entführt. Nicht einen einzigen Blick konnte er auf den abfahrenden Wagen werfen. Ein Opfer des Berufes, das nun zum Gemeindehause geschleppt ward und dort die Vorstellung der diversen Räte, echte Iselthalerköpfe, entgegennehmen mußte. Dieses Geschäft des Vorstellens besorgte der Vorsteher, dessen äußere Erscheinung einen schwer definierbaren Eindruck hervorrief. Eine gewisse Gutmütigkeit, so dachte Graf Rothenburg, scheint mit einer großen Portion Schlauheit gepaart zu sein; dabei macht der derbknochige Mann aber doch wieder den Eindruck, als habe er die Dummheit in Erbpacht. Aus dem Gebaren, das bald tiefste Unterwürfigkeit, im nächsten Atemzuge aufdringliche Keckheit zeigte, glaubte Egon schließen zu sollen, daß dieser Vorsteher vom neuen Chef etwas dergleichen denke wie: »mit Dir werden wir leicht fertig.« Zufällig fing Egon einen Blick auf, der gar nicht anders gedeutet werden konnte, als wie wenn dieser Dorfschulze seinen Gemeinderäten optisch mitteilen wollte: »nur keine Angst, der ›Neuchi‹ ist nicht pfiffig genug!«
Auffällig blieb es dem Bezirkshauptmann, der wider Willen und noch vor offizieller Amtsübernahme Gegenstand einer Ovation geworden, daß der Dorfgewaltige entgegen üblichem Brauch zuerst die Gemeinderäte zur Vorstellung brachte und sich selbst in den Hintergrund stellte. Egon meinte diesbezüglich: »Die erste Ansprache gebührt aber doch stets dem Vorsteher!«
Der Dorffuchs antwortete: »Schon, Herr Hauptmann! Wir wollen aber heut eine Ausnahme machen! Mit Vergunst und Verlaub bin ich zum Reden heut der letzte!«
Egon fügte sich und richtete an jeden der Dorfräte einige höfliche Worte, worauf die Männer unter Kratzfüßen abrückten, selbstverständlich ins Wirtshaus zur »Post«, um dort über die Persönlichkeit des neuen Amtschefs Kritik zu halten.
Im kahlen Zimmer des Gemeindehauses stand nur noch der Vorsteher vor Egon und begann nun seine Ansprache: »Mit Verlaub, Herr Hauptmann! Wenn S' nichts dagegen haben, sind wir zwei jetzt alleinig, sozusagen ohne Zeugen, und das ischt recht! Wissen S', Herr Hauptmann, wenn man so dischkariert, kommt manches vor, was die anderen von der Gemeinde nichts angeht!«
»Sonderbar!« meinte Egon, »ist mir noch nicht vorgekommen!«
»Schon möglich, Herr Hauptmann! Ich bin halt ein so viel bescheidener Mann. In unserer Gemeinde giebt es auch sonderbare, das heißt eigene Sachen! Drum möcht' ich schon recht schön bitten, haben S' Nachsicht mit unserer Gemeinde und seien S' gnädig mit uns! Sie schauen, wenn S' auch gar a Graf sind, schon danach aus, als wenn S' ein gemeiner Gemein hat hier die Bedeutung jovial, herablassend, leutselig, gut. Mann sein thäten! Und sellen Mann thäten wir in der Gemeinde recht notwendig brauchen, von wegen unserer eigenartigen Verhältnisse!«
Schier wußte Egon nicht, was er zu solcher Apostrophierung sagen sollte, und unwillkürlich fragte er: »Was sind Sie denn im bürgerlichen Leben, Herr Vorsteher?«
»Wenn S' nichts dagegen haben, bin ich Beamter, Bürger und Bauer!«
»Wieso?« rief überrascht Egon aus.
»Ja, sehen S', Herr Bezirkshauptmann! Bauer bin ich, das werden S' wohl merken, weil ich Grund und Boden und zwei Küh' hab'. Als Bäcker im Dorf bin ich Bürger. Dann bin ich aber auch noch Beamter und das doppelt!«
»Das verstehe ich nicht!«
»Freilich, Herr Hauptmann! Ich bin Gemeindevorsteher, also ein wichtiger Beamter, leider ohne Gehalt, zugleich versehe ich das Amt des Gemeindewaldaufsehers, also bin ich doppelter Beamter!«
»Nicht möglich! Vorsteher und zugleich Waldaufseher? Das ist ja unbedingt unzulässig! Hat denn mein Amtsvorgänger diesen Unfug nicht abgestellt?«
»Aber freilich! Natürlich abgestellt! Aber wissen S', Herr Hauptmann, es ischt soviel schwer in unserer Gemeinde. Man hat die Leut' nicht für einen so wichtigen Poschten. Es ischt bei uns nicht so, wie bei anderen Gemeinden. Bei uns kriegt nämlich der Waldaufseher keinen Lohn. Ohne Lohn und ohne Entschädigung findet sich halt niemand, sell ischt kein Wunder! Mir ischt dies aber gleich – ich hab' eine Freud' am Wald und verinteressier' mich fürs Holz. Darum hab' ich halt den Aufseherposten selber übernommen!«
»Ganz und gar ungesetzlich! Ich begreife zwar, ohne Lohn wird man keinen geeigneten Mann finden für diesen schweren und verantwortungsvollen Dienst. Aber unzulässig bleibt diese Dienstvereinigung trotzdem und –«
»Mit Verlaub!« fiel der Vorsteher ein, »sell möcht' ich schon noch sagen: für meine Müh' hat mir die Gemeindevertretung den freien Holzbezug aus dem Kommunalwald bewilligt; soviel ich brauche, kann ich mir im Wald selber auszeigen!«
»Er ist Bäcker, was?« fragte Egon.
»Wohl, wohl!«
»Na, dann begreife ich! Sie werden mit dem Holz da nicht zu kurz kommen. Eine sonderbare Wirtschaft! Werde die Sache untersuchen!«
»Bitt' schön, Herr Hauptmann, kletzeln S' nit zu viel herum und seien S' halt ein bissel gnädig mit uns arme Bauern. Wir haben das größte Vertrauen zu Ihnen, wenn S' auch ein Graf sind!«
»Wer hat Ihnen das gesagt?«
»Gleich nur der Herr Sekretär! Sie, der ischt Ihnen anders gesprungen 'kommen, ein tüchtig's Manndel, der Herr Sekretär, und so viel gemein! Diemalen hat er freilich seine Mucken, sonst ischt er aber ganz reacht für uns! Ich hoff', Sie werden aftn auch reacht werden, Herr Hauptmann! Denken S' nur, was das Holz koschtet, und die meisten Leut' bleiben mehr eh (ohnehin) 's Brot schuldig! Sie, Herr Bezirksgraf, haben ja keinen Schaden und 's Amt auch nicht, und mir ischt's a Wohlthat. Sonsten hätt' ich ja gar nixen für den schweren Aufseherdienst!«
»Ja, ja! Es klingt ja plausibel!« meinte Egon, den der treuherzige Ton rührte.
»Ja, haben S' die Gnad'! Mein Gott, ein so hocher, fürnehmer Herr wie Sie, schier der Statthalter selber!«
Mit dieser plumpen Schmeichelei erzielte der Vorsteher das Gegenteil, Egon ward kühl und erwiderte: »Wir werden schon sehen. Nun aber Schluß!«
»Wie S' wollen, gnä' Herr! Aber unser Schulhaus müssen Sie decht noch verinschpizieren, da hilft Ihnen nixen!«
Egon fügte sich in das Unvermeidliche, und bald war das kleine Gebäude erreicht, das nur ein einziges Unterrichtslokal mit angelweit geöffneten Fenstern hatte.
»Heut ist doch ein Werktag, weshalb findet kein Unterricht statt?« fragte verwundert der Bezirkshauptmann.
»Sell wär' noch das schöner! Da kennen S' uns schlecht! Heut, wo der neuchi Herr Hauptmann im Ort ischt, und Schulhalten, na, sell giebt's nicht! Heut ischt bei uns ein Festtag, höher wie weiß Gott einer! Aber gelten S', ein feines Lokal haben wir, was?!«
»Ja, ja, das fleißige Lüften ist gut und zuträglich! Doch will mir scheinen, ein eigentümlich scharfer Geruch ist hier wahrzunehmen!«
»Das bilden S' Ihnen nur ein, Herr Bezirkshauptmann! Der frühere Amtsvorstand hat auch eine soviel feine Nasen gehabt und deswegen sind wir mit die Anständ' nimmer fertig 'worden!«
»Wieso Anstände?«
»Eigentlich zum Lachen! Aber freilich, feine Herren haben halt soviel feine Nasen und riechen was, wo wir nichts schmecken. Wissen S', Herr Hauptmann: unter dem Schulzimmer ischt ein lichtes, gutes Lokal, das haben wir meinem Schwieger billig vermietet. So profitiert mein Schwieger, und die Gemeinde hat auch noch Nutzen!«
»Wozu braucht der Schwager das Lokal?«
»Gleich nur als Käsmagazin!«
Egon fuhr betroffen zurück und rief: »In einem Schulhaus ein – Käsemagazin?!«
»Da ischt decht weiter nix dabei! Kein Mensch haltet sich darüber auf, bloß die ganz g'scheite Schulaufsicht, die meint, der Käs' thät' riechen und schenieret die Schulkinder. Ich bitt' Ihnen, Herr Hauptmann – rein zum Lachen, der Käs' und riechen und ischt soviel gut und g'sund! Und die Fenster sind eh alleweil angelweit offen!«
»Hat sich denn der Lehrer noch nicht beschwert?«
»Der sollt' aufmanndeln! Der soll froh sein, wenn er den Käs' umsonst schmecken darf.«
»Ich rieche den Käse auch!«
»Freilich, kein Wunder! Jetzt, wo wir schon eine Viertelstund' d'rüber dischkarieren. Sie müßten den Käs' jetzt schmecken und wenn auch gar keiner da wär'. Aber ich hoff', Herr Bezirkshauptmann, Sie werden uns keine Anständ' machen!«
»Wir werden schon sehen! Ich muß erst in den Akten nachschlagen!«
»Thun Sie selles lieber nicht, Herr Hauptmann! Sie sind neuch im Amt und verderben Ihnen bloß den Hamur mit dem alten Zeug! Aber weil wir grad' da sind, möcht' ich noch etwas sagen: Schauen S' rundum, Herr Bezirkshauptmann, so werden Sie sehen, wie alles ganz sauber aufgeräumt ischt, alles in bester Ordnung im Schulzimmer. Und decht haben wir leider auch in dieser Beziehung Anständ' mit der Bezirkshauptmannschaft gehabt. Ich hoff' aber, Sie, der neuchi Herr, sind gnädiger wie der alte Vorfahrer – war sonst ein rarer Herr, bürgerlich, daher ein bissel streng, gar zu streng für uns arme Bauern!«
Egon fragte, nun ungeduldig werdend, nach diesen Anständen.
Der Vorsteher musterte ihn mit einem scheuen Blick, dann begann er ziemlich unsicher: »Ja, sehen S', Herr Hauptmann, wir haben im Dorf eine Bande, eine Musikbande – a Musik ischt so viel was Schönes fürs Gemüt – Sie mögen's gewiß auch gern. – Jetzt fehlt aber das Lokal, wo die Musikanten die Proben abhalten können, und da haben wir ihnen bewilligt, das Schulzimmer zu den Proben zu benutzen. Ischt ja nixen dahinter, Kinder sein keine da, die Musikanten scheniert der Käsgeruch noch weniger; wenn die Leut' alle Wochen ein- bis zweimal in der Schul' zusammenkommen und blasen, und wenn sie ein Faßl Bier mitbringen und trinken und die Instrumenter dann an die Wand umadum aufhängen – sein ja Nägel genug da! Haben wir gemeint! Aber der Schulinspektor, der ganz gescheite, hat herausgefunden: die Musikanten thäten durch das Blasen, Tabakeln und Biertrinken die Böden und die Schulbänk' verunreinigen und eine schlechte Luft zurücklassen! Ich bitt' Ihnen – im Iselthal und a schlechte Luft, grad' zum Lachen! Als wenn das Tabakeln eine schlechte Luft machet, wo der Tabak eh so teuer ischt! Drum haben wir alles Vertrauen zu Ihnen, Herr kaiserlicher Adler, und ich thät' schön bitten, werden S' uns keine Anständ' machen, wir seien ja soviel arm dran, wir arme Bauern!«
Egon seufzte; die Dienststellung eines Bezirkshauptmanns im Gebirge fängt wahrlich herb an, ganz anders, als es sich die Idealisten und Berufsschwärmer vorstellen.
Der Vorsteher bestrebte sich, den Seufzer auszunützen, in der Meinung, daß er dem Mitgefühl entsprungen sei. Aber Egon machte nun der Scene energisch ein Ende und begab sich zum Dorfwirtshause, um dort den von Lienz bestellten Wagen zu erwarten. Nicht einen Schritt wich der Vorsteher vom Chef und belehrte ihn, daß vor drei Stunden an die Ankunft des Wagens nicht zu denken sei.
So lange in diesem Dorf bei einer alarmierten Bevölkerung zu verbleiben, wollte Egon nicht; kurz entschlossen hinterließ er die Ordre, der Wagen solle ihm nach Kals folgen, und ehe die verdutzten Gemeinderäte, die in der »Post« das Ergebnis tapfer mit Rötel begossen hatten, wußten, wie ihnen geschah, war der Bezirkshauptmann bereits aus dem Dorfe verschwunden.
Warum Egon den Abstecher nach Kals, der Station für Glocknertouristen gleich Heiligenblut, unternommen, wußte er selbst nicht, ein Zufall, daß er sich dieser Ortschaft erinnerte.
Tüchtig ausschreitend, kam Egon auf dem anfänglich schlechten Karrenweg rüstig vorwärts ins Kalser Thal; Peischlach blieb zurück, der Weg wurde gut in geringer Steigung, führte stellenweise hart am Abgrund hin, in welchem tief unten der Kalserbach toste. Knapp von der Ortschaft Stranisca trat der Großglockner mit der Glockenwand, dem Ködnitz – und Teischnitzkees in die Erscheinung, von der Abendsonne rosig angehaucht – ein entzückendes, prächtiges Bild. Egon grüßte den schlanken Gipfel durch Hutschwenken wie einen vertrauten Freund. Venediger und Glockner, beide von ihm bestiegen, gehören ja zu seinem Bezirk, Rothenburg ist der Gletscherherr.
Violetter Duft im breiten Thalbecken mahnte zur Eile, so der Wanderer rechtzeitig ein Unterkommen finden will. Der September mit der Frühdämmerung macht sich bemerkbar. So stapfte denn Egon hurtig die Böschung hinab zum Kalserbach über die Brücke, ließ den Unterwirt rechts abseits liegen und strebte bergan der Kirche zu, die das freundliche Dorf beherrscht und in deren Nähe der Oberwirt »Bergerweiß« seine Raststätte hat.
Als der Graf am kleinen Friedhof vorbeikam, fesselte ihn ein seltsamer Anblick und hemmte ihm den Schritt. Im Beinhause war ein Mann beschäftigt, Totenschädel in Säcke zu verpacken, die dann zugebunden und mit Adreßschleifen versehen wurden. Ein Export von Totenschädeln, das ist etwas Neues und darüber muß nähere Erkundigung eingezogen werden.
Egon schritt durch den kleinen Friedhof zum Beinhaus und fragte den durchaus nicht überraschten Totengräber, was er da treibe.
Der alte Mann grinste: »Gelt, da guckst! Geht Di' aber nixen an!«
»Aber es ist doch unerhört!«
»Glaub's gern, daß es Dich wundert. Ehnder hätt' ich's auch nit 'glaubt, aber der Köpfelsammler zahlt gut und sell ischt die Hauptsach'!«
»Das ist pietätlos, Unfug, strafbar! Was will der Mann mit den Köpfen?«
»Sie gefallen ihm so viel gut, die Kalser hätten besondere Schädel, sie seien so etwas wie alte Slaven aus alter Zeit, hat er gemeint, und für jeden Schädel zahlt er fünfzig Kreuzer!«
»Mensch, Er wird exemplarisch bestraft, wenn das zur Anzeige gelangt!« schrie entrüstet der Bezirkshauptmann.
»Ah mein! Wer lang' fragt, geht lang' irr'!«
»Weiß denn der Herr Pfarrer von der unerhörten Sache?«
»Sell ischt mir nicht bekannt; ich sag's ihm nicht und Du wohl auch nicht! Sei so gut, Herr, und pack' Di' durch!«
»Ich befehle Ihm, die Schädel sofort wieder an Ort und Stelle wie früher zu bringen!« rief in scharfem Tone Egon.
Der Totengräber guckte im ersten Augenblick auf, doch die Scheu war rasch überwunden, und grob kam nun die Aufforderung heraus zur sofortigen Entfernung, unter der Androhung zwangsweiser Vorführung zum Vorsteher.
Ein Streiten ohne amtliche Abzeichen und mangels dienstlichen Sukkurses erschien Egon zwecklos, doch beschloß er, sofort den Vorsteher aufzusuchen und diesen zur Intervention aufzufordern.
Noch befand sich der Graf im Friedhof, da tauchte in der Dämmerung eine Gestalt auf, die der Alte anrief: »Schlaun Dich, Vorsteher, und bring' den Stadtfrack ins Loch! Dös Manndl will uns ins G'schäft pfuschen!«
»Immer besser!« murmelte Egon und begann nun energisch den Vorsteher auf seine Amtspflicht zu verweisen.
Aber da kam der unbekannte Bezirkschef übel an. Der Handel ward vom Dorfgewaltigen als völlig naturgemäß erklärt, weil der Käufer, ein Professor, bloß studieren wolle, und das sei für die Kalser Totenköpfe eine Ehr', und außerdem werde die Sache gut bezahlt. Und zum Schluß ginge das einen Fremden überhaupt nichts an.
Egon rief: »Ich, der neue Bezirkshauptmann, befehle Ihnen die sofortige Einstellung dieses Unfugs!«
Der Vorsteher, vom Totengräber durch boshafte Bemerkungen aufgestachelt, höhnte: »Ah, der Tausend! Bezirkshauptmann wollen Sie sein und kommen zu Fuß in der Nacht ins Dorf geschlichen wie ein Handwerksbursch, der stehlen will! Nein, mein Herr, so thian mer nit in Kals! Und jetzt red' ich und sage: Hui, Bürschl, aussi beim Löchl oder Du marschierst in'n Kotter!«
Was wollte Egon beginnen? Im Interesse seiner Dienstwürde, ohne Uniform und in solcher Situation war das Klügste eine Ignorierung der Angelegenheit wie der Anzapfungen, zumal man auf den Fall ja in allernächster Zeit amtlich zurückkommen kann.
So entfernte sich der Graf Rothenburg in der Richtung zum Oberwirt.
»Der vergißt 's Wiederkommen!« spottete der Vorsteher, und der Alte belachte den Witz, worauf beide den Friedhof verließen.
Zunächst stärkte sich Egon beim Oberwirt, denn Atzung that dem ausgehungerten Beamten, der wider Willen eine seltsame Inspektionsreise angetreten, not; dagegen verzichtete er auf die Unterhaltung, welche nach Landessitte der Wirt, die Wirtin und die Kellnerin durch Fragen über Ziel der Reise und Zweck des Aufenthalts in Fluß bringen wollten.
Kaum aber hatte sich Graf Egon in seinem Zimmer zur Ruhe begeben, da brachte die Ankunft des von Huben nach Kals gefolgten Fuhrwerks Leben in das schläfrige Wirtshaus. Der ärgerliche Matreyer Kutscher fluchte über den erzwungenen Abstecher nach Kals, und aus seinen Reden erfuhr der Wirt sehr rasch, daß der einsame Gast der neue Bezirkshauptmann sei. Sofort wurde der Vorsteher verständigt, der, von Angst gepeinigt, erschien und sein voriges Verhalten dem vermeintlichen Touristen gegenüber tief bereute. Am liebsten hätte der Mann in derselben Stunde noch den Amtschef um Verzeihung gebeten, doch der Wirt duldete keine Belästigung des Gastes mehr.
Der erste Gang Egons am frühen, nebligen Morgen galt dem Kalser Friedhof, wo er zu seiner Überraschung die Schädel alle wieder hübsch an alter Stelle im Beinhaus vorfand. Der höflich gewordene Totengräber bat beweglich um Verzeihung und gelobte den Verzicht auf das »Geschäft«. Und alsbald schlich auch der Vorsteher herbei, um die ärgerliche Geschichte möglichst aus der Welt zu schaffen.
Egon ließ Milde walten, verbot aber derlei Übergriffe scharf und eindringlich. Sodann wurde das Frühstück eingenommen und hierauf die Fahrt nach Lienz angetreten, die den Kutscher infolge eines munifizenten Trinkgeldes in die rosigste Laune versetzte. »Hätt' mir's nit gedenkt, daß ein Bezirkshauptmann so noblicht ischt!« hatte der derbe Rosselenker gesagt, als er die Geldnote empfing.