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Der Marquis von Outreville vertraute auf sein gutes Recht und auf Luciles Liebe und fürchtete sich nicht vor einer Verfolgung seiner Schwiegermutter. Die Flucht der beiden Gatten glich dem Spaziergang zweier Liebender. Morgens und abends wurde ein wenig gereist; sie übernachteten, wo es ihnen gefiel; sie stiegen aus dem Wagen und ergingen sich auf schmalen Fußpfaden, streiften Arm in Arm durch die Wälder, liefen einander davon und fanden sich wieder. Lucile, in ihrem Wesen ganz Marquise, und in dieser Eigenschaft von allen Gastwirten wieder erkannt, brachte drei Wochen auf einem Wege zu, den sie mit ihrer Mutter in vierundzwanzig Stunden durchjagt hatte, und doch schien ihr diese zweite Reise bei weitem kürzer als die erste.
Die Ankunft des jungen Ehepaares war ein Fest in Arlange, denn Lucile wurde von all ihren Unterthanen angebetet und gab ihnen von ganzem Herzen die Freundschaft zurück, welche die braven Leute für sie fühlten. Sie erkundigte sich nach den Abwesenden, fragte nach dem Ergehen der Kranken und durchleuchtete das ganze Dorf mit der Freude, die ihr Herz erfüllte.
Nachdem sie den Erinnerungen ihrer Kindheit diesen Tribut gezahlt hatte, rechnete Lucile darauf, sich mit Gaston in ihrem Hause zu verschanzen, vor jedem Besuch die Thür zu verschließen und in dieser Zurückgezogenheit ganz ihrer Liebe zu leben. Allein der Marquis hatte seit seiner Verheiratung viel und ernsthaft nachgedacht und das große Geheimnis des häuslichen Lebens, sparsam mit dem Glücke umzugehen, ergründet. Er wußte, daß die Einsamkeit zu zweien, dieser Traum aller Liebenden, die reichsten Herzen bald erschöpft, und daß, wer sich alles an einem Tage sagt, sich bald wiederholen oder schweigen muß. Gaston fühlte in seinem Herzen eine so große Fülle von Zärtlichkeit, daß, wenn er sparsam mit dem Glücke haushielt, es ein ganzes Leben lang auszudauern versprach. Er veranlaßte Lucile, ihre Zeit zwischen Liebe und Arbeit zu teilen, ja er wies sogar der Langeweile, als einer heilsamen Gesellschaft, die den Reiz des Vergnügens bedeutend erhöht, einen Platz an. Er weckte ihr Interesse an seinen Studien und Forschungen; er überredete sie, Besuche zu machen und zu empfangen; er hatte sogar den Heroismus, sie zur Baronin Sommerfogel zu begleiten. Ferner vereinigte er seine Bitten mit denen Luciles, um Herrn und Frau Jordy zu bewegen, die erste freie Zeit auf dem Hüttenwerk zu verleben, und diktierte ihr mindestens fünf Briefe an Frau Benoît, die sie beschwichtigen und nach Arlange zurückführen sollten.
Diese Beweise kindlicher Unterwerfung entfachten den Grimm der Witwe nur noch heftiger; und wenn sie wirklich einen Augenblick gewillt gewesen, das, was sie den Verrat ihrer Tochter nannte, zu vergessen, würde die Einladung des Marquis von Croix-Maugars, die sie stets bei sich trug, ihr diesen Verrat unabweislich wieder vor Augen geführt haben. Sie geriet in jenes Stadium von Menschenfeindlichkeit, das sich aller kleinen Geister bemächtigt, sobald sie Ursache zu haben glauben, sich über andre zu beklagen. Sie fing an, die ganze Welt, selbst ihr einstiges Paradies, das Faubourg Saint Germain, zu hassen; es wollte ihr scheinen, als ob die gesamte Aristokratie von Paris sich gegen sie verschworen habe und ihr Schwiegersohn das Haupt dieser Verschwörung sei. Daß sie dem Schauplatz ihrer Enttäuschungen nicht auf ewig lebewohl sagte, geschah nur aus dem Grunde, weil sie ihre Niederlage nicht eingestehen wollte.
Von ihren alten Schuldnern sah sie weder Frau von Malésy, noch irgend jemand sonst, bis auf den Baron von Subressac. Nicht etwa, weil sie irgend eine Gefälligkeit von ihm erwartete – sie hatte die Hände in den Schoß gelegt und hoffte einzig noch auf den Zufall – aber der Baron kam ihr freundschaftlich entgegen, und in Ermangelung von Besserem, will die Freundschaft eines Barons schon immer etwas sagen. – Herr von Subressac war mit seinen fünfundsiebzig Jahren ein sehr alter Mann, während er mit fünfundfünfzig verwunderlich jung gewesen war. Ohne zu rechnen, hatte er Leben und Vermögen vergeudet, unglücklicherweise aber dabei vergessen, sich rechtzeitig zu verheiraten, und sich zur Einsamkeit, dieser kalten Gefährtin alter Junggesellen, verdammt.
Mit sechstausend Franken lebenslänglicher Rente in einen vierten Stock verbannt; in Gesellschaft eines Kammerdieners und einer Köchin, die ihm aus Gewohnheit dienten, haßte er sein »zu Hause« und lebte fast ganz außerhalb seiner Wohnung. Jeden Morgen nach dem Frühstück machte er mit der sorgfältigen Koketterie einer alternden Frau Toilette, ja es gab Leute, welche behaupteten, daß er sich schminke, doch ist die Thatsache nicht bewiesen. Nachdem er sich angekleidet, machte er gemächlich ein paar Besuche, wurde überall gut aufgenommen und siebenmal in der Woche zu Tisch eingeladen. Er war beliebt wegen der Fürsorge, die er sich und andern angedeihen ließ; außerdem hatte er für die Frauen jeden Alters Aufmerksamkeiten, welche die junge Generation nicht mehr kennt, und endlich belohnte das weibliche Geschlecht – von diesem Verdienst ganz unabhängig – dreißig Jahre treuer Dienste.
Dank all dem Guten, das er auf seinem Lebenswege gesät, war er so glücklich, wie man in seinem fünfundsiebzigsten Jahre sein kann, wenn man gezwungen ist, das Glück außerhalb seines Hauses zu suchen.
Er hatte keine Gebrechen, aber seit dem Winter 1845 fingen seine intimsten Freunde an zu bemerken, daß seine Kräfte nachließen. Er war nicht mehr so frisch bei der Unterhaltung, zeitweise etwas zerstreut, sprach nicht mehr so lebendig und ergriff nicht so häufig das Wort wie sonst. Das ernsteste Symptom aber war, daß er die Müdigkeit nicht mehr überwinden konnte. Eines Abends, nach einem Diner beim Marquis von Croix-Maugars, war er auf seinem Stuhle eingeschlafen.
Im April 1846 wurde der Baron vor der Kaserne in der Rue Bellechasse von einem Schwindel erfaßt; er würde zu Boden gestürzt sein, hätte ihn nicht ein Unteroffizier von den Jägern in seinen Armen aufgefangen. Dieser Umstand ließ ihn den Mangel einer Equipage aufs schmerzlichste empfinden. Jedermann war erfreut, ihn bei sich zu sehen, aber niemand kam auf den Gedanken, ihn nach Hause fahren zu lassen. Frau Benoît war die erste, welche in so zarter Weise für ihn sorgte. Ob sie ihn bei sich erwartete, ob er sich von ihr verabschiedete, niemals vergaß sie, ihm ihren bequemsten Wagen mit den weichsten Kissen zur Verfügung zu stellen. Sie war weit aufmerksamer als seine alten Freunde und empfand eine Art bitteren Vergnügens darin, den einzigen Edelmann, den sie Freund nannte, mit Güte zu überhäufen. Zu sich selbst sagte sie: »Diese Dummköpfe, so hätten sie es alle haben können.«
Der Baron aber fing an, eine aufrichtige Freundschaft für diejenige zu empfinden, die so liebevoll für ihn besorgt war. Greise sind wie die Kinder, instinktiv hängen sie an denen, welche sich ihrer Schwächen annehmen.
Während die größere Hälfte des Faubourg aufs Land ging, um sich von den Vergnügungen des Winters auszuruhen, nahm er eine Wohnung in der Rue Saint Dominique und ging fast täglich zu Tische in das bürgerliche Haus. Das Mittagessen wurde eigens für ihn bestellt und man setzte ihm stets seine Leibgerichte vor. Er liebte die alten Weine, Frau Benoît ließ ihm die auserlesensten ihres Kellers bringen. Beim Nachtisch erzählte sie ihm von ihren Leiden; er hörte aufmerksam zu, und schließlich kam er dahin, sie ernstlich um ihres eingebildeten Unglückes willen zu bedauern. Sie weinte, und da Thränen ansteckend sind, weinte er mit ihr. Drei Monate nach Luciles Abreise gehörte er vollständig zum Hause. Er hatte sich an das bequeme Wohlleben und seine ruhigen Freuden, die ihm höchstens ein wenig Mitleiden kosteten, gewöhnt. Eines Abends, gegen Ende September, sagte er zu Frau Benoît: »Ich bin zu nichts mehr nütze, meine Kleine; ich komme mir vor wie ein alter Wandteppich, an dem man überall die Fäden durchschimmern sieht, und dessen Muster zu drei Teilen verblichen ist, aber so, wie ich bin, kann ich Ihnen immer noch das geben, was Sie Ihr Leben lang gewünscht haben – wollen Sie Baronin werden? Ich biete Ihnen keinen Gatten, sondern nur einen Namen an. In Ihrem Alter, bei Ihrem Aussehen verdienen Sie Besseres; ich aber kann Ihnen nichts Besseres geben, als ich habe. Ein Etwas sagt mir, daß ich Sie nicht lange mehr belästigen werde, daß es bald mit mir zu Ende geht; ich glaube sogar, wir thäten gut, uns zu beeilen, wenn Sie Frau von Subressac werden wollen. Ich habe vielerlei Beziehungen zum Faubourg, man hat mir überall ein wenig Zuneigung entgegengebracht, ich möchte doch noch Zeit genug haben, Sie meinen Freunden vorzustellen. Nach meinem Tode wird man Sie aus Liebe zu mir empfangen, und nichts wird Sie mehr hindern, sich dann einen Mann zu wählen, der Ihrem Alter angemessen ist und in Wahrheit, nicht nur symbolisch, Ihr Gatte sein wird. Denken Sie über diesen Vorschlag nach, behalten Sie sich die Entscheidung acht bis vierzehn Tage vor, ich denke, für vierzehn Tage kann ich noch für mich gutsagen. Schreiben Sie Ihren Kindern; der Schrecken, den ihnen dieses Heiratsprojekt einflößen wird, bestimmt sie vielleicht dazu, Ihren Wünschen gerecht zu werden. Was auch kommen möge, ich werde jedenfalls in dem Bewußtsein, zu Ihrem Glücke beigetragen zu haben, ruhiger sterben.«
Frau Benoît war auf diesen Antrag ganz und gar nicht vorbereitet gewesen, trotzdem brauchte sie nicht zwei Tage, um zu einem Entschluß zu kommen. Eine Stunde, nachdem der Baron sie verlassen hatte, wußte sie, was sie wollte. Sie sagte sich: »Ich habe mir zwar zugeschworen, mich nicht wieder zu verheiraten, weit früher aber gelobte ich mir, dem Faubourg anzugehören; diesmal bin ich wenigstens sicher, von meinem Manne nicht geschlagen zu werden. Ich heirate den Baron und enterbe die Marquise, soweit es irgend in meiner Macht liegt. Auf denn ans Werk!«
Sie schickte ihre Antwort an Herrn von Subressac und begann bereits am nächsten Morgen die Zurüstungen für ihre Hochzeit, ohne ihren Kindern auch nur die geringste Mitteilung zu machen. Kein leidenschaftlicher Liebhaber hat jemals mit so glühendem Eifer auf seine Verheiratung gedrungen, aber freilich heiratete Frau Benoît auch etwas andres als einen Mann, sie heiratete das Faubourg.
Ein leichtes Unwohlsein Herrn von Subressacs mahnte sie, daß keine Zeit zu verlieren sei; sie eilte wie auf Flügeln von einem zum andern und entwickelte eine bei weitem lebendigere Thätigkeit, als vor der Hochzeit ihrer Tochter. Während der Baron an sein Zimmer gefesselt war, fuhr die Braut vom Bürgermeisteramt zum Notar, und vom Notar zur Sakristei. Dazwischen fand sie noch Zeit, ihren lieben Kranken zu besuchen und mit dem Arzt zu plaudern.
Die Hochzeit war auf den 15. Oktober festgesetzt. Am 14. klagte Herr von Subressac, dem es im übrigen weit besser ging, über einen Druck im Kopfe. Der Arzt sprach davon, ihn zur Ader zu lassen, allein Frau Benoît ließ es nicht dazu kommen, und so wurde der Aderlaß auf den nächsten Morgen verschoben; der Kopfschmerz ging vorüber und die Verlobten dinierten mit dem besten Appetit.
Während Frau Benoît mit glühendem Eifer an ihrer Standeserhöhung arbeitete, genossen ihre Tochter und ihr Schwiegersohn den Herbst in Gesellschaft ihrer Freunde. Herr und Frau Jordy hatten ihre Geschäfte verlassen, um drei Wochen in Arlange zu verleben. Frau Mélier hatte sie acht Tage behalten und ihnen dann die Erlaubnis gegeben, nach dem Hüttenwerk überzusiedeln; weder Mutter noch Gatte pflegen einer jungen Frau, welche seit vier Monaten guter Hoffnung ist, etwas abzuschlagen. – Zwischen dem Zuckersieder und dem Hüttenmeister hatte sich eine intime Freundschaft gebildet. Sie jagten täglich zusammen, während ihre Frauen an der Ausstattung für einen kleinen Prinzen nähten. Robert nannte die Marquise Lucile, und Gaston nannte Frau Jordy Céline.
An demselben Tage, an dem der Marquis einen Schwiegervater bekommen und ein Vermögen verlieren sollte, bestiegen die beiden Paare zusammen einen soliden Char a bancs, der allen Unebenheiten der Waldwege gewachsen war. Der Tau blinkte in großen Tropfen auf den Gräsern; die gelben Blätter sanken wirbelnd durch die Luft und fielen zu Füßen der Bäume nieder. Die zahmen Rotkelchen folgten dem Wagen von Ast zu Ast und die Bachstelze lief mit wippendem Schwanz bis beinahe unter die Hufe der Pferde. Von Zeit zu Zeit huschte ein aufgeschrecktes Kaninchen mit weit zurückgelegten Ohren wie ein Blitz über den Weg. Die scharfe Morgenluft hatte die Gesichter der jungen Frauen gerötet. Nach einer langen Fahrt, die indes niemand so erschienen war, verließen sie den Wagen. Lucile, welche die Expedition befehligte, führte sie an einen schönen grünen Platz, unter einer großen Eiche, in der Nähe einer kleinen von Kresse eingefaßten Quelle. Frau Jordy ergab sich aus Pflichtgefühl der Faulheit und machte sich's auf dem trockenen Laube bequem, das feiner und weicher als die beste Pelzdecke war, während ihr Gatte die Kasten aus dem Char a bancs leerte und der Marquis ein großes Feuer zur Bereitung des Frühstücks anzündete, in das Lucile Arme voll trockener Blätter und Hände voll dürrer Zweige warf; dann zerlegte Robert die kalten Rebhühner, und die Marquise entfaltete alle ihre Talente, um eine Omelette ersten Ranges zu bereiten. Der Kaffee wurde in respektvoller Entfernung ans Feuer gesetzt und dem Marquis anempfohlen, ihn nicht kochen zu lassen, bis es schließlich ans Essen ging und ein förmlicher Wettstreit von Heißhunger sich entfaltete, der in der Stadt lächerlich gewesen wäre und auf dem Lande köstlich war. Wenn eine Eichel in ein Glas fiel, lachte man sich halb tot und fand, daß die alten Bäume sehr geistreiche Einfälle hätten.
Es war nicht mehr weit von zwölf Uhr, als man die Tafel dem Diener und dem Kutscher überlieferte. Die beiden jungen Frauen wählten einen Fußpfad, den sie von früher her kannten, gingen fröhlich bis an den Saum des Waldes und führten ihre Männer mitten in Frau Méliers Weinernte hinein. Der Sonnenschein fiel sanft auf die purpurfarbenen Weinblätter. Die schöne rote von der Herbstsonne ein wenig aufgeweichte Erde heftete sich an die Füße der Winzer und jedem von ihnen klebte ein kleines Häufchen am Schuhwerk. Zwei mit großen Bütten beladene Wagen hielten am Fuße des Abhangs, und ab und zu trat ein Winzer, von seiner Last gebeugt, herzu, um seine volle Kiepe auszuschütten. Ein wenig von dem Wagen entfernt saßen zwei sechsjährige Kinder und bewachten mit hungrigen Blicken die Mahlzeit der Winzer. Eine kolossale Schüssel Kohlsuppe entsandte ihre kräftigen Dämpfe, in der Asche brieten die Kartoffeln und die dicke Milch stand in blauen irdenen Gefäßen bereit. Die Blicke der beiden Kinder aber schienen mit ziemlich deutlicher Beredsamkeit zu sprechen: »Ei wie schön! heiße Kartoffeln mit kalter dicker Milch!«
Die Winzerinnen in ihren kurzen Röcken sangen ihnen zu Häupten ein ländliches Lied. Diese Art lauter Fröhlichkeit ist für den Eigentümer des Weinbergs nur von Vorteil, denn es ist eine bekannte Sache, daß ein singender Mund keine Trauben ißt.
Während Gaston und Robert den Hügel erstiegen und eine von Rebenpfählen strotzende Front passierten, fand zwischen den beiden Freundinnen in unmittelbarer Nähe der Winzerküche ein seltsames Gespräch statt.
»Du bist nicht klug,« sagte Frau Jordy, »diese Suppe muß ja entsetzlich schmecken.«
»Nur einen einzigen Teller voll!« bat die Marquise.
»Aber du hast ja eben gefrühstückt.«
»Ich habe einen wahren Heißhunger auf diese Suppe.«
»Wenn du so hungrig bist, können wir ja zum Wagen zurückgehen.«
»Nein, gerade von dieser Suppe will ich etwas haben; geh' und bitte um einen Teller voll für mich, oder ich stehle sie. Ich vergehe vor Verlangen danach!«
»Thränen? Oh, oh, das wird Ernst. Ich dachte, solche Gelüste seien nur mir gestattet. Nun, wer weiß! Essen Sie, gnädige Frau, essen Sie!«
Die kleine Marquise verschlang die Portion eines Dreschers, und Frau Jordy konnte sich nicht darüber beruhigen, wie man einen so wütenden Hunger haben könne, wenn man nicht für zwei äße.
Sie nahm ihre Freundin beiseite und fragte sie nach tausenderlei verschiedenen Dingen; das Resultat der Unterredung war, daß man den Arzt zu Rate ziehen müsse.
»Stören wir?« fragte Gaston, der wieder umgekehrt war.
»Nicht im geringsten,« erwiderte Frau Jordy; »wir sprachen gerade von Stoffen.«
»Nun ja, weshalb nicht; Sie wissen ja doch, daß wir an einer Kinderausstattung arbeiten.«
»Nun und –?«
»Da ist uns eine ernsthafte Besorgnis gekommen.«
»Und welche, wenn ich fragen darf?«
»Wir fürchten, statt einer zwei machen zu müssen.«
Trotzdem Gaston ein kräftiger Mann war, fühlte er, daß seine Kniee unter ihm zitterten. Er schlug vor, sich sofort wieder zum Wagen zu begeben und zum Arzt zu fahren.
»Wie glücklich bin ich,« sagte Lucile. »Wenn der Doktor ja sagt, schreibe ich morgen an Mama.«
An demselben Tage stieg Frau Benoît um zehn Uhr morgens in die berühmte Staatskutsche, welche endlich, freilich mit verändertem Wappen, fertig geworden war. Ehe sie das kleine Samttreppchen betrat, das die Stelle des Wagentritts einnahm, betrachtete sie vergnügt die Freiherrnkrone und das Wappenschild der Subressac. Dem üblichen Gebrauch entgegen holte die Braut den Bräutigam ab. Leichten Schrittes stieg sie bis zum vierten Stock hinauf, klingelte und stand zwei in Thränen schwimmenden Dienstboten gegenüber: Der Baron war in der Nacht plötzlich gestorben.
Die arme Braut empfand den niederschmetternden Schmerz der Kalypso, als sie hörte, daß Odysseus von ihr gegangen war. Sie verlangte zu sehen, was von dem Baron noch übrig war; berührte seine kalte Hand und setzte sich vernichtet, stumm und thränenlos an seinem Bette nieder. Beim Anblick dieser Verzweiflung mußte der alte Kammerdiener, welcher die Liste der Liebschaften seines Herrn auswendig kannte, sich gestehen, daß ihn niemand so geliebt habe, als Frau Benoît. Frau Benoît traf die Vorbereitungen zum Begräbnis des Barons, Frau Benoît stellte die Zukunft seiner alten Dienstboten sicher, und schließlich sagte sie: »Es ist meine Sache, seine Schulden zu bezahlen, bin ich nicht vor Gottes Augen seine Witwe?«
Sie beschloß, um ihn zu trauern, und fuhr mit auf den Kirchhof. Das ganze Faubourg beteiligte sich an dem Begräbnis. Als sie die lange Reihe von Wagen hinter dem ihren herfahren sah, brach sie in Thränen aus und rief schluchzend: »O mein Gott, wie unglücklich bin ich! All diese Leute würden bei mir getanzt haben!«
Als sie, vernichtet von der Last ihrer Schmerzen, in ihre Wohnung zurückkehrte, wurde ihr folgender Brief übergeben:
»Liebe Mama!
»Dies ist der sechste Brief, den ich Dir schreibe, ohne auch nur eine Zeile zur Antwort bekommen zu haben; diesmal aber bin ich meiner Sache gewiß. Ich will Dir nicht noch einmal sagen, wie lieb wir Dich haben und wie sehr wir bedauern, Dich gekränkt zu haben, noch daß Du uns fehlst und daß wir angefangen haben, uns abends ein Kaminfeuer zu machen, an dem der Anblick Deines leeren Stuhles uns Thränen in die Augen treibt, denn Du hast all diesen Gründen widerstanden, und es bedarf siegreicherer Argumente, um Dich umzustimmen. So höre denn: Wenn Du gut sein willst und zu uns kommst, verspreche ich Dir als Belohnung – ein Enkelchen! Dir unser Glück zu schildern versuche ich gar nicht erst; es ist weit besser, Du kommst, siehst und teilst unsre Freude.
Lucile von Outreville.«
»Hallo, ein Enkel!« rief Frau Benoît, »und wenn es nun eine Enkelin würde!«
Sie lief an den Kamin und sah in den Spiegel.
»Ich bin zweiundvierzig Jahre alt, in sechzehn Jahren muß meine Enkelin in die Gesellschaft eingeführt werden; ihre Eltern werden Arlange niemals verlassen, wer sollte sie in das Faubourg begleiten – natürlich ich! Die süße Kleine! ich habe sie schon von Herzen lieb! Ich werde mit meinen achtundfünfzig Jahren noch jung sein und nicht die Thorheit begehen, in der Zwischenzeit zu sterben, wie gewisse alte Dummköpfe. Auf nach Arlange!«
»Gnädige Frau,« unterbrach Julie, »es ist jemand aus dem Modemagazin der Reine Artémise mit Trauerstoffen da.«
»Schicke ihn fort. Will man sich etwa über mich lustig machen? Der Baron war mir nichts. Ich habe keine Lust, eine lächerliche Trauer zur Schau zu tragen.«
»Aber, gnädige Frau – gnädige Frau sagten doch – –«
»Fräulein Julie, wenn Ihre Herrin etwas sagt, schickt es sich nicht, mit einem ›Aber‹ zu kommen. Du denkst wohl, ich sei für mein ganzes Leben an dich gebunden, weil ich deine Fehler fünfzehn Jahre lang ertragen habe? Es ist ganz dieselbe Geschichte wie mit deinem treuen Freunde Pierre, der deinem guten Beispiel folgt und auch nur immer nach seinem eignen Kopf handeln will. Ihr habt mir schlecht genug gedient, und was das Schlimmste daran ist, ihr habt euch alle beide gröblich gegen die Marquise von Outreville vergangen. Sage mir nicht etwa, daß das auf meinen Befehl geschehen sei. Thatsache ist, daß meine Tochter keins von euch beiden wiedersehen will, und da ich nach Arlange zurückkehre –«
»Ich verstehe; gnädige Frau strafen uns dafür, daß wir der gnädigen Frau gehorsam gewesen sind.«
Auf diese Weise verabschiedete Frau Benoît ihre Verbündeten, bevor sie den Frieden unterzeichnete.
Zwei Tage später leuchtete ihr Lächeln über Arlange.
Sie sprach kein Wort von der Vergangenheit; sie enthielt sich jeglicher Beschuldigung und versöhnte sich aufs aufrichtigste mit ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn; es hätte nicht viel gefehlt, daß sie ihr Unrecht eingeräumt hätte.
»Wie gut ihr hier aufgehoben seid, meine Kinder,« sagte sie. »Bleibt nur recht lange, bleibt für immer hier! Gaston hatte ganz recht, das Landleben zu preisen, denn nur auf dem Lande kann man sich wohl fühlen und eine gesunde Familie aufziehen. Schenkt mir nur recht viele Enkelchen; ich werde mich niemals über zu viele beklagen. Die Ausstattung deiner Töchter übernehme ich, richte dich darauf ein, Lucile. Begreift ihr, daß es Menschen gibt, die eine übertriebene Vorliebe für Paris haben? Es ist eine ganz entsetzliche Stadt; ich habe nichts als Katzenjammer dort gehabt, und werde nur nach Paris zurückkehren, um meine Enkelinnen in die Gesellschaft einzuführen.«
Sieben Monate später wurde die Marquise von einem Knaben entbunden. Er wurde Frau Jordys Pate, da Frau Benoît sich geweigert hatte.
»Ich warte auf die Mädchen,« sagte sie.
In den zehn Jahren, welche seitdem verflossen sind, hat Lucile ihrem Manne sieben Kinder geschenkt. Sie ist ein wenig stärker geworden, ohne dabei im geringsten von ihrer Grazie verloren zu haben. Gaston ist den beiden Leidenschaften seiner Jugend treu geblieben; den größten Teil seiner Zeit widmet er Lucile, den übrigen der Wissenschaft. Sein Hüttenwerk gedeiht ebenso vortrefflich wie sein Haus. Er hat die Fortschritte der Hüttenkunde eifrig gefördert und den Preisrückgang des Eisens beschleunigt; dank seiner Energie ist die Tonne Schienen von dreihundertsechzig Franken auf zweihundertfünfundachtzig gefallen, und er hat es nicht aufgegeben, sie noch auf zweihundert zu bringen, wie er es einst seinem Freunde, dem Ingenieur der Salzwerke, versprochen.
Im übrigen ist der Marquis von Outreville ein schöner Hüttenmeister, der nicht älter als dreißig Jahre aussieht; die Jahre haben wenig Gewalt über glückliche Menschen!
Frau Benoît dagegen ist eine kleine, alte, verfallene, magere, runzlige und verdrießliche Frau, sich selbst und andern unerträglich; sie hat vergeblich auf das kleine blonde Haupt gewartet, auf das sie ihre letzten Hoffnungen gegründet. Die sieben Kinder des Marquis sind sieben pausbäckige Taugenichtse, welche sich von morgens bis abends im Staube herumwälzen, ihre Jacken an den Ellbogen und ihre Hosen an den Knieen durchscheuern, die im Winter Frostbeulen, und das ganze Jahr hindurch rote Hände haben, und ganz allein ihren Weg ins Faubourg Saint Germain finden werden, wenn es sie einst gelüsten sollte, das Paradies ihrer Großmutter zu sehen.
Gabriele Auguste Eliane aber starb wie Moses auf dem Berge Nebo, ohne einen Fuß in das gelobte Land gesetzt zu haben.
Ende.