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Meo tröstete sich ein wenig mit dem Gedanken, daß ihm noch vierzehn Tage blieben, um alles wieder gut zu machen. Emma hatte ihm Bitterlins Reiseplan mitgeteilt. Er wußte jetzt, in welchen Gasthöfen sie absteigen würden, wann sie auf dem Gipfel des Rigi übernachten und um wie viel Uhr sie im Angesichte des Rheinfalls speisen wollten.
In diese süße Sicherheit eingewiegt ließ er den Hauptmann mit seiner Tochter in den Omnibus des Gasthofes zu den drei Königen einsteigen und nahm selber eine Droschke gemeinsam mit seinem neuen Freunde.
»Nicht wahr,« sagte er alle Augenblicke zu diesem, »sie ist das reizendste Geschöpf auf Erden?«
»Ja, ohne Zweifel,« antwortete der Vertraute, »Sie sieht sogar der kleinen Rosalie vom Ballettcorps ähnlich; aber noch niedlicher!«
»Sie haben versprochen mir beizustehen; Ihre Gegenwart wird meinen Mut erhöhen. Im Namen Ihrer Geliebten, verlassen Sie mich nicht!«
»Ach, lieber Herr, Sie haben nicht nötig, so viele Leute zu beschwören. Ich gehe in ein Land, wo man immer noch zu früh ankommt; also je länger wir unterwegs sind, um so besser ist's für mich,«
Sie durchzogen zusammen die Stadt des Erasmus und Holbeins, ohne darauf zu achten, ob sie schöne oder häßliche Gebäude hatte. Der eine dachte an seine Geliebte, der andere dachte an gar nichts.
Der Gasthof zu den drei Königen ist die größte Karawanserai in der Schweiz. Die Reisenden ziehen zu Hunderten in den gewaltigen Speisesaal ein, der über den Rhein hinausgebaut ist, Meo und sein Gefährte fanden daselbst nicht bloß die Gesuchten, sondern alle ihre Mitreisenden von der Nacht. Bei Schweizerreisen ist es eine sehr große Annehmlichkeit, zuweilen aber auch eine große Plage, daß man den ganzen Weg entlang stets dieselben Leute wieder antrifft. Man möchte sagen, daß die Touristen jedes Landes gewissermaßen durch eine Strömung immer in derselben Richtung getrieben werden.
Der Engländer und der Amerikaner speisten jeder für sich und kehrten einander den Rücken. Das junge deutsche Paar war eben von seinem Zimmer herabgekommen, Auge in Auge, Hand in Hand. Sie setzten sich nebeneinander und die blonde und niedliche junge Frau setzte ihren etwas großen Fuß leise auf den Stiefel ihres Gatten. Beim Essen hielten sie sich umschlungen, nur als man die Forellen auftrug, mußten sie die Umarmung lösen, weil man da beinahe vier Hände braucht, um die Gräten zu beseitigen.
Bitterlin hatte noch nicht auftragen lassen. Er spazierte aus dem Saale auf die Terrasse, ohne einen Platz zu wählen oder sein Essen zu bestellen. Der Kellner, der Oberkellner und der Hoteldirektor bemühten sich um ihn, ohne ihn zufrieden stellen zu können. »Verstehen Sie mich recht,« sagte er ihnen, »ich will speisen, nicht wie ein Schlemmer, dessen Bauch sein Gott ist, oder wie dieser Herr da hinten, der wie ein Ochs an der Krippe aussieht. Natürlich muß ich mich stärken, da ich die Nacht im Wagen zugebracht habe und heute noch weiter zu reisen gedenke. Auf das Geld kommt es mir nicht an; ich wandere nicht umher um zu knausern; wenn man seine Groschen aufsparen will, ist's das beste, man bleibt zu Haus. Ich würde mich schämen, so zu frühstücken wie dieser große Lümmel von Student, der ein Butterbrot in seinen Milchkaffee eintaucht.«
»Mein Herr,« sagte der Hoteldirektor, »wir haben Lachs, Forellen, Krebse, auch ...«
»Ist denn Euer Fisch wenigstens frisch? Nämlich Ihr habt die Gewohnheit den Reisenden Karpfen aus der Arche Noah vorzusetzen. Außerdem, beim Fisch ist die Hauptsache die Sauce, und Ihr da versteht gar nie eine Sauce zu bereiten! Das ist eine Kunst der Franzosen; die Tölpel Eurer Art begreifen das nicht und kurzum, Euren Fisch könnt Ihr für Euch behalten!«
Der Oberkellner fiel ein: »Von Wild haben wir Rehe, Gemsen, Hasen, Rebhühner; die Jagd ist heute Morgen eröffnet.«
»Nun dann, danke für Euer Wild. Heute Morgen geschossen! Das könnte mir passen! Warum bietet Ihr mir nicht lieber gleich Eure Stiefelsohlen an?«
»An geschlachtetem Fleisch,« fuhr der Oberkellner fort, »gedünsteten Hammel, gebratenen Hammel, Rindsfilet, Kalbsnieren, Naturschnitzel, Koteletten mit Kräutern, Hammelrücken ...«
»Ja, und ich wette, daß alles mit Zwiebeln gestopft ist; das ist Eure Leidenschaft hier zu Lande! Ihr seid all die Gleichen! Kein Gericht ohne Zwiebeln!«
Er trat an einen harmlosen Reisenden heran, der mit gutem Appetit Entenbraten mit Zwiebeln verzehrte.
»Mein Herr,« sprach er, »mit diesem Zeuge da wollen Sie sich nähren?«
»Aber, Herr ...«
»Vielleicht sagen Sie noch, daß das ein köstliches Gericht ist?«
»Herr! ...«
»Ich verbiete Ihnen nicht, das zu sagen; Ansichten sind frei; um so mehr als das Volk in diesen Kantonen sich den Luxus einer Republik gestattet hat. Aber Sie werden mir erlauben, meinerseits öffentlich zu erklären, daß man einen sehr verdorbenen Geschmack haben muß, ja ich sage einen plebejischen Geschmack, um solches Gemengsel hinunter zu schlingen und gut zu finden!« Er wandte sich dann an den Oberkellner, der ihn mit aufgerissenen Augen anstaunte, und sprach: »Nach richtiger Überlegung, setzen Sie uns vor, was Sie wollen und wo Sie wollen! Im Kriege geht's nur nach Kriegsgebrauch!«
Man lud ihn nun ein, an einem Tische Platz zu nehmen. Seine Tochter, von dem Skandal etwas niedergeschlagen, setzte sich vor ihn hin und warf Meo einen melancholischen Blick zu. Der Kellner näherte sich und fragte, was für Wein sie verlangten. Er antwortete: »Können Sie mir den geben, den ich zu Hause in der Vogesenstraße trinke? nein. Also, ich mag nur solchen. Wir wollen hier Wasser trinken.«
Die guten Leute vom Hotel setzten ihm ein reichliches Mahl vor, große Stücke und sehr fett, wie man sie nur in diesem Schlaraffenlande bekommt. Er klagte, die Butter sei nicht frisch; hier – in der Schweiz! Ein Teller schien ihm von zweifelhafter Reinlichkeit, er warf ihn dem Kellner an den Kopf und fügte zur Erläuterung bei: »Ich bin sonst nicht delikat; ich habe Pferdebouillon aus einem Kürassierhelm getrunken. Aber hier stelle ich die große französische Armee vor; und wer es mir an Respekt fehlen läßt, beleidigt diese. Du siehst da unten den Fluß an eurer Bude; der hat mir gehört; ich habe ihn mit meinen Kameraden erobert. Darum thu' mir den Gefallen und schiebe sogleich ab, Faulenzer!«
Meo erspähte eine Gelegenheit, für seinen Schwiegervater einzutreten; aber er urteilte mit richtigem Bedacht, daß der Augenblick nicht günstig wäre. Alles was er ziemlicherweise thun konnte, war, ihm ein Trosteswort zuzusprechen beim Nachtisch. Er ging wie zufällig an ihm vorbei, grüßte mit seinem süßesten Lächeln und sprach: »Ich fürchte sehr, mein Herr, Sie haben in dieser Kneipe schlecht gespeist.«
Bitterlin erhob das Haupt und antwortete mit hochmütiger Miene: »Kneipe, Herr! Selbst Kneipe! Wäre das eine Kneipe, so hätte ich hier nichts gegessen.«
»In der That,« erwiderte Meo, »ich bin selber überrascht gewesen. Ich hätte nie geglaubt, eine so erträgliche Küche bei den Tölpeln in diesem Lande zu finden.«
»Herr,« entgegnete der Hauptmann und trat dabei vor ihn hin, »die Tölpel sind nicht alle Schweizer. Habe die Ehre glückliche Reise zu wünschen.« Meo verwirrte sich in Danksagungen für die bezeugte Teilnahme. Der Hauptmann wandte ihm den Rücken.
Eine Stunde später fand sich unsere ganze Reisegesellschaft ohne Verabredung im Baseler Museum wieder zusammen. Jeder spazierte für sich und that dabei, als ob er die andern nicht kenne; so ist es ja Gebrauch bei wohlerzogenen Reisenden. Dem deutschen Paare gelang es vor einer schönen Landschaft von Calame sich ganz verstohlen einen Kuß zu geben. Dem dicken Engländer gefiel besonders eine niedliche kleine mittelalterliche Statue, und zum Angedenken brach er ihr einen Finger ab. Dann kam der Amerikaner dazu und entführte die verstümmelte Hand nebst einem Stück des Vorderarms. Der Pariser Jüngling hielt sich vor den Meisterwerken Holbeins auf und war der Meinung, dieser göttliche Meister habe etwas von Courbet, stehe aber noch höher. Meo sah nichts als den Kopf eines jungen Mädchens, eingerahmt in Emmas Strohhut. Endlich Herr Bitterlin hatte sein Vergnügen daran, seiner hübschen Begleiterin zu beweisen, daß in den Galerien keine rechte Ordnung herrsche und in den Katalogen keine Übersichtlichkeit. Schließlich waren sie alle sehr befriedigt.
Als der Aufseher im Museum die Ausgangthür öffnete, glaubte Meo sich gefällig zu zeigen, wenn er für die ganze Gesellschaft bezahle; aber der Hauptmann, dem seine Weise allmählich auf die Nerven gefallen war, fragte ihn trocken, ob er die Absicht hätte, jemand zu beleidigen.
Noch nicht vierundzwanzig Stunden kannte der liebe Hauptmann Meos Gesicht, und seine Abneigung gegen ihn hatte sich schon sehr ausgewachsen. Dagegen fühlte er sich hingezogen zu dem Pariser, der ihn sehr von oben herab behandelte. Mißratene Naturen sind mit solchen Sonderbarkeiten behaftet.
Die Schweiz ist in der Kultur sehr vorangeschritten; die jäh aufsteigenden Berge sind keine Grenzpfähle, die den Fortschritt abwehren. Auf den Seen Wilhelm Tells sieht man buntbewimpelte Dampfschiffe hin und her fahren. Den Telegraphendraht trifft man in den wildesten Gebirgsschluchten! auf den Holzhäuschen sind Blitzableiter und der Pfiff der Lokomotiven mischt sich fast überall mit den gewaltigen Stimmen der Natur. Meo bediente sich des Telegraphen, um für sich und für die Familie Bitterlin Zimmer zu bestellen; das kostete ihm fünfundzwanzig Worte und zwanzig Sous; und dafür war er sicher, in Emmas Nähe zu speisen und zu schlafen. Der Hauptmann aber sah in dieser Bedienung Zauberei und fluchte gegen die unbekannte Vorsehung, die ihn des Vergnügens beraubte zu kommandieren. Die fortwährende Nachbarschaft des Italieners wurde ihm von Tag zu Tag unleidlicher. Er fand ihn in allen Eisenbahnwagen und in allen Gasthöfen schon vor, wie sehr er sich auch Mühe gab ihm auszuweichen. Oft ließ er ihn in einen Wagen einsteigen und lief mit seiner Tochter an das andere Ende des Zuges. Gänzlich vergebens! zehn Minuten nachher setzte sich Meo an seine Seite und pries ihm die Schönheiten der Gegend. Der Bau der schweizer Wagen begünstigt dieses Manöver; sie sind nämlich durch eine Art von Gang miteinander verbunden, so daß die Reisenden ungefährdet von einem Ende des Zuges zum andern gehen können.
Am Samstag Abend logierte unsere ganze Gesellschaft in Olten, dem Centralpunkte der schweizer Bahnen. Als der Wirt das Fremdenbuch brachte, schrieben sich die uns bekannten acht Personen folgendermaßen ein:
»Bitterlin, Hauptmann erster Klasse, Ritter der Ehrenlegion u. s. w.; Paris. Nebst Tochter.
»Bartolomeo Narni, Flüchtling; Paris. Ist sehr glücklich, in guter Gesellschaft zu reisen.
»Arthur Le Roy, Hausbesitzer; Paris. Amor, du hast Troja zerstört!
»Friedrich Möhring, Partikulier; Berlin. Reist zusammen mit seinem teuersten Besitz:
O Berge, blauer See, o Blümlein auf den Wiesen,
O Nachtigallensang; und ich bin bei Luisen!»Thomas Plum; London.
»Georges Wreck, Esq.; New York.«
Hernach kam nun jeder, der sich eingeschrieben hatte, einzeln und ganz heimlich zurück, um Namen und Stand seiner Reisegefährten zu erfahren. Als dabei der dicke Mister Plum sah, daß der Amerikaner sich den Titel Esquire beigelegt hatte, bezeugte er eine unbändige Heiterkeit und brach in ein so krampfhaftes Gelächter aus, daß ihm ein Westenknopf absprang.
Man begab sich zur Ruhe, ohne die Umgegend anzuschauen. Der Himmel war trübe und es regnete im Thale, während es auf den Berggipfeln schneite, Bitterlin hatte sich Baumwolle in die Ohren gestopft; dennoch hörte er vor dem Einschlafen eine schöne Baritonstimme mit ausgeprägter Betonung singen:
Du fliehst mich vergebens;
Hab', Teure, Geduld!
Denn das Ziel meines Lebens
Ist nur deine Huld!
Folgenden Tages speiste man im Schweizerhofe zu Luzern, am Ufer des Vierwaldstätter Sees. Das Wetter hatte sich gebessert; auf klarem Himmel zeichnete sich die Silhouette der mittelalterlichen Stadt ab; über den blauen See flogen die Dampfschiffe hin. Wohlgenährte Kuhherden weideten an den Ufern das feuchte Grummet ab; am Horizont stiegen die schneebedeckten Berge auf. Die wohlhabenden Schweizer mit ihren langen Füßen stolzierten im Sonntagsstaat vor dem Hotel, und einige hübsche Engländerinnen stiegen die Treppe hinauf, wobei sie ihre roten Unterröcke bewundern ließen. Herr Arthur Le Roy fand, das Land gliche dem Boulogner Wäldchen, nähme sich fast noch besser aus. Der Hauptmann knurrte über die Forellen, die ihn bei jeder Mahlzeit verfolgten; Emma und Meo verschlangen sich mit den Augen und führten keine Klage über das Essen. Herr Möhring und seine Frau waren durch eine Flasche Rheinwein angeheitert und jagten sich auf den Treppen mit der den Deutschen ganz eigentümlichen lärmenden Fröhlichkeit. Als ihre Zimmerthür längst geschlossen war, hörte man sie immer noch. Mister Plum besuchte ein Magazin von schweizer Waren im Erdgeschoß des Gasthofes. Er kaufte einen langen, eisenbeschlagenen Stock, am oberen Ende mit einem Gemshorn geziert, und ließ dann die Namen aller schweizer Berge darauf einbrennen. Mister Wreck beeilte sich das nachzuthun und fügte auf seinem Stock noch die Namen des Vesuv, des Himalaya und des Cotopaxi hinzu. Diese hölzernen Denkmäler, lügenhaft wie die Obelisken, sollten der bescheidenen Besteigung des Rigi dienen.
Gegen zwei Uhr schiffte man sich ein und stieg am Fuß des Berges in Weggis aus. Dank dem schönen Wetter hatte sich der kleine Trupp um etwa zwanzig Reisende vermehrt und im Hafen Weggis gab es einen schönen Wirrwarr. Die Führer, welche die Einwohnerschaft des Dorfes ausmachen, waren mit allen Tragstühlen und allen Pferden, die sie auftreiben konnten, herbeigeeilt, aber man sah beim ersten Blick, daß das lange nicht ausreichen würde. Man zankte in allen Sprachen von Europa, einige Stöcke wurden auf einigen Hüten abgeschlagen, und Meo hoffte einen Augenblick, er würde Gelegenheit haben, Herrn Bitterlin zu verteidigen. Aber der Hauptmann gehörte zu denen, die Schläge austeilen; er wurde auch vor allen andern bedient. Er bestieg ein Pferd und jagte über das Schlachtfeld, wobei er seinen Regenschirm schwang, wie das Schwert Karls des Großen. Er versuchte sogar einigemal das arme Tier sich bäumen zu lassen, in Erinnerung an ein berühmtes Gemälde von Gerald. Seine Tochter wurde durch die Bemühung Meos und des Herrn Le Roy auf einen Tragstuhl gesetzt. Die beiden Kavaliere verloren sich dann in der Menge, aber bald sah man sie auf englischem Sattel hoch über der Masse der Kämpfer thronen. Herr Möhring und seine geliebte Luise hatten sich still beiseite gehalten und genossen vor einem Wirtshause sitzend das Schauspiel der erregten Menge; die Tauben mischen sich nicht in die Kämpfe der Geier. Leider fehlten ihnen die Flügel, um sich auf den Berg zu schwingen; sie mußten zu Fuße gehen. Der Engländer und der Amerikaner schienen demselben Lose verfallen zu sein und Mister Plum schwitzte schon bei dem Gedanken. Er maß mit melancholischem Blicke die langen Beine seines Rivalen und dachte mit Schmerz, Alt-England würde von den Wilden der Neuen Welt überholt werden. Aber vier Leipziger Studenten, die gute Gründe hatten zu Fuße zu reisen, gewahrten plötzlich einen ihrer Kameraden auf dem schönsten Pferde von Weggis, und das mißfiel ihnen sehr. Sie hängten sich an die Beine des Aristokraten und zogen ihn kräftig vom Sattel herab. Diese Volksbewegung beobachtete Mister Plum, sprang wie ein Gummiball hinzu und nahm den Platz des jungen Fremden ein. So haben die Engländer stets die Umwälzungen des Festlandes zu ihrem Vorteil ausgebeutet. Der Amerikaner zuckte mit den Achseln und setzte sich mit raschen Schritten in Bewegung; er brauchte kein Pferd, um vor einem dicken Engländer auf dem Gipfel des Berges anzukommen.
Die Reiter, die Fußgänger und die Tragstühle setzten sich nun in malerischer Unordnung in Bewegung auf einem bequemen und sicheren Wege. Der Rigi ist jedem Franzosen bekannt, der lesen gelernt hat: Alexander Dumas hat eine der reizendsten Scenen seines Meisterwerkes dorthin verlegt. Aber der liebenswürdige Verfasser der »Reiseeindrücke« hat die Gefahren der Besteigung und die Majestät des Ortes vielleicht übertrieben, Genau gesprochen, ist der Berg nur ein Hügel von zweitausend Meter Höhe, der mitten in einem Amphitheater von Bergen steht; eine Loge im ersten Rang für die Betrachtung des Sonnenaufgangs, die man aber mittels einer guten Treppe ersteigt.
Herr Bitterlin ritt an der Spitze der Gesellschaft, das ist die Pflicht des braven Hauptmanns. Meo folgte ihm Schritt für Schritt und war Zeuge seiner Übungen in der hohen Schule. Er rechnete darauf, daß die Bewunderung, diese Kupplerin schöner Seelen, ihm endlich den Eingang zu dem unlenksamen Alten bahnen würde. Er gab es auch noch nicht auf, ihn am Rande eines Abgrundes aufzufangen. Aber die gefährliche Stelle ließ auf sich warten, und Bitterlin war nicht in der Laune zur Bewunderung. Jedesmal, wenn der Führer die Karawane an einem berühmten Aussichtspunkte halten ließ, murmelte der Hauptmann: »Närrisches Land! ich habe doch noch ganz was anderes gesehen!« Meo war aufrichtig begeistert. Das große Naturschauspiel fand bei ihm eine wohlvorbereitete Seele, denn die Verliebten sind die nachsichtigsten Kritiker, sie empfinden Wohlwollen für die ganze Natur. Aber jedesmal wenn er seinen Gefühlen Ausdruck zu geben versuchte, pfiff der Hauptmann oder grinste und spornte sein Pferd wütend an. Emma bildete mit fünf oder sechs andern Damen die Nachhut. Das arme Kind sah in der ganzen Landschaft nur den Rücken des Vaters, der dem Gesichte ihres Geliebten zugekehrt war.
Nach vierstündigem Marsche sah man in der Ferne Rigi-Kulm, das heißt den Gipfelpunkt des Rigi. Diesen Gipfel nehmen zwei Kasernen ein; die eine ist die, wo A. Dumas schlecht gespeist hat in Gesellschaft des berühmten Aleide Jolivet; die andere ist ein Ergänzungsbau, zweimal so groß als der erste. Zur Not finden dort dreihundert Reisende Bett und Verpflegung, und man ist nicht mehr gezwungen einen Pair von England zu töten, um Leichen zu speisen; das ist der Fortschritt des Jahrhunderts!
Die einzige Plage, der man noch auf diesen schroffen Höhen unterworfen ist, ist die Kälte. Herrn Bitterlins große Nase färbte sich blau in der Nähe der Herberge. Sein Pferd glitt zuweilen aus auf dem vom Schnee durchnäßten Boden. Mehr als einmal hüllte auch eine düstere und eisige Wolke ihn von Kopf bis zu Fuße ein; dann nieste er gleich den Trompeten des Jüngsten Gerichts. Meo vermeinte in seiner Weisheit, der Augenblick wäre gut gewählt, um diesen lebenden Felsen zu erweichen. »Ehrwürdiger Greis,« sagte er, »ich bin sehr froh, mit Ihnen diese erhabenen Höhen zu bereisen. Glücklich, wer hier leben könnte, fern von der Welt, bei einem mit Erfahrung gesegneten Vater und neben einer angebeteten Gattin! Mein Ehrgeiz hat nie nach etwas anderem verlangt; Gold und Ehre sind meine geringsten Sorgen, und eine solche Glückseligkeit würde mir fürs ganze Leben genügen; das beteure ich bei Ihrem Silberhaar!«
»Zum Kuckuck, Herr,« antwortete der Hauptmann lebhaft, »ich bin noch keine Mumie; Sie thäten besser, Ihre Komplimente für sich zu behalten. Sie schwatzen da verrückten Kohl, junger Freund!«
»Aber, lieber Herr ...«
»Ei was! ein für allemal, thun Sie mir den Gefallen: was sollen diese Manieren? Lieber Herr! lieber Herr! Das ist bald gesagt! Habe ich Sie denn um Ihre Freundschaft gebeten? Sind wir etwa Kriegskameraden gewesen? Haben Sie in der vierten Compagnie des zweiten Bataillons des 104. Regiments gedient? Ich kenne Sie ja gar nicht; begegne Ihnen jetzt zum erstenmal; wir sind nicht einmal Landsleute! Und dann ...«
»Ach Herr,« stotterte Meo, »die Zuneigung läßt sich nicht kommandieren. Das Gefühl, die Freundschaft, die Liebe ... ich will sagen die Dankbarkeit ...«
»Dankbarkeit wofür? Ich könnte Ihre Manieren noch verstehen, wenn Sie etwa Absichten auf ... O, ich weiß schon. Wirklich, das ist möglich, obgleich Sie nur mir den Hof machen. Sollten Sie sich in den Kopf gesetzt haben ...? Wäre das der Fall, so müßten Sie es gleich sagen.«
»Mein Herr ...«
»Ja, Sie müßten es sagen; denn ich würde Sie unverzüglich da in den Abgrund hinunterwerfen!«
Meo beteuerte, daß er diese Sprache gar nicht verstände, und fügte mit einschmeichelndstem Tone hinzu: »Herr, ich begreife Ihren Verdruß und habe Mitgefühl für alles, was Sie gelitten haben. Ohne Zweifel hat das Unglück Sie verbittert. Gleich zuerst, als ich die Ehre hatte Sie zu treffen, habe ich in Ihnen einen vielgequälten Mann geahnt, in dem die Schmerzen unauslöschliche Narben der geschlagenen Wunden zurückgelassen haben, Ihre Verdienste hat man wohl verkannt, Ihre Tapferkeit vergessen, Ihr Vertrauen mit Verrat belohnt!«
Bei dem letzten Worte richtete der Hauptmann sich hoch im Sattel auf und betrachtete Meo mit durchbohrendem Blicke. »Junger Mensch,« schrie er, »ich befehle Ihnen, sich näher zu erklären! Was wissen Sie? Was haben Sie gehört? Wer versucht es, mich lächerlich zu machen? Wenn ich glauben müßte ... Aber nein! er ist ganz stumpfsinnig; er weiß selbst nicht, was er sagt. Immerhin doch! Herr, sind Sie jemals nach Briançon gekommen?«
»Nein, Herr.«
»Nach Straßburg?«
»Nein, Herr, niemals.«
»Seit wann wohnen Sie in Paris?«
»Ich bin 1850 dahin gekommen.«
»Haben Sie die selige Frau Bitterlin gekannt?«
»Ich schwöre Ihnen, nein.«
»Warum schwören Sie? Die Bekanntschaft mit ihr war also verdächtig?«
»Herr, ich weiß nicht, ich ...
»Wie? Sie wissen nicht! Sie zweifeln auch! Ich sehe wohl aus, wie ein genarrter Ehemann?«
Der arme Bursche erschöpfte sich in Beteuerungen seiner Hochachtung, zog den Hut ab, griff sich in die Haare und weinte sogar; aber er kam im Gasthofe an, ohne in Bitterlins Freundschaft Fortschritte gemacht zu haben.
Auf dem Rigi waren zweihundert Personen versammelt, um die Sonne anzubeten. Der Gott mit dem Silberbogen, der Gott des Zoroaster und des Chryses hat in ganz Europa keinen stärker besuchten Tempel als hier. Die Reisenden kommen aus allen Weltgegenden zusammen und der Wirt kassiert ihre Opfergaben mit frommer Miene ein. Die Glut der Andacht dieser Gläubigen ist so mächtig, daß mehr als Einer acht Tage lang im Schnee und Regen umherpatscht, um nur einen Blick seines Gottes zu erhaschen. Unsere Karawane brauchte nicht so lange zu warten. Die Sonne, die sich vier Tage lang nicht gezeigt hatte, geruhte vor aller Augen sich zu Bett zu legen.
Bitterlin war von diesem Schauspiel, dem erhabensten, welches die Natur für eine dichterische Beschreibung darbietet, nur sehr mäßig erbaut. Er dachte an seine Selige und brütete in seinem Gehirn schwarze Gedanken aus. Emma und Meo sahen auf der olympischen Stirn des Hauptmanns die Wolken hinziehen. Mister Wreck spazierte mit großen Schritten hin und her, um Mister Plum zu beweisen, daß er noch nicht müde wäre, und Mister Plum lächelte, als ob er sagen wollte: »Das ist mir gleich; Amerika hat doch zu Fuße laufen müssen!« Herr Arthur Le Roy betrachtete nachdenklich den Küchenschornstein und in der feierlichen Stille der Bergeshöhe war sein Ohr gespannt auf die Tischglocke. Der junge Deutsche und seine Frau hatten sich zusammen in denselben Plaid gehüllt und führten ein metaphysisches Gespräch über die Ästhetik des Erdballs.
»Freund,« sagte die Neuvermählte, »wie kommt es, daß diese Unendlichkeit mich erdrückt? Als wir in Ostende das Meer sahen, habe ich es klein gefunden. Und doch ist es auch unendlich.«
»Wer weiß?« antwortete Möhring. »Vielleicht, weil das Unendliche nach oben uns dem großen All näher bringt; während das Horizontale, so weit es sich auch ausdehnt, von der Oberfläche der Erde sich nicht entfernen kann. Die Erde findet sich wieder an den Grenzen des Oceans; über den Bergen aber ist der Himmel.«
»Sollte es nicht eher daher kommen, weil das Meer sich unter das Joch des Menschen gebeugt hat und die Schiffe, die man in der Ferne darauf sieht, gleichsam das Wappen eines Herrn sind?«
»Vielleicht, meine Teure. Vielleicht auch ist das Unendliche rein subjektiv, und dann würde sich alles leicht erklären.«
»Warum nicht gar, mein Lieber? Wäre es subjektiv, so würde es in den Grenzen des Ich eingeschlossen sein; also würde es nicht mehr unendlich sein.«
Die andern Reisenden spazierten munter in dem geschmolzenen Schnee umher und kreischten vor Verwunderung, um sich die Füße warm zu halten.
Man läutete zu Tische und zweihundert Gäste eilten in den Speisesaal. Der einzige Vorfall an diesem Abend war ein Streit, den Bitterlin mit einem Kellner hatte. »Wollt Ihr mich hier verhöhnen?« schrie der Hauptmann. »Da habt Ihr mir gestern in Basel Forellen vorgesetzt; die habe ich gegessen. Gestern Abend in Olten wieder Forellen; ich habe nichts gesagt. Heute Mittag in Luzern, zum drittenmal Forellen; ich konstatiere das; und da kommt Ihr auch noch heute Abend damit! Ihr habt Euch also verschworen, mich in eine Forelle zu verwandeln? So wenig wird hier auf meine Bemerkungen gegeben?«
Der arme Diener hielt mit stumpfsinnigem Gesicht seine Schüssel hin und ließ dabei die Sauce tropfenweise auf den Rockkragen eines schwedischen Generals herabträufeln; er verstand kein Wort Französisch. Meo, der es verstand, hielt den Moment nicht für günstig, Bitterlins Partei zu ergreifen.
Herr Möhring und Frau tranken zusammen eine Flasche »Liebfrauenmilch.« Das ist ein sehr geschätzter Rheinwein; aber Herr Le Roy hielt nicht viel davon. Er sagte Meo ins Ohr: »Kann doch nur ein Deutscher den Wein mit einem so ungereimten Namen taufen! Mir scheint, die Natur des Deutschen ist recht natürlich abgemalt in dieser Mischung von Wein, Liebe und Milch. ›Liebfraumilch!‹«
Mister Wreck saß gegenüber Mister Plum. Der Engländer ließ sich eine Flasche Bordeaux kommen; der Amerikaner forderte dieselbe Sorte. Mister Plum glaubte es dann seiner Ehre schuldig zu sein, eine Flasche Chambertin zu bestellen, Mister Wreck fackelte nicht lange, sondern trank dasselbe. Mister Plum entgegnete darauf mit einer Flasche Cliquot, Mister Wreck bot ihm wieder die Stirn, ohne zu zucken. Als man vom Tische aufstand, leerte jeder der beiden Rivalen noch eine Flasche Tokayer. Im Fremdenbuche hatte sich Mister Plum tituliert: »Sir Thomas Plum.« Mister Wreck schrieb: »Graf George Wreck.«
Man ging frühzeitig zu Bett; aber Mister Plum schlief unter dem Tische und Mister Wreck, zur Befriedigung seines Nationalstolzes, legte sich über ihn.
Die zweihundert Gäste des Rigi fingen an, einträchtig in ihren Zellen zu schnarchen, als eine lauthallende Stimme das ganze Haus erschütterte. Herr Bitterlin mit einem dreifarbigen Shawl um den Kopf, sagte einem deutschen Zimmermädchen: »Gut, Sie verstehen also kein Französisch. Sagen Sie doch einem Diener, der Französisch versteht, er soll sogleich kommen und mein Bett anders herrichten.«