Heinrich Zschokke
Ein Narr des neunzehnten Jahrhunderts
Heinrich Zschokke

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Das Gastmahl

Bei Oliviers Vorliebe zu den alten Römern und den homerischen Griechen ward ich auf dem Hingang zum Schlosse ein wenig um den Ausgang des Gastmahls bekümmert. Denn von seinem Barett, Bart und übrigen Anzug zu schließen, konnte ich nichts anderes, als eine für mich höchst unbequeme Haltung am Tisch erwarten, daß ich entweder altrömisch auf Polstern der Länge nach hingelagert, oder wohl gar schneidermäßig, auf gut orientalisch, die Beine kreuzweis untereinander geschlagen, die Suppe zu mir nehmen müsse.

Die liebenswürdige Baronin kam uns entgegen, und führte uns ins Speisezimmer. Meine Sorge ward sogleich durch den Anblick europäischer Tische und Stühle gehoben. Es waren zwölf Gedecke auf dem runden Tische. Die Gäste fanden sich auch bald ein; es waren Mägde, Knechte, Schreiber des Barons. Ein artiges junges Stubenmädchen blieb ohne Stuhl und bediente, als Hebe, beim patriarchalischen Mahle. Der Baron verrichtete, ehe wir uns setzten, ein kurzes Gebet. Dann ging's zur kräftigen Suppe. Die Speisen waren vortrefflich zubereitet, doch einfach. Ich bemerkte nur, daß außer dem Wein alle Gerichte aus Erzeugnissen des eigenen Bodens und benachbarten Meeres bestanden; daß auch sogar alle fremde Gewürze fehlten, selbst der Pfeffer, deren Stelle Salz, Kümmel, Fenchel u. s. w. einnehmen mußten.

Die Unterhaltung war heiter und allgemein; sie betraf meistens ländliche Geschäfte oder Ereignisse der Umgebungen von Flyeln. Die Leute betrugen sich in Gegenwart ihrer Herrschaft weder blöde noch unbescheiden, sondern mit vielem Anstand. Ich kam mir unter diesen hübschen bärtigen Männern in ihrer schlichten Tracht, mit ihrem brüderlichen und doch ehrerbietigen Du, – ich möchte fast sagen etwas albern, oder lächerlich vor, und saß da mit meinem Puderkopf, steifem Zöpfchen, Frack und geglättetem Kinn mitten in Europa, wie in einem fremden Weltteil. Es war mir recht wohltuend, daß, so sehr ich auch von Allen abstach, und so häufig mir auch zwischen dem Du, besonders wenn ich damit die reizende Baronin anreden sollte, ein Sie durchschlüpfte, doch Niemand zum Lachen gereizt ward.

Nach einer halben Stunde ließ uns die Dienerschaft allein; wir drei andern aber pflogen des Mahles und wurden beim alten goldenen Rheinwein traulicher im Gespräch.

»Ich sah dir's wohl an«, sagte die Baronin lächelnd zu mir, indem sie einige Leckereien von Backwerk aufstellte, »du vermissest in Flyeln die Hamburger oder Berliner Küche.«

»Und ich sehe es meiner liebenswürdigen Freundin an«, versetzte ich, »daß ich der Küche von Flyeln noch das gebührende Lob schuldig geblieben bin, das ich selbst auf Unkosten der Berliner und Hamburger Küche zollen kann, ohne eine Schmeichelei erborgen zu müssen. Nein, ich bekenne dir, zum ersten Mal in meinem Leben lernte ich bewundern, welch eine leckere Kost unser heimatlicher Boden aufrichten kann, und wie leicht wir sogar der sogenannten Molukken entbehren können!«

»Setze hinzu, Freund Norbert«, sagte Olivier, »und mit den Molukken auch die fremden Reize unserer Nerven und die fremden Laster, die sich aus dem überreizten oder abgereizten Nerven im krankhaften Leib entwickeln. Ohne gesundes Fleisch und Blut kein gesunder Sinn und Mut! Die meisten Europäer sind heut zu Tage Selbstmörder, Leibes- und Seelenmörder zugleich, vermittelst ihrer Kochkünste. Was eure Rousseau's und Pestalozzi's gut machen wollen, tötet ihr wieder mit Kaffee, Tee, Pfeffer, Muskatnüssen, Zimmet. Lebet einfach, lebet natürlich, und ihr könnet zwei Drittel eurer Predigten, Moralbücher, Zuchthäuser und Apotheken ersparen.«

»Ich geb' es zu«, sagte ich, »und man wußte das schon längst; allein...«

»Nun denn!« rief er: »eben darin besteht die bis jetzt heillose Narrheit der Europäer. Sie wissen das Bessere und meiden es; sie verabscheuen das Schlechtere und suchen es. Sie vergiften ihre Speisen und Getränke mit teuern Giften und halten Doktoren und Apotheker, sich wieder erholen zu können, um die Vergiftung zu erneuern. Sie befördern die vorschnelle Reife der Knaben und Mädchen, und jammern hintennach erschrocken über deren verwilderte Triebe. Sie ermuntern durch Gesetze und Belohnungen, ohne es zu wollen, das Sittenverderben, und strafen es hintennach mit Galgen und Schwert. Sind sie nicht allesamt den Irrenhäuslern gleich?«

»Aber, lieber Olivier, das war doch wohl von jeher so?«

»Ja, Norbert, von jeher, das heißt, so bald und so oft die Menschen sich einen Schritt weiter von der Natur entfernten zur Barbarei herüber. Wir aber, durch den Schaden der Väter endlich gewarnt, sollen nicht nur wissensreicher, als sie, sondern auch weiser sein. Wozu sonst unser Wissen? Denjenigen achte ich für den Vernünftigsten, welcher mit der Unschuld und Lebensreinheit der Naturkinder die mannigfaltige Kenntnis und Geistesbildung der Neuern vereinen kann. Gibst du dies zu, Norbert?«

»Wie sollt' ich nicht?«

»Wie, du gibst es zu? Und machst in deinem Hause und in deinem Innern nicht den Anfang des Bessern?«

»Es könnte doch unter gewissen Umständen möglich werden. Indessen bekenne ich dir, Olivier, wir Kunstmenschen, so gut, wie je die einfachsten Naturmenschen, hangen in den schwer zerbrechlichen Banden der Gewohnheit. Unser gekünsteltes Sein ist an sich selbst schon wieder eine Art Natur geworden, die wir nicht ungestraft plötzlich ablegen können.«

»Vormals dacht' ich gleich dir, Norbert. Ich habe mich des Gegenteils aus Erfahrung überzeugt. Es gehörte nur ein einziger schwerer Augenblick dazu, ein starkes Herz, den ersten Kampf zu bestehen mit der Raserei der Welt, um zur Glückseligkeit und Ruhe durchzubrechen. Ich schwankte lange, aber ich kämpfte lange vergebens. Ein bloßer Zufall entschied, und der entschied mein Glück, und das Glück meiner sämtlichen Angehörigen.«

»Und dieser Zufall? Erzähle mir auch den!« sagt' ich, denn ich war begierig, das kennen zu lernen, was unmittelbar auf Gemüt und Verstand meines Freundes so mächtig hingewirkt hatte, ihn zu den seltsamsten Grillen und zu der schwärmerhaftesten Lebens- und Handlungweise überzulocken.

Er stand auf und verließ uns.

»Nicht so, lieber Norbert«, sagte die Baronin, indem sie mich eine Weile schweigend anblickte, und es lag in dem zärtlichen Lächeln ihres Auges eine tiefe Frage an mein Herz: »du fühlst Mitleiden mit meinem Manne?«

»Nur mit den Unglücklichen, nicht mit den Glücklichen, sollen wir Mitleiden haben!« versetzte ich ausweichend.

»Vielleicht weißt du's, er ist verabscheut von seinen Verwandten, verachtet von seinen ehemaligen Bekannten, und wird von aller Welt als ein Verrückter behandelt.«

»Liebenswürdige Freundin, vielleicht einiges abgerechnet, was mir wohl Übertreibung scheint, die mit kluger Umsicht zu meiden wäre, um nicht anstößig zu werden, – dies abgerechnet, bekenne ich, fand ich bisher an Olivier nichts, was des Abscheues oder der Verachtung wert wäre. Doch ich kenne ihn noch viel zu wenig.«

»Lieber Freund«, fuhr sie fort, »und gilt dir die Stimme der öffentlichen Meinung nichts?«

»Wenigstens noch über meinen Olivier nichts«, erwiderte ich, »denn ich weiß gar wohl, daß die öffentliche Meinung Jerusalems einst zur Kreuzigung der Unschuld rief, daß die öffentliche Meinung Völkerverwüster groß nannte; daß sie Weise für Wahnsinnige hielt, und Priester der Torheit und Üppigkeit mit dem Beinamen der Göttlichen schmückte.«

»Ich freue mich!« sagte die Baronin mit einiger Lebhaftigkeit: »du wirst meinen Olivier liebgewinnen; du bist ein edler Mann, seiner Freundschaft würdig. Glaube mir, Olivier ist ein Engel, und man stößt ihn von der menschlichen Gesellschaft aus, wie einen Verbrecher oder Tollhäusler.«

Als wir noch so mit einander redeten, trat Olivier wieder zu uns. Er trug in der Hand ein kleines Buch. Mit dem warf er sich in seinen Sessel und sprach: »Sieh hier des Zufalls oder der himmlischen Vorsehung Werkzeug zu meiner Genesung von der Schwäche und zum Erwachen vom Wahnsinn. Es ist ein unbedeutendes Buch, der Verfasser ungenannt und unbekannt; es sagt viel Gemeines und Alltägliches, aber es hat zwischenein ganz unerwartete Lichtblicke. Selbst der Titel »Träumereien eines Menschenfreundes« verspricht nicht viel. Ich fand es eines Tages, da ich noch in Garnison lag, auf dem Tische eines Bekannten, und steckte es zu mir, um allenfalls etwas lesen zu können, da ich mich im freien Grünen vor den Stadttoren ein wenig ergehen wollte. Als ich draußen im breiten Schatten eines Ahorns lag und über mancherlei Verkehrtheiten des Lebens ärgerlich war, wie ich sie aus den neuesten Zeitungen wieder kennen gelernt hatte, schlug ich mein Buch auf, und es fiel mir ein Abschnitt mit der Aufschrift in die Hände: Fragment aus der Reisebeschreibung des jüngern Pytheas nach Thule.«

»Laß hören«, sagte ich, »was der alte Grieche aus Massilia von unserm Norden zu erzählen weiß. Er soll Zeitgenosse des Aristoteles gewesen sein.«

Er las:

 

Fragmente aus der Reisebeschreibung des jüngern Pytheas nach Thule. (Aus dem Griechischen.)

 

– – – Ich rede aber die Wahrheit, o Freunde, wenn schon sie auch unglaubhaft scheinen wird. Doch bedenket, daß in jenen rauhen Gegenden des Nordens die Natur selbst den Menschen durch unfreundliche Härte von sich zurückdrängt, und durch Versagungen zwingt, mancherlei Erfindungen zu machen, um das Leben erträglicher zu stellen. Denn dessen bedürfen wir in unserm Vaterlande nicht, wo die Natur gütiger gegen die Sterblichen ist, und wir Winters und Sommers im Freien wohnen, und was zur Fristung und Anmut des Daseins nötig ist, ohne Mühe gewinnen. Jene aber, die in Strenge eines halbjährigen Winters seufzen, müssen darauf sinnen, wie sie in geheizten Häusern einen künstlichen Sommer erschaffen. Und weil sie von der Natur zurückgestoßen und in sich selbst hineingebannt sind, werden sie mehr, denn wir, zur Beschäftigung des Geistes mit eiteln Träumen, schönen Entwürfen, die sie nie ausführen, und zur Erforschung alles Wissenswerten hingetrieben. Daher sind sie kenntnisreich und in allerlei Dingen vielwissend, die weder zur Weisheit und Glückseligkeit nützen, und schreiben sie große Bücher von den nichtswürdigsten Sachen, die bei uns weder geachtet, noch kaum dem Namen nach bekannt sind. Ja sie haben dafür besondere Schulen und Lehrstühle errichtet. – –

– Aber die Witterung ist auf jener mitternächtlichen Seite der Welt also beschaffen, daß Wärme und Frost, Tage und Nächte von einem Äußersten zum andern Äußersten übergehen, daß kaum ein angenehmer Mittelstand eintritt, welcher dem Geiste und dem Leibe zuträglich ist. Denn in ihren Sommern leiden sie eben so große Hitze, als in ihren Wintern von oft tödlicher Kälte; eine Hälfte des Jahres haben ihre Tage fast eine Länge von achtzehn Stunden und in der andern Hälfte kaum die Länge von sechs Stunden. Eben so unstet und ausschweifend ist auch daselbst das Gemüt des Menschen, und veränderlich wie ihre Witterung. Festigkeit der Denkart und des Willens gebricht fast allen. Sie haben von Jahr zu Jahr neue Kleidertrachten, neue Dichtungsarten und neue Weltweisheiten. Diejenigen, welche gestern die Tyrannei stürzten, begeben sich, nachdem sie das Glück der Freiheit mit dem Munde priesen und mit dem Leben mißbrauchten, morgen freiwillig in die Knechtschaft zurück. – –

– Also ist bei jenen Barbaren die größte Ungleichheit in allen Dingen. Ein Teil des Volkes, aus wenigen Familien bestehend, besitzet jede Bequemlichkeit und den größten Reichtum, und schwelget im Übermaße; aber weitaus die Mehrheit ist arm und von der Gunst der Reichen in großer Abhängigkeit. Eben so sind zwar Einzelne im Besitze aller Schätze des Wissens, aber die Menge des Volks wohnt in der unglaublichen Finsternis der Unwissenheit. Sowohl Fürsten als Priester finden solche Unwissenheit für ihr eigenes Ansehen zuträglich und halten den Pöbel in derselben fest, welcher dazu ohnehin durch Armut und Trägheit geneigt ist. Daher liebt der Pöbel bei jenen Völkern die gewohnte Weise seiner Vorfahren in allen Gebräuchen, Einrichtungen und übrigen Dingen, welche den Geist betreffen, und ist nur in Sachen körperlichen Genusses zur Veränderlichkeit geneigt. Doch pflichtet er jeder Neuerung bei, sie möge gerecht oder ungerecht sein, wenn sie ihm Geld oder häuslichen Gewinn bringt. Denn Geld und hitziges Getränk geht bei jenen Barbaren über Gewohnheit, Ehre und Gottesfurcht.

Bei den Völkern in Thule ist die Freiheit unbekannt, und welche sie vor Zeiten besessen haben mögen, die ist ihnen nach und nach durch Gewalt oder Schlauheit der Großen genommen worden. Sie werden von Königen beherrscht, welche vorgeben, sie seien Söhne der Götter, und die Könige und ihre Satrapen werden eben so oft von Beischläferinnen oder Lieblingen beherrscht, als von ihren Ratgebern. Das Volk ist in erbliche Kasten geteilt, wie bei Indern und Ägyptern. Zur ersten Kaste gehören die Könige selbst und ihre Kinder. Zur zweiten gehören die Großen, deren Kinder beim Kriegsheer und im Staat, auch beim Altar der Gottheiten die vornehmsten Ämter verwalten, ohne Rücksicht auf ihre Würdigkeit. Denn was unglaublich für uns ist, das ist bei jenen Barbaren ein Herkommen, daß die Kaste oder die Geburt höher geachtet wird, als alles andere Verdienst. In der dritten Kaste leben die geringen Beamten, die Handwerker, Kaufleute, gemeinen Krieger, die Hirten und Ackerleute, desgleichen die Künstler, Gelehrten und gemeinen Priester. In der vierten Kaste sind die Leibeigenen oder Sklaven, welche man wie anderes Hausvieh verkaufen oder verschenken kann. Bei einigen Völkerschaften, die ihre erste Rohheit schon zum Teil abgelegt haben, fehlt jedoch schon die vierte und letzte von den Kasten; eben so findet man einzelne Völkerschaften, wo gute Fürsten, welche die Gewalttätigkeit ihrer Großen erkannten, keine Gesetze mehr geben, als mit Einstimmung eines Senats, aus den verschiedenen Kasten des Volks gewählt.

Die Könige in den Ländern von Thule leben untereinander in fast immerwährender Feindschaft und Beargwohnung. Die Schwächern sind nur sicher durch den gegenseitigem Neid der Stärkern. Wo aber die Stärkern solche Eifersucht unter sich verlieren, fallen sie die schwächern Staaten, unter schlecht ersonnenen Vorwänden, mit Krieg an, und verteilen sie unter sich. Dafür lassen sie sich den Titel der Gerechten, der Väter des Vaterlandes, oder der Helden beilegen, wie denn dergleichen eitle Beinamen überall und von jeher bei den Barbaren beliebt gewesen sind. So oft aber die untere Kaste in irgend einem Lande, Gebrauch machend von bessern Einsichten, sich gegen die unmäßigen Vorzüge der obern Kasten auflehnet, setzen alle Fürsten und höhere Kasten der übrigen Reiche ihre besondern Streitigkeiten beiseite, und vereinigen sich zur Herstellung der vorigen Ordnung auf fremdem Boden, oft auf eine sehr uneigennützige Weise. Ein solcher Krieg wird bei den Barbaren immer als ein heiliger angesehen, weil sie glauben, daß die Könige und die Rangordnung der Kasten von den Göttern selbst eingesetzt worden seien.

Unter allen öffentlichen Ausgaben ist diejenige zur Unterhaltung der Pracht an den Höfen die größte, und nächst dieser ist die Ausgabe für das Heer, selbst in Friedenszeiten, die wichtigste. Für den Unterricht des Volks, für den Landbau und alles, was die Glückseligkeit der Menschen befördert, wird das Wenigste gegeben. In den meisten Ländern von Thule, wo die gewerbtreibende Kaste die zahlreichsten Pflichten und die wenigsten Rechte hat, muß diese durch Abgaben fast allgemein den Aufwand und die Bedürfnisse des gemeinen Wesens befriedigen.

Was die Religion dieser Barbaren betrifft, behaupten sie alle, von einer und derselben zu sein, und alle rühmen sich ein und desselben Urhebers ihrer Lehre. Allein die Arten ihres Gottesdienstes sind mannigfaltig verschieden, so wie die Meinungen über die Person ihres Religionsstifters. Deswegen feinden sich die Parteien mit großer Erbitterung an, und verfolgen und verachten sich. Im Ganzen findet man bei allen Parteien vielen Aberglauben, den aber die Priester selbst befördern. Vom höchsten Wesen haben sie unwürdige Vorstellungen, denn sie eignen ihm sogar menschliche Leidenschaften zu. Und wenn die Könige ihre Völker gegen einander in den Krieg führen, wird auf beiden Seiten den Priestern geheißen, das höchste Wesen anzurufen, die Gegner zu verderben. Nach erfochtenem Siege danken sie dem höchsten Wesen für das ihren Feinden gestiftete Verderben.

Ihre meisten Geschichtbücher verdienen kaum gelesen zu werden; denn dieselben enthalten gewöhnlich keine Nachrichten von den Nationen, sondern nur von ihren Königen und deren Heiraten, Erbfolgen, Kriegen und Gewalttaten. Die Namen der nützlichsten Erfinder und Wohltäter werden kaum berührt, aber die Namen der verwüstenden Feldherrn stehen überall voran, gleichsam als wenn sie die wahrhaften Wohltäter des menschlichen Geschlechtes wären. Auch sind die Geschichten dieser Völker, wegen ihrer von den unsrigen abweichenden Sitten, schwer zu verstehen. Denn bei ihnen ist weder zu allen Zeiten, noch auch zu einer und derselben Zeit, in allen Ständen einerlei Begriff von Ehre oder Tugend zu finden. In den höhern Kasten kann Unzucht, Ehebruch, Verschwendung, Spielwut, Mißbrauch der Gewalt löblich genannt werden, oder als anmutige Schwäche erscheinen, was in den untern Kasten als Laster oder Verbrechen mit Tod und Kerker bestraft wird. Wider Betrug und Diebstahl hat das Gesetz für die untern Kasten die härtesten Bußen angeordnet; wenn aber ein Großer mit anständiger Klugheit das Land betrügt, und sich auf Kosten seines Fürsten bereichert, wird er sehr häufig in Ehren erhöhet oder mit Gnadengehalten entlassen. Gleichwie in Tugenden und Lastern, ist es auch in der Ehre gehalten. Die Mitglieder der obern Kasten bedürfen keiner andern Ehre, als ihrer Geburt, alle Vorzüge zu verdienen; die Wenigsten in den untern Kasten können nur selten durch Tugenden dem Ansehen jener Günstlinge des Zufalls gleichkommen. Die Ehre aber, welche durch Zufall der Geburt entsteht, kann eben so zufällig durch ein bloßes Schimpfwort vernichtet werden. Noch seltsamer ist die Art ihrer Wiederherstellung. Der, welcher mit einem Wort die Ehre verletzt hat, und der, welchem sie verletzt worden ist, begegnen sich nach vorgeschriebenen Ordnungen wie Rasende mit Waffen, und suchen einander zu verwunden. Sobald nun eine Wunde oder der Tod beigebracht worden ist, gleichviel welchem von beiden, glauben sie aufrichtig, die Ehre sei wieder hergestellt.

Übrigens haben die Barbaren mit einander gemein, daß sie insgesamt auf Gewinn erpicht sind, und dafür ihr Leben, wie ihre Tugend, wagen. Es gehört zu den Seltenheiten, welche Erstaunen oder Gelächter erregen, wenn einer dem andern unentgeltlich arbeitet, oder sein Hab und Gut dem Wohl des gemeinen Wesens aufopfert. – Sie reden übrigens viel von edeln Gesinnungen und großmütigen Handlungen; doch sieht man dieselben nur auf den Schaubühnen unbespottet erscheinen. Die Einwohner von Thule gleichen aber fast alle den Schauspielern, und sie haben in der Kunst, etwas anderes vorzustellen, als sie sind, große Fertigkeit. Keiner von ihnen spricht leicht gegen andere so wie er denkt. Daher nennen sie Menschenkenntnis die schwerste Kunst, und Lebensklugheit die höchste Weisheit.

Inzwischen können sie sich doch nicht so sehr verbergen, daß man nicht ihre Schalkheit oder ihre Unbehilflichkeit erkennen sollte. Denn weil sie mit der menschlichen Vernunft im beständigen Widerspruch leben, anders lehren und anders handeln, anders empfinden und anders reden, und zu ihren Zwecken oft die widersinnigsten Mittel wählen, wird ihre Rohheit offenbar. Um zum Ackerbau zu ermuntern, belasten sie den Landmann mit den schwersten Abgaben und der größten Geringschätzung; um den Verkehr und Handel zu spornen, errichten sie zahlreiche Zollstätten und Warenverbote; um fehlbare Menschen zu strafen und zu verbessern, sperren sie dieselben in öffentliche Zwanghäuser zusammen, wo sich die Verdorbenen gegenseitig mit ihren Lastern noch mehr vergiften, und von wo sie als vollendete Verbrecher wieder in die Gesellschaft der Menschen zurückkehren; um ihres gesunden Leibes zu pflegen, verkehren sie die Ordnung des Lebens: einige wachen in der Nacht und schlafen am Tage; andere zerstören die Säfte ihre Leibes mit hitzigen Getränken und Gewürzen, die sie um große Summen aus Indien erkaufen, also daß kaum eine arme Haushaltung zu finden ist, welche sich mit der Frucht ihres Feldes oder ihrer Herde begnügt, ohne nicht Getränke aus Arabien oder Gewürze aus Indien und Fische aus entfernten Meeren hinzuzutun.


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