Heinrich Zschokke
Ein Narr des neunzehnten Jahrhunderts
Heinrich Zschokke

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Vorläufige Nachrichten

Auf meiner letzten Reise im Norden unsers Vaterlandes ließ ich mich einen kleinen Umweg nicht gereuen, um meiner Lieblinge einen aus dem goldenen Zeitalter des Lebens einmal wieder zu sehen. Man erlaube mir indessen nur, in der folgenden Erzählung Namen von Gegenden, Ortschaften und Personen zu verschweigen oder zu verstellen. Die Geschichte ist darum nicht weniger wahr, wie unwahrscheinlich sie auch Vielen vorkommen mag.

Jener Liebling also war der Freiherr Olivier von Flyeln, mit dem ich auf der Göttingischen Hochschule zugleich den Wissenschaften angehört hatte. Er war damals einer der trefflichsten Jünglinge und zugleich einer der geistreichsten jungen Männer gewesen. Die Liebe der römischen und griechischen Schriftsteller hatte uns zusammengeführt und verbunden. Ich nannte ihn nur meinen Achilles, er mich seinen Patroklus. Aber er hätte in der Tat jedem Künstler zum Urbild eines Achilles dienen können. In Gestalt und edler Haltung einem jungen Halbgott ähnlich, Trotz und Güte im dunkeln Feuer seines Blicks, gelenk und gewandt wie keiner, der kühnste Schwimmer, der schnellfüßigste Renner, der wildeste Reiter, der anmutigste Tänzer, hatte er dabei das edelmütigste und furchtloseste Herz. Sein Edelmut verwickelte ihn eben in mancherlei unangenehme Händel, wie er sich oft ungerufen der Unterdrückten annahm. Er mußte sich daher mehrmals mit Andern schlagen; er scheute die besten Fechter nicht; ging in den Kampf wie zu einer Lustpartie, ward dabei niemals verwundet, als wäre er am ganzen Leibe gefeiet, ließ aber keinen ungezeichnet von sich.

Seit unserer Trennung hatten wir uns mehrmals geschrieben; aber wie es denn so geht, wenn man in den Wogen des Lebens auseinander kömmt, wir vergaßen zwar uns nie, aber zuletzt doch den Briefwechsel. Ich wußte endlich von ihm nur, daß er Hauptmann bei einem Infanterieregiment gewesen war. Jetzt mochte er etwa fünfunddreißig Jahre alt und im Range vorgerückt sein. Sehr zufällig erfuhr ich auf der Reise den Standort seines Regiments, und das verleitete mich, wie gesagt, zu dem Umweg.

Der Postknecht fuhr mit mir in die Straßen der alten, weitläufigen, reichen Handelsstadt ein, und hielt vor dem angesehensten Gasthof. Sobald ich vom Aufwärter mein Zimmer angewiesen erhalten hatte, fragte ich ihn, ob beim Regiment in hiesiger Besatzung nicht ein Freiherr von Flyeln sei?

»Sie meinen den Major?« fragte der Aufwärter.

»Major kann er wohl sein. Ist seine Wohnung entfernt von hier? Trifft man ihn um diese Zeit an? Es ist schon spät; aber ich wünsche, daß mich Jemand zu ihm führe.«

»Verzeihen Sie, der Herr ist nicht mehr beim Regiment, schon lange nicht mehr. Er hat den Abschied genommen oder nehmen müssen.«

»Müssen? Warum das?«

»Er hat allerlei Geschichten getrieben, wunderliches Zeug; ich weiß selbst nicht was? Er ist zuletzt nicht recht im Kopf gewesen; übergeschnappt, verrückt geworden. Man sagt, er habe sich um den Verstand studiert.«

Die Botschaft erschreckte mich so, daß ich die Fassung und die Frage verlor.

»Und wie denn?« stammelte ich endlich, um doch etwas zu fragen und Genaueres zu vernehmen.

»Verzeihen Sie«, sagte der dienstfertige Aufwärter: »was ich weiß, hab' ich nur von Hörensagen, denn er ist früher weggeschickt, als ich in dies Haus kam. Man erzählt aber noch viel von ihm. Zum Beispiel hat er mancherlei Händel mit Offizieren gehabt, und jeden Du geheißen, sogar den General, jeden, er mochte sein wer er wollte. Als er eine reiche Erbschaft von seinem Oheim in Empfang genommen hatte, bildete er sich ein, er sei bettelarm geworden, könne seine Schulden nicht zahlen, und verkaufte, was er um und an sich hatte. Er soll auch gotteslästerliche Reden in seinem Wahnsinn ausgestoßen haben. Das Lustigste aber ist, daß er seiner Familie zum Trotz ein unehrliches Mädchen, ein Gaunerkind, geheiratet hat. Auch sein Anzug soll zuletzt gar toll gewesen sein, gar hanswurstmäßig, so daß ihm alle Gassenbuben nachliefen. Man hat ihn in der Stadt sehr bedauert; denn er war vorher allgemein geliebt, und muß, so lange er noch den Verstand hatte, ein vortrefflicher Herr gewesen sein.«

»Und wo befindet er sich jetzt?«

»Ich kann es nicht sagen. Er hat die Stadt verlassen. Man hört und sieht nichts von ihm. Vermutlich hat ihn seine Familie irgendwo untergebracht, um ihn heilen zu lassen.«

Mehr wußte der Aufwärter nicht zu berichten. Ich hatte schon zuviel gehört. Ich warf mich schaudernd in einen Sessel. Ich dachte mir noch die Heldengestalt des geistvollen Jünglings, von dessen Zukunft ich hohe Erwartungen gehegt hatte; der sowohl durch seinen Stand, als durch seine großen Familienverbindungen Ansprüche auf die ersten Stellen im Heer oder im Staate hätte machen können; der durch seine Kenntnisse, durch seine seltenen Geistesgaben zu allem Großen berufen zu sein geschienen, – und der nun war einer der Unglücklichen, vor deren Anblick die Menschheit mitleidig zurückschaudern muß! Hätt' ihn doch der Engel seines Lebens lieber aus der Welt hinweggerückt, denn ihn zum traurigen Schauspiel, als klägliches Zerrbild, stehen gelassen!

Wie gern ich den guten Olivier gesehen hätte, war mir's doch lieb, ihn nicht mehr in der Stadt zu wissen. Ach, er wäre ja doch nicht mehr Olivier, nicht mehr mein herrlicher Achilles gewesen, sondern ein kläglicher unkenntlicher Torso! Ich wollte ihn nicht sehen, auch wenn es mir leicht gewesen wäre, ihn zu finden. Dann hätt' ich meinen Göttingischen Achilles im Gedächtnis auswechseln müssen mit der Gestalt eines Wahnsinnigen; das hätte mir eine der liebsten und anmutigsten Erinnerungen geraubt. Ich wollte ihn aus demselben Grunde nicht wiedersehen, wie ich keinen meiner Freunde im Sarge betrachten mag, weil ich nur die Gestalt des Lebendigen in Gedanken bewahren will; oder wie ich's meide, Zimmer, die ich vor Zeiten bewohnte, die nun von Andern bewohnt werden, die nun ganz anders eingerichtet sind, wieder zu besuchen. Das Ehemals und Jetzt verwirrt sich immer in meinen Vorstellungen auf eine unausstehlich-peinliche Weise.

Ich war noch in allerlei Betrachtungen über die Natur des menschlichen Wesens verloren, und wie derselbe Geist, welcher die Räume des Weltalls mißt, das Höchste ahnet – durch Druck oder Verletzung eines unsichtbaren Teils seines Nervengewebes zum widerlich verstimmten Saitenspiel werden muß, sich und der übrigen Welt ein unverständlicher Fremdling: da trat der Aufwärter herein und rief zum Nachtessen.

Die Wirtstafel im hellerleuchteten Speisesaal war von vielen Gästen besetzt. Es traf sich, daß mir ein Platz in der Nachbarschaft einiger Offiziere der hiesigen Stadtbesatzung angewiesen ward. Natürlich leitete ich das Gespräch, sobald es einmal unter uns angeknüpft war, auf meinen Freund Olivier. Ich gab von ihm die genauesten Einzelheiten an, so viel ich deren wußte, um jede Verwechslung der Personen zu verhüten. Denn es war ja möglich, und ich glaubte die Möglichkeit, daß der wahnsinnige Freiherr von Flyeln ein ganz anderer, als mein Achilles von Göttingen sein konnte. Allein alles, was ich sagte, alles, was ich dagegen hörte, bestätigte zu sehr, daß hier keine Verwechslung statt finde.

»Es ist jammerschade um den Baron!« seufzte einer der Offiziere. »Jedermann hatte ihn gern. Er war einer der bravsten beim Regiment, ein verwegener Teufel. Das sahen wir beim letzten Feldzug in Frankreich. Was keiner von uns wagte, das wagte er spielend. Aber ihm glückte auch Alles. Denkt nur an die Batterie bei Belle-Alliance! Wir hatten sie verloren. Der General riß sich die Haare aus dem Kopf. Flyeln rief: Wir müssen sie wieder nehmen, sonst ist alles dahin! Drei Angriffe hatten wir vergebens getan. Da geht Flyeln mit seiner Kompagnie noch einmal vor, nimmt's mit einem ganzen Bataillon Garden auf, und bei Gott, schlägt in gräßlicher Metzelei durch, nimmt die Batterie!«

»Aber es kostete auch die halbe Kompagnie!« rief ein alter Hauptmann neben mir: »Ich war Augenzeuge. Er kam, wie gewöhnlich, ohne Schramme davon. Ungeheures Glück begleitete den Menschen. Der gemeine Soldat läßt sich's jetzt noch nicht ausreden, der Baron habe sich hieb-, stich- und kugelfest machen können.«

Ich hörte mit wahrer Wollust dem lobreichen Gespräch über den guten Olivier zu. Ich erkannte ihn wieder an allen seinen Tugenden. Man pries besonders seine wohltätigen Handlungen. Er war der Gründer und Verbesserer einer Schule für Soldatenkinder, und hatte dafür großen Aufwand gemacht. Er hatte im Stillen viel Gutes gewirkt; immerdar ein einfaches, eingezogenes Leben geführt, nie zu dem Mutwillen, nie zu den Ausschweifungen sich geneigt, zu welcher Jugend, Schönheit, Kraftfülle und Reichtum so leicht verlocken. Ja, die Offiziere gestanden mir, daß der Freiherr bedeutenden Einfluß auf Veredlung des Tons unter dem Offizierskorps, auf die ernstern Sitten desselben und auf dessen wissenschaftlichere Bildung gehabt. Er selbst habe Vorlesungen über verschiedene, dem Krieger nützliche Gegenstände gehalten, bis es ihm untersagt worden sei.

»Und warum untersagt?« fragte ich verwundert.

»Eben in diesen Vorlesungen«, antwortete mir einer meiner Tischnachbarn, »offenbarten sich die ersten Spuren seiner beginnenden Geisteszerrüttung. Kein Jakobiner im Pariser Nationalkonvent hat jemals rasender gegen unsere monarchischen Einrichtungen gewütet, und gegen die verschiedenen europäischen Höfe und ihre Politik, als er zuweilen. Er sagte geradezu, die Völker selber würden früh oder spät sich helfen, sich und den Königen gegen Minister-Willkür, Priesterherrschaft und Handelsbedrängung. Er meinte auch, die Revolution würde unvermeidlich von Volk zu Volk mild oder stürmisch übergehen, und werde binnen einem halben Jahrhundert die politische Gestalt Europa's verändern. Genug, die Vorlesungen wurden ihm untersagt, und billig und mit Recht. Eben so toll deklamierte er zuweilen auch gegen den Adel und dessen Vorrechte. Wenn man ihn dann erinnerte, daß er ja selbst Baron wäre, antwortete er: »Ihr habt die Torheit, mich so zu nennen; ich bin ein vernünftiger Mensch und von Geburt eben so viel, wie unser Profos.«

»Das waren aber doch nur erst Vorspuren der Geisteszerrüttung!« rief ein junger Lieutenant, »allein der erste Akt seiner Narrheit war, als er den Obristlieutenant Baron von Berken anfiel, mit Maulschellen bewirtete und die Treppe hinunterwarf, nachher aber die Herausforderung nicht anzunehmen wagte, und bei der Gelegenheit das ganze Offizierkorps beleidigte.«

»Er war doch sonst ein guter Fechter, der eben die blanke Klinge nicht fürchtete!« sagte ich.

»Wir kannten ihn bis dahin auch als solchen. Aber wie gesagt, seine ganze Natur änderte sich. Als er auf den Platz kam, wo er sich schlagen sollte, erschien er ohne Degen, bloß mit einer Rute in der Hand, und sagte in unser aller Gegenwart zum Oberstlieutenant mit lachendem Munde: du verächtlicher Bock, wenn ich dich wirklich mit dem Degen zerfetzte, würdest du darum mehr wert sein? Und als der Oberstlieutenant seinen Zorn nicht mehr mäßigen konnte und den Degen zog, entblößte der Major kaltblütig seine eigene Brust, hielt sie ihm hin und sagte: Hast du Lust, Meuchelmörder zu werden: stoß zu! – Wir wollten uns hineinmischen in den Wortwechsel, ihn zwingen, sich mit dem Oberstlieutenant zu schlagen, wie Pflicht und Ehre geboten. – Da nannte er uns allesamt Narren, die mit ihren Grundsätzen von Ehre ins Irrenhaus oder ins Zuchthaus gehörten. Nun konnten wir bald merken, daß es nicht mehr ganz richtig bei ihm im Oberstübchen wäre. Einige unter uns schimpften ihn. Daraus machte er nichts, sondern lachte. Wir begaben uns zum General, wir erzählten demselben offenherzig den ganzen Vorfall. Der General ward sehr verdrießlich, um so mehr, da er an demselben Tage für den Major den Orden vom Hofe erhalten hatte. Er bat uns, ruhig zu sein; er wolle Alles vermitteln; der Major müsse Genugtuung geben. Folgendes Morgens bei der Parade überreichte der General, laut Vorschrift, mit einer angemessenen Rede dem Major den Orden. Der Major nahm ihn nicht an, sondern antwortete in den ehrerbietigsten Worten die unehrerbietigsten Dinge, des Inhalts: Er habe für das Vaterland, und nicht für ein Stückchen Band gegen Napoleon gefochten. Habe er einiges Lob verdient, so wolle er's nicht vor Aller Augen an der Brust umher zur Schau tragen. Der General war außer sich vor Schrecken. Keine Bitten, keine Drohungen konnten den Major bewegen, das königliche Gnadenzeichen anzunehmen. – Nun traten die Offiziere vor, und machten die Erklärung, sie könnten nicht mehr mit dem Major dienen, wenn er nicht Genugtuung leiste. Die Sache kam zur Untersuchung; der Major in Verhaft, vom Hofe die Entlassung des Majors. Nun brach die volle Narrheit erst aus. Er ließ sich den Bart, wie ein Jude, wachsen; trug lächerliche Kleider; heiratete seinen Verwandten zum Trotz ein ganz gemeines, übrigens hübsches Mädchen, ein Findelkind, wegen dessen er schon mit dem Oberstlieutenant Händel gehabt hatte; hielt sich eine geraume Zeitlang für blutarm, und beging so vielerlei Torheiten, daß er endlich auf königlichen Befehl unter Aufsicht gesetzt und nach seinen Gütern verwiesen wurde.«

»Wo lebt er jetzt?« fragte ich.

»Auf seinen Gütern noch, zu Flyeln, im Schlosse seines verstorbenen Oheims, ungefähr zehn Meilen mögen es von hier sein. Ein Jahr lang durfte Niemand ohne Erlaubnis zu ihm, sogar die Verwaltung seines Vermögens ward ihm entzogen. Sie ist ihm jetzt wieder überlassen, doch muß er jährlich Rechnung stellen; auch darf er sich keinen Schritt über die Grenzen seiner Gerichtsherrlichkeit entfernen. Er dagegen hat die ganze Welt feierlich in Bann getan, und läßt weder Verwandte noch Bekannte, noch Freunde zu sich. Man hat schon seit Jahr und Tag nichts mehr von ihm vernommen.«


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