Paul Zech
Deutschland, dein Tänzer ist der Tod
Paul Zech

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XXII   Untermenschen

Doktor Grätz hätte das Visum für die Reise nach Paris wahrscheinlich nie erhalten, wäre der Oberregierungsrat Schmidt nicht Dezernent der Abteilung II b gewesen. Dieser Schmidt war einer der wenigen Beamten aus dem »Politischen Dienst«, die der neue Herr der Polizei, ein Admiral a. D., auf dem alten Posten belassen hatte. Die meisten Oberbeamten des Berliner Polizeipräsidiums, die sich nicht rechtzeitig mit dem Parteiabzeichen versehen hatten, wurden kurzerhand »beurlaubt« oder nach entfernten Provinzen versetzt. Schmidt aber durfte bleiben, nur wurde ihm anempfohlen, so schnell wie möglich bei der betreffenden Parteistelle das Aufnahmegesuch einzureichen. Es hatte fast ein Jahr gedauert, bis er die Papiere des Hakenkreuzlervereins endlich ausgehändigt bekam. Man hatte ihn scharf beobachtet, man hatte ihm Fallen gestellt, man hatte jeden Buchstaben der Personalpapiere auf das genaueste durchgeprüft, Erhebungen angestellt, alle möglichen Leute ausgehorcht und schließlich doch nichts gefunden, was ausgereicht haben würde, ihn an die frische Luft zu setzen oder gar in Schutzhaft zu nehmen. Es lag nichts anderes gegen ihn vor, als daß er eine Zeitlang des sozialistischen Präsidenten Zörgiebel »rechte Hand« gewesen war und in der gebliebenen Oberbeamtenschaft zwei persönliche Feinde hatte. Diese beiden Feinde hatten alle Minen springen lassen, um Schmidt mit Erfolg absägen zu können. Es hatte ihnen nichts genutzt. Dem Herrn Admiral-Präsidenten war es zuletzt nicht mehr um den p.p. Schmidt gegangen, sondern um das ganz einfache Herr-im-eigenen-Hause-Sein.

Dieser Geheime Oberregierungsrat Schmidt also, Verbindungsbruder von Doktor Grätz, hatte ihm das Visum verschafft. Die »ehrenvolle Einladung« zu einem fachwissenschaftlichen Kongreß, womit der Doktor Grätz das Gesuch begründet hatte, war für die Paßbehörde ohne Bedeutung gewesen. Für Doktor Grätz war sie in Wirklichkeit ja auch nur eine Nebensächlichkeit, wichtig aber als Deckmantel für Zusammenkünfte ganz anderer Art. 288

In Paris kam Doktor Grätz mit all den politischen Persönlichkeiten in Fühlung, von denen er glaubte, sich mit ihnen über die illegale Arbeit in Deutschland unterhalten zu können und sich ihrer Mitarbeit zu versichern.

Nebenbei traf er sich auch mit seinem alten Freund Hellmut von Gerlach in einer alten Weinstube, in der Nähe der Derby-Bar, auf dem Boulevard Raspail, wo es billig einen alten rauchigen Burgunder gab und Hasen am Spieß gebraten, mit einer Füllung aus Hühnerleber und siebenerlei Gewürzkräutern. Das Essen und Trinken war der tragende Unterton des Gesprächs. Doktor Grätz gab Hitler noch fünf Jahre Zeit, Deutschland so auszuhöhlen, wie es nicht einmal die Inflation vermocht hatte.

Gerlach meinte, daß es in höchstens zwei Jahren zu Ende sei mit dem Raubbau an Gut und Blut. Doktor Grätz glaubte nicht an eine proletarische Revolution vor dem Krieg. Gerlach hoffte auf die große Erhebung breitester Volksschichten unmittelbar vor dem geplanten Krieg. Das Wasser war viel zu sumpfig, sie kamen nicht zusammen.

Doktor Grätz hatte auch die bekanntesten Treffpunkte der intellektuellen Emigranten aufgesucht. Vor allem, um eine Spur von seiner Schwägerin, der Elsa Joachim, zu finden. Niemand von denen, die er bisher gesprochen hatte, kannte sie. Von all den Leuten, die Hitler und sein Klüngel über Nacht aus einem geordneten Dasein verjagt hatten und die hier jetzt das bittere Elend der Emigration fristeten, die das Lachen verlernt hatten und aus abgeschabten Anzügen keinen moralischen Defekt mehr machten für den, der solche Lumpen tragen muß, kam ihm Erschreckendes zu Ohren, das Grauenhafteste an erfahrener Erniedrigung und Mißachtung, die unverschuldete Not Verbrechen gleichgesetzt.

Aber alle diese Leute, die in einem sonderbaren Optimismus dem Dritten Reich nur noch ein Jahr des Herumwirtschaftens in Lüge und Betrug ließen, waren Revolutionäre. Es glühte aus ihren Augen und Worten allerdings mehr der private Haß, als im Blut der Fanatismus des politischen Revolutionärs. Sie lebten auch nicht in einem völligen Einssein mit dem Proletariat, obwohl sie sozial auf die unterste Stufe hinuntergesunken waren und ihnen selbst das Von-der-Hand-in-den-Mund-Leben kein Problem mehr war, sondern ein Zustand, der sich von Tag zu Tag verschlechterte.

Niemand von denen, die Doktor Grätz befragt hatte, waren jemals Gast in dem Berliner Haus der »Schönen Elsa« gewesen. Allerdings: 289 diese paar Dutzend Menschen, mit denen Doktor Grätz zusammengekommen war, stellten nur einen winzigen Bruchteil dar der emigrierten Literaten, Musiker, Maler und Journalisten. Das große Heer hatte sich über ganz Paris verstreut, wohnte dort, wo es am billigsten war, und hatte oft nicht einmal soviel Geld, um mit der »Metro« in das Zentrum zu fahren.

Im Café du Sport, am Barbes-Roche-Chouart, traf Doktor Grätz endlich mit einem Kunstkritiker zusammen, den er im Hause des Berliner Stadtrats kennengelernt hatte. Und dieser einst arrivierte Mann konnte sich schließlich auch an Elsa Joachim erinnern. Er war mit ihr vor einem halben Jahr im Louvre zusammengestoßen, wo sie ihm den Schriftsteller S. als ihren neuen Gatten vorgestellt hatte. Aus dem Gespräch, dessen Einzelheiten ihm noch in der Erinnerung hafteten, hatte man schließen müssen, daß die beiden Leute in einer Pension in der Rue de Lafayette Nummer 97, dritter Stock, zusammenlebten. Sie hatten ihn zum Tee eingeladen, deshalb war ihm die Adresse auch noch geläufig. Aber er war nie dazu gekommen, hinzugehn.

Er sagte zu Doktor Grätz: »Wissen Sie, lieber Doktor, wenn es nicht wenigstens ein ehemaliger Millionär ist, von dem die Einladung ausgeht, oder eine französische Modistin mit einer netten kleinen Wohnung hinter dem ewig unaufgeräumten Laden, gefühlvollen Vergangenheiten, selbstgebackenen Torteletts, einem Band Zola auf dem Nachttisch, mit dem aufreizend bittersüßen Geruch roter Haare und kurzen, aber geschmeidigen Beinen . . . dann vergißt man besser die Einladungen und jagt einen Floh aus dem Strumpf. Es tut nicht gut, wenn man von einem fremden Elend mit der Nase auf sein eigenes gestoßen wird. Bei mir, in meinem Mansardenzimmer, mit herunterhängenden, verschimmelten Tapeten, zugigem Fenster, quietschender Tür und Möbeln, die aus Wurmlöchern und verschlissenen, fettigen, von Wanzen dicht bevölkerten Überzügen bestehn, einer Puppenwaschschüssel dazu und einem Spiegel, aus dem die Zeit das Blanke schon herausgefressen hat, machen eine zerbrochene Teetasse, ein Messer ohne Griff, ein halber Teller und eine vergoldete Gipsamorette ohne Kopf nichts weiter aus. Ich darf dabei noch nicht einmal an den Unterstand denken, den ich einmal in den Gräben am Chemin-des-Dames acht Wochen lang in ruhiger Stellung bewohnte. Dort waren die Sandsteinwände mit alten, goldgestickten Chorhemden und Stolen dekoriert, und es standen sogar zwei himmelblaue Klubsessel, aus einem samtweichen Saffianleder, für einen Faulenzertag bereit. Mein Hauptmann hatte in seiner Waldhütte sogar 290 ein Klavier stehen und oben auf dem Bord ein Dutzend zierlicher Damenpantoffeln.

Aber in dieser meiner Emigrantenmansarde, einer Filiale vom Marché des puces, in diesem finsteren, muffigen Loch für 150 Francs den Monat, bin ich ein Mann, der sich einbilden darf, daß es ihm gut geht. So gut sogar, daß ich in der Vorstellung lebe: ich habe in der Lotterie, die wir Untermenschen auf Befehl Hitlers ausspielen mußten, das große Los gezogen. Wenn ich mir nämlich vor Augen halte, daß viele meiner Freunde Moorsklaven geworden sind oder sonstwo in einem Bunker verrecken. Manchem, den wir beide von früher her kennen, hat der Teufel die verfluchtesten Nieten zugeschoben.

Aber stellen Sie sich vor: es lädt mich beispielsweise eine frühere Freundin ein, die vor zwei Jahren noch in Berlin-Dahlem achtzehn Zimmer bewohnt hatte, das Haus von Bruno Taut gebaut, der Park von dem Potsdamer Staudenapotheker Förster eingerichtet. Die Wände bepflastert mit Bildern, von denen jedes das Fünfjahreseinkommen eines Metallarbeiters ausmacht. Dort aß man von Tellern der berühmtesten Manufakturen. Und für jedes Glas, das man umgekippt hätte, würde man hier seine drei Monate sich satt essen können. Diese Dame finden Sie dann hier in einer womöglich noch schäbigeren Mansarde als der meinen. Die Teetasse hat keinen Henkel und riecht ein wenig nach Lysol oder Pfefferminz. Und für den Würfelzucker, die Aprikosenkonfitüre und die drei Keksstückchen muß dieses jetzt in Sack und Asche sich bewegende Mädchen auf das nächste Mittagsbrot verzichten . . . nee, solche Einladungen nimmt man nicht an. Das wäre Diebstahl, Erpressung. Und ein paar schlaflose Nächte hinterher hätte man noch dazu.«

»Sie wollen damit sagen, lieber H., so ungefähr muß ich mir das Emigrantenlager in der Rue de Lafayette 97 vorstellen? Ganz so in das letzte Mauseloch hineingedrückt stelle ich es mir nun doch nicht vor, denn etwas Bargeld hat Elsa mitnehmen können. Nach solider Berechnung hätte sie hier zehn Jahre unabhängig leben können.«

»Es sind Leute hergekommen, die dachten ihr Leben lang mit dem Mitgebrachten auskommen zu können. Und nach einem halben Jahr schon waren sie blank. Entweder hatten sie sich an Geschäften beteiligt, die nie Geschäfte gewesen sind, sondern nur Fliegenfänger. Oder sie lebten so, wie es Paris verlangt, daß man lebt, wenn man bei gewissen Gesellschaftskreisen Anschluß sucht und annimmt, daß Hitler ja doch bald die Wände des höllischen WC anstreicht. 291

In diesem Betracht lebt gesünder, wer kein Geld hat. Ich bin mit zwei Oberhemden, einem Regenmantel, der Baskenmütze und 150 Mark hergekommen. Manche hatten bloß noch 95 Pfennige in der Tasche gehabt, und ihr Französisch reichte kaum für eine Lektion der Sexta. Zwei Monate haben die 150 Mark bei mir ausgehalten. Der Teufel soll wissen, wer sie mir aus der Tasche gefegt hat. Jedenfalls: eines Tages waren sie nicht mehr da. Und zu allem Unglück war auch noch der Paß abgelaufen. Sonst hätte ich nach Brasilien fahren können und in Mato Grosso nach Diamanten suchen. Außerdem habe ich eine Schwester in São Paulo, die wollte mir eine Rufpassage schicken. Sie ruft heute noch. Dann und wann kommt als Briefeinlage ein vierstelliger Milreisschein. Davon kann man hier unter Umständen drei, vier Wochen existieren, bei meiner Schwester drei Monate. Meist aber ist das Kuvert leer. Die Post oder sonstwer hat auch Bedarf an Milreisscheinen. Sie sind bunt, und hohe Ziffern reizen.«

»Sie haben aber doch Gelegenheit, in den vielen und verschiedenen Hilfskomitees sich mit dem Notwendigsten versehen zu lassen. Wofür sind diese Institute denn da?«

»Wie meinen? Es sind zehntausend und wahrscheinlich noch mehr Menschen hier, die von diesen Brosamen leben wollen. Soll ich mit denen auch noch die winzigen Krümel teilen?«

»In Ihrem Fach, bei den Kunsthandlungen, in den Museen, Kunstschulen oder Antiquariaten . . .?«

»Dort warten sie gerade auf mich! Gewiß, auch das habe ich versucht. Spaziergänge gemacht von früh bis spät. Bilder hätte ich verkaufen können, verstehen Sie? Aber wenn man nur wüßte, wer sich heute die Wände noch austapeziert mit Ware, die international nicht gehandelt wird! Und über Kunst schreiben? Lieber Doktor, jene Zeit wird wohl nicht mehr wiederkommen, wo man für einen Aufsatz so seine zweihundert Eier kassieren durfte und für einen Vortrag im Radio sogar dreihundert. Und Verleger, die Vorschüsse geben für ein Buch über Kokoschka oder Utrillo . . . wissen Sie: ich glaube, das hat man alles bloß geträumt. Das ist alles nicht wahr gewesen. Wir haben uns das ganze bisherige Leben in die eigene Tasche hineingelogen und nur vor dem Spiegel die Figur gemacht, in der wir einherwandelten. Spaß? Nein, wir haben in der Welt eines Vexierspiegels gelebt und die Regentropfen, die uns auf die Nase purzelten, für Silbertaler und Dukaten gehalten. Ich habe zwei Manuskripte im Koffer, jedes hat zwei Jahre Arbeit verschlungen; eins über Munch und ein anderes über den 292 Holzschneider der sogenannten »Neunten deutschen Bibel«. Vielleicht kennen Sie den Folianten, um 1490 bei Koberger in Nürnberg gedruckt. Diese Arbeit hätte ich früher nicht unter 200 Emm Vorschuß aus der Hand gegeben. Heute wäre ich mit einem Zehntel ein reicher Mann. Aber wer will diesen reichen Mann aus mir machen?

Ich sprach vor einigen Wochen einen Schweizer Verleger, der hier herumroch und angelte nach gangbarer Buchware. Ein bißchen Greuel, aber nicht zu pfeffrig, ein bißchen Zionismus, ein wenig Rot, aber nicht zu oft Moskau, das Heidelberger Schloß und die Nachtigallen im Kurpark von Baden-Baden, deutsches Schicksal, deutsche Sehnsucht, aufgewärmter Goethe und Nietzsche antifaschistisch . . . das wäre eventuell in zehn Sprachen übersetzbar. Und erst darin, daß es die Buchläden von London, Boston, Lima und Hongkong ziere, bestünde ein Geschäft für einen soliden Geschäftsmann. Sagte dieser Mann zu mir: ›Emigranten? Haben wir Sie gerufen? Sind wir Ihnen verpflichtet? Sie essen unser Brot, Sie genießen den Schutz unserer Gesetze, man hat sogar Ihr Bild in den Zeitungen gebracht, dabei sind Sie nicht einmal Jude. Keinen Bedarf, mein Herr, für Ware, die nur für ein halbes Dutzend Museen Interesse hat. Danke! Schreiben Sie Romane, worin der Papst Alexander als Erfinder der Lockenbrennschere dargestellt wird oder Pizarro als Retter der abendländischen Kultur in Cuzco. Lassen Sie Cromwell noch einmal das Schafott besteigen, diesmal aber in einem grünen Wams. Schildern Sie uns das Begräbnis Alarichs im Busento und geben Sie das Gewicht der mitbegrabenen Goldgegenstände an. Wiedersehn!‹

Man könnte solch einen Roman eventuell schreiben. Vielleicht über den ersten Fugger und dabei das Gewicht der nach Deutschland eingeführten Spezereien angeben. Ein paar diesbezügliche Anfragen an andere Verleger habe ich auch schon hinausgeschickt. Von vieren hat nur einer geantwortet. Und der schrieb: ›Mann, wenn Sie noch nicht angefangen haben, bloß das Papier parat liegen, dann kaufen Sie sich Heringe für das Papier. Und wenn Sie mit ihrer freien Zeit nichts Besseres anzufangen wissen, dann haben Sie den Anschluß an die Zeit verpaßt.‹

Das geschah gerade in jener Zeit, als ich nicht einmal die Mansarde hatte, mich zu verkriechen. Da trieb man sich an den Stationen der Metro herum und fischte die Umgebung nach weggeworfenen Rückfahrkarten ab. Nach jenen mit dem roten Strich. Es gibt hier nämlich noch Leute, die haben solch ein weiches Herz, daß sie an einen Emigranten denken und die Dinger wegwerfen. Und wenn man ein Glückspilz von Geburt an ist, findet man auch die Rotstrich-Karten und 293 gondelt los. Man muß doch schlafen! Und das kann man dort unten in den geheizten Wagen. Aber immer nur mit einem halben Auge und bis zum nächsten Umsteigebahnhof. Und dort nimmt man wieder den Gegenzug und macht abermals einen Fünfminuten-Nicker. Und so fort, von früh um sechs bis Mitternacht. Bis der Schlaf auf Raten sich bezahlt gemacht hat. Und manchmal findet man auch eine liegengebliebene Tüte mit Zwiebäcken oder Tomaten. Na . . . und die Nächte? Es gibt Bänke, da spritzt der Scheinwerfer der Nachtaufsicht nicht hin. Und wie oft schon habe ich mich in eine Kirche einschließen lassen!«

»Hat man Ihnen wenigstens eine Arbeitskarte verschaffen können? Es müßte sich dann doch irgendeine Möglichkeit ergeben, in eine regelmäßige Arbeit hineinzukommen? Ich kann mir vorstellen, daß Sie nicht wählerisch sind, wenn Ihnen etwas angeboten wird.«

»Wenn der Paß in Ordnung wäre, dann hätte ich auch längst Arbeit. Oder glauben Sie, ich würde mich genieren, mit einem Dreirad Käse oder Petroleum auszufahren? In den Parks Hundedreck zu sammeln oder vor einem Nachtlokal, als Cherokese verkleidet, mich aufzubauen und den kleinen Nutten und ihren Beischläfern die Tür aufzureißen? Ich habe auf der Station Ponte de Chapelle Postpakete befördert für zehn Francs die Nacht. Drei Wochen lang, bis man dahinterkam, daß ich die Karte nicht hatte. Dann kam vier Wochen lang wieder die Pechsträhne, wo es nicht einmal zu der Zwiebelsuppe vor den Markthallen langte. Wie gern hätte ich Kisten und Körbe, Säcke und Bündel geschleppt. Aber die Clochards sind eine Zunft mit Statuten und Befähigungsnachweis. In diese Gilde kommt ein Schnorrer mit Schuhen, die noch Sohlen und Absätze haben, mit einem Gesicht, das noch nicht ausgetrocknet ist von dem paradiesischen Leben unter den Brückenbögen und in den Kellern leerstehender Häuser, nicht hinein. Oder man muß schon direkt von einem Schwein gebissen sein, um mal für ein paar Stunden Aushilfe spielen zu dürfen. Dann kann man auch zwei Portionen Zwiebelsuppe mit den entsprechenden Brotbeilagen verschlingen. Bei dieser Zwiebelsuppe übrigens muß ich immer an das Berliner Nachtlokal Schlichter in der Martin-Luther-Straße denken, an die Hühnerbrühe oder die Erbsen mit Schweinsohren, die man dort, zwischen zwei und vier Uhr morgens, vertilgte, in der Gesellschaft von Hans Albers und Fritz Kortner, bis zu Fred Hildenbrandt vom B. T. und der wuscheligen und mit ihrem eisigen Unterleib kokettierenden Lee Hary. Ich kannte sie noch von Schwabing her, damals war sie vierzehnjährig, drei Jahre lang in einem sogenannten Bunten Theater, das ihrem Vater 294 gehörte, Tänzerin. Allerdings hieß dieser Herr Direktor nicht Hary, sondern schlicht Obermayer. Ich bin ihm heute noch drei Flaschen Sekt schuldig für ein bißchen Schmacht um Lee. Bei Schlichter war diese Lee, wie gesagt, platingebleichter Morgen-Stammgast. Und die Morgenstunden mit Hühnerbrühe und bayrischen Bratwürsten waren direkt eine Modekrankheit; wer nicht anwesend war, zählte nicht mehr mit, dort, wo die Kurse gemacht wurden für Literatur, Theater und Kunst. Alles, was in Berlin etwas auf sich zu halten hatte, um nicht altes Eisen oder Gerümpel zu werden, Schreiber, Spieler, Maler, Musiker, Bankier, Mäzen, Karriere-Politiker und Zuhälter, das aß pflichtgemäß und notgedrungen morgens seine Hühnerbrühe bei Schlichter. Und wurde gesehen, beschimpft, angeschnorrt, begaunert und auf den krummen Arm genommen. Nur die Züchter von weißen Mäusen nicht, die saßen drei Ecken weiter und rührten in ihr Zitronenwasser mit tierischem Ernst finstere Pläne. Der Adept hieß Goebbels und sein Prophet Hitler.

Hier in diesem Paris aber, wo es doch nicht minder auf das Gesehen-Werden ankommt, auf die netten kleinen Notizen und größeren Waschzettel, essen alle Leute, die auf Öffentlichkeit bedacht sind, ihre Zwiebelsuppe auf offener Straße vor den Hallen. Einmal traf ich dort unseren früheren Freund Bondi in der Gesellschaft von Malraux und Ehrenburg. Ein anderes Mal sogar Utrillo. Ich hätte ihn anpumpen können, aber er war schon in seinem siebenten Himmel. Ja, wenn ich wenigstens noch eine Figur wie der Belling hätte und die dazugehörende Tango-Gelenkigkeit in den Waden, dann wären mir jede Nacht die zwanzig Franken sicher, und die noch hinzukommenden ›Trinkgelder nach Belieben‹. Ich kenne ein paar solcher Lokale, wo man als Eintänzer sich aufspielen könnte. In dem einen arbeitet der Universitätsprofessor Horn als Zapfer, und seine Frau geht mit dem Schokoladenkasten herum. Aber man müßte, wie gesagt, Belling sein, dessen Schnauze und Ellenbogen haben. Und überall und immer auf die Beine fallen können.«

»Seien Sie froh, daß Sie es nicht sind. Der Mann hat sich mit Eleganz um- und gleichgeschaltet, um in der Akademie und im Geschäft zu bleiben. Früher hat er Gewerkschaftshäuser innendekoriert und die Leute hochgenommen nach Strich und Faden. Heute richtet er mit derselben Chuzpe und Mache die perversen Buden von Göring und Goebbels ein. Ein schlanker, ein gelenkiger, ein in allen Duftwassern gewaschener Junge!«

»Diesen Typ hat Wedekind verpaßt.« 295

»Ein Gedanke. Bringen Sie ihn auf die Bühne.«

»Nee, mein Herr, dafür sind jetzt seine Abziehbilder da. Aber die scheinen auch nicht zu funktionieren, oder man läßt sie nicht, höchstens bei Ausgrabungen, Nero, Dschingis Khan oder so.

Und Sie meinen: man soll bleiben, was man ist: ein von Hitler zum Untermenschen degradierter Kunstschriftsteller a. D.? Wissen Sie, dieser Hitler hat mich übrigens auf eine Idee gebracht. Als er in Wien sich noch in dem Obdachlosen-Asyl als ›akademischer Kunstmaler‹ herumtrieb, fertigte er herzige Aquarelle an und setzte sie in Bilderrahmengeschäften ab. Ich plagiiere momentan diese Idee. Ich erhalte zehn Franken pro Stück. Dafür darf ich auch wieder in meiner Mansarde sein und davon träumen, dermaleinst Führer des deutschen Volkes zu werden. Warum auch nicht? Was du nicht willst, daß man dir tu', das füge auch keinem anderen zu! Leider ist man bei den Emigranten noch nicht soweit, sofern sie mit Literatur umgehen, nach dieser Façon endlich selig zu werden. Da ist immer noch einer dem anderen sein Teufel, genau wie im Romanischen Café. Sie können zusammen nicht kommen vor lauter Ich-Bespiegelung und Vetternwirtschaft in Gruppen. Darin liegt ein Stück von der Ursache, daß wir den Hitler und überhaupt eine Emigration haben.«

Als dieser mit einem deftigen Galgenhumor behaftete Emigrant für einen Augenblick aufstand und die Toilette aufsuchte, steckte Doktor Grätz ihm fünf Hundertfranken-Scheine in die Innentasche des Regenmantels, der über der Stuhllehne hing.

Der Kunstkritiker begleitete Doktor Grätz bis zu dem kleinen Hotel in der Rue de Rivoli. Man vereinbarte eine neue Zusammenkunft im Café du Dome auf dem Montparnasse. Und Doktor Grätz meinte: »Vielleicht treffen wir dort auch die Elsa Joachim, falls ich sie bis morgen in der Pension nicht gefunden habe.«

In der Pension Rue de Lafayette 97, dritter Stock, wohin Doktor Grätz am nächsten Vormittag gefahren war, sah es im Ungefähren so aus, wie der Kunstkritiker seine Mansarde geschildert hatte. Madame Leroux war sehr höflich und glaubte, einen neuen Mieter einfangen zu können. Als Doktor Grätz aber erklärte, was er hier wolle und wen er suche, war aus dem zwitschernden Leuchten der Zweizentner-Frau ein sehr saurer Abwehrblick geworden.

»Gewiß«, brummte sie, »haben die beiden Leute hier gewohnt. Vier Monate sogar. Aber davon sind zwei ohne Bezahlung der Miete geblieben. Und für drei weitere haben sie mir das Zimmer versaut. Wer 296 wird denn noch ein Appartement bewohnen wollen, wo Blut und Gehirn an den Wänden klebt?«

Eine Viertelstunde lang hatte die Frau die Schleusen ausströmen lassen und dabei eine Wut gehabt, gebrüllt, gelacht, geweint. Und es wäre doch mit ein paar einfachen und ruhigen Worten zu sagen gewesen, was eigentlich hier vorgefallen war.

Vorgefallen war einer der äußersten Abläufe dieser Emigration. Einer von einem Dutzend im Monat: in Paris, Prag, Amsterdam und London. Überall dort, wo ein Emigrant dem anderen die Hühneraugen abtrat, wo man wie in einem Ghetto lebte, gekennzeichnet durch die Fieberflecke des Hungers und der grauenhaften Verlassenheit von allem.

Der junge Schriftsteller S. hatte zuerst Elsa und dann sich die Schläfen zerschossen. In jener Nacht, das rechnete Doktor Grätz sich jetzt aus, als auch die Verstümmlung von Etzien geschah, im Folterkeller des Columbia-Hauses, und Göring sich von dem Schauspieler Müthel den Marquis Posa vorspielen ließ und sogar die Gedankenfreiheit aufnahm, ohne nach dem Richtschwert zu greifen.

Doktor Grätz bereinigte die Schuld. Ein paar Hefte, in einem schon angeschimmelten schwarzen Wachstuch, tauschte er für das Geld ein. Es waren die Tagebücher der Elsa Joachim.

Er las darin aber erst, als Paris schon ein paar Stunden hinter ihm lag. Und er stieß, im Herumblättern der aufgezeichneten grauenhaften Erlebnisse, auch auf ein Gedicht von diesem S. Es hatte die erhofften hundert Franken, womit man sich für eine Woche oder zwei hätte retten können, wie Elsa schrieb, nicht gebracht. Es war von einer Emigranten-Zeitschrift, die im Geruch stand, Honorare zu zahlen, wegen »Überfülle an Material« zurückgeschickt worden. Und der Mann, der diesen Bescheid unterschrieben hat, lebt heute noch, mit sanften blauen Augen, in einem rosaroten Seidenhemd zwischen Detroit und Wien.

Doktor Grätz las dieses Gedicht so lange, bis er es auswendig sprechen konnte. Und er sprach es in diese Landschaft hinein, die er unter einem süddeutschen Vollmond jetzt durchfuhr:

»Schwermütig schwankt der schwarze Wein
an dem zerbröckelten Spalier
und schläfert die Reseden ein,
die Falter und das Schneckentier. 297

Die Bäume schauern dämmerblind.
Verloren rinnt zu seinem Grund
das Wasserspiel zurück; im Wind
verstört wehklagt ein Kindermund.

Von Vaterhaus und Mutterland:
es blieben ihm die Nebel nur.
Im frostigen Gott-Unbekannt:
der Schnee verweht auch diese Spur.

Um Mitternacht: es traf mein Ohr
ein Schrei, den niemand mehr vergißt,
der so wie ich sich schon ins Nichts verlor
und nie und nichts gewesen ist.« 298

 


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