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Margarethens Sylvesterabend.

Es ist selten, daß ein neues Jahr in finstern, stürmischen Nächten seinen Einzug hält. Wenigstens so weit ich zurückdenken kann, kam es meist in einer klaren, sternhellen, schneekalten Nacht. – Eine solche war denn auch heute, – nicht zu rauh, eben die frische belebende Kälte, in der man sich gern ein Weilchen umtreibt, und die uns doch die warme Stube nachher recht lockend und behaglich macht.

Die Straßen waren ziemlich belebt, und aller Orten schien sich eine fröhliche Neujahrsfeier vorzubereiten. Muthwillige Burschen mit Pistolen und alten Büchsen rotteten sich zusammen, um der klugen Polizei zum Trotze das Neujahr anzuschießen, unaufhörlich schellten die Glöcklein der Kaufladen und Konditoreien: Punschessenz, Arrak, Orangen, feines Backwerk für elegantere Zirkel, – Kaffee und Brezeln für einfachere Kreise wurden noch geholt; alle Wirthschaftslokale waren erleuchtet, da und dort rauschte schon Ballmusik, zu Fuß und zu Wagen kamen wohlverhüllte Damen an, und verrätherisch schimmerten die luftigen Ballgewänder unter dem dunklen Ueberwurf.

Auf dem Marktplatz fing bereits Publikum dritter Klasse sich zu sammeln an; es war seit alter Zeit so, daß junge Leute aller Art hier den zwölften Schlag der großen Rathhausglocke erwarteten, um sich dann, so geräuschvoll als möglich, das neue Jahr abzugewinnen, das heißt, dem Andern zuerst »Prosit Neujahr!« zuzurufen. Dieser Zeitpunkt war zwar noch fern, der Zeiger stand noch nicht einmal auf neun; aber wer übrige Zeit hatte von dem jungen, warmblütigen Volk, der fand die Promenade jetzt schon vergnüglich. Mit vornehmen Köpfchen schnurrten die Bürgerstöchterlein an Dienstmädchen und ehrsamen Handwerksgesellen vorüber, hatten dagegen viel zu kichern und zusammenzuflüstern, wenn ein Trüppchen lustiger Studenten ihnen im Vorbeigehen neckische Worte zuwarf, oder Miene machte, sich dem Zuge anzuschließen.

Ganz oben, im Dachstock eines der hohen Häuser auf dem Marktplatz, blinkte ein bescheidenes Lichtlein hinter geschlossenen Jalousieen auf das leichtsinnige Treiben herunter, – es brannte in dem Stübchen der Frau Margarethe Hauser, einer vielgesuchten Pflegerin für Kranke und Wöchnerinnen in der Stadt.

Das Stübchen war gar behaglich, und es war der Frau Margarethe nicht übel zu nehmen, daß sie so recht geruhig auf dem alten Lehnstuhl in der warmen Ofenecke sitzen blieb, und sich wenig kümmerte um den fröhlichen Tumult auf der Straße. Auf dem Tischlein vor sich hatte sie den alten Arnd aufgeschlagen, an dessen frommen Betrachtungen und anmuthigen Bildern sie sich immer wieder aufs Neue erbaute.

Ein gewisser bescheidener Luxus zeigte sich in dem Stübchen: zwischen den zwei Fenstern der Vorderwand stand ein Sopha mit zitzenem Ueberzug, davor ein alterthümlicher, eichener Tisch mit schweren, gedrehten Füßen, zur Seite eine gebohnte Kommode mit Aufsätzen, oben mit blauen Meißner Tassen und einem Napoleon und Papagei von Gyps verziert, die einträchtig neben einander standen; Frau Hauser war weder für den einen noch für den andern besonders eingenommen, aber aus Pietät für den seligen Hauser, der sie einst gekauft und aufgestellt hatte, ließ sie sie stehen.

Das Bücherbrett mit ihrer kleinen Bibliothek, meist geistliche Bücher, stand über dem reinlichen Bett im Alkoven; daß zwischen dem ehrwürdigen Scriver, Hiller und Spener ein altes Commersbuch stand, hätte Niemand der respektablen alten Frau zugetraut; auch die grüne Studierlampe nahm sich auf ihrem Tischchen etwas leichtfertig aus und wurde ihr von Basen und Nachbarinnen als ein Hochmuth ausgelegt.

Frau Margarethe schien aber weder leichtfertige noch hochmüthige Gedanken zu haben, wie sie so da saß, recht andächtig in das oft gelesene Buch vertieft; eben hatte sie unter den Gleichnißbildern eines aufgeschlagen, das nach der Umschrift darstellt: »Eine Hand so Zwiebeln schneidet,« mit der Unterschrift: »Nicht ohne Thränen.« – »Nicht ohne Thränen,« sagte sie vor sich hin und nickte nachdenklich mit dem Kopf dazu, »ja wohl nicht ohne Thränen.« Sie war so in ihre Betrachtung versunken, daß sie nicht einmal hörte, wie ihre Nachbarin, die Wäscherin vom Hinterhaus, in ihr Stübchen trat, – ohne zu klopfen, denn »bei Nacht klopfen die Hexen an,« ist die Volksmeinung.

»Wollt nur mein Lämplein bei Ihr anzünden, Nachbarin; hab keine so Dinger, so Zündhölzer mehr im Haus; so ein Büchslein ist auch viel leichter verlegt, als vor Zeiten ein ordentliches Feuerzeug.« »Sitzt Sie nicht ein Bischen, Nachbarin?« fragte Frau Hauser, obschon sie lieber allein geblieben wäre; »Sie wird's Sitzen schon leiden können.« »Da hat wieder Sie Recht, Nachbarin,« sagte die Wäscherin, sich auf einen Stuhl niederlassend, von dem sie ohne Umstände die Katze mit einem Puff vertrieb; »zu waschen gab's zwar heut' nichts, aufs Neujahr richten die Leute doch nicht gern eine Wäsche an; war nur im Putzen bei Professor Bullers, damit die faule Rike gewiß auch auf dem Markte herumscharmuziren kann.« »Nun, so hat Sie doch auch noch einen Verdienst vor den Feiertagen,« warf gutmüthig Frau Margareth ein. »Da hat wieder Sie recht,« gab die gestrenge Frau Metzger zu, »aber ich sag' nur: wenn's uns, oder meinetwegen mir allein – Sie hat ja nicht gedient – aber wenn's mir in meinen Diensten passirt wär, daß ich in der Neujahrsnacht auf dem Marktplatz hätte 'umspazieren wollen, meine Frau selig, weiß Sie, die selige Kreuzwirthin, der alte Drach', – ja, ich weiß nicht, was sie mir gethan hätt'; die eiserne Kachel an den Kopf werfen, wäre noch das Höflichste gewesen.« »Nu, ist gut, daß die Frauen nicht mehr so bös sind,« sagte beruhigend Frau Hauser; »die Rike ist ein junges Mädle, der ist auch ein Vergnügen zu gönnen; uns selbst gelüstets nicht mehr zum Spazieren, nicht wahr, Nachbarin? wir sind froh, wenn wir am warmen Ofen sitzen dürfen.« »Ja, ja, ist schon wahr, da hat wieder Sie recht,« bruttelte die Wäscherin; »nun, Ihr Geschäft ist mehrentheils in der Stube; wäre aber doch nicht mein Geschmack, bei den Kranken zu wachen, ich habe doch zuletzt meine Nachtruh nach dem Waschen, wenn's auch oft nur die halbe Nacht ist; wird Ihr d'rum auch wohlthun, daß Sie einmal über die Feiertage daheim bleiben kann.« »Freilich, es ist seit Jahren das erstemal, und wenn das liebe Büblein bei Stadt-Pfarrers nicht gestorben wäre, so wäre ich noch nicht daheim,« sagte Margareth mit einer Thräne im Auge; »o, Sie weiß nicht, Nachbarin, wie man eine Liebe faßt zu so einem Kindlein, ich meine oft noch bei Nacht, ich müsse zu ihm hinüber sehen! Giebt freilich oft auch schlimmere Nächte bei Kranken!« – »Ja, ja, muß aber jetzt doch heim,« sagte die Wäscherin, so gern sie sonst Krankengeschichten hörte, »habe der Magd drüben versprochen, ich wolle für sie einheizen, wenn ihr Herr heimkommt, der alte Bruttler von Doktor, der doch nirgends hingeht; hätt' sonst auch gar kein Licht mehr angezündet. Gut' Nacht, Hauserin!«

Frau Margareth blieb zurück und schickte sich an, zu Bette zu gehen, sie hatte niemand, dem sie das Neujahr abgewinnen konnte, nur fiel ihr noch ein gar schönes Lied zum Jahresschluß ein, das ihr der fromme Herr Pfarrer, den sie in der Schwindsucht verpflegt, eigenhändig aufgeschrieben hatte; sie schloß, um es zu suchen, die unterste Schieblade ihrer Kommode auf, wo sie all ihre Heiligthümer verwahrte.

Sorgfältig geordnet lagen da gar mannigfaltige Gegenstände aus alter und neuer Zeit; sie blieben oft lange unberührt, da Frau Margareth durch ihren Beruf monatelang fern gehalten sein konnte. Es waren Andenken von Kranken, die sie verpflegt, kleine Jäckchen und Mützchen von Kindlein, die der Tod ihrer Sorge entnommen, ein Leintuch und ein feines, langes Hemd, das sie schon seit Jahren bereit gelegt für ihr eigenes Begräbniß, – nur das Gedicht wollte sich nicht gleich finden.

Aber etwas ganz Anderes als das fromme Lied des geistlichen Herrn hatte die Hand der alten Frau gefaßt, einen ganz leichtfertigen Gegenstand, eine rothe Studentenmütze, – ein Cereviskäppchen mit einer gewaltigen Troddel! – und Frau Margareth ließ die Schieblade offen stehen mit all den Heiligtümern und setzte das Mützchen vor sich auf den Tisch, und sah es an mit seltsamem Lächeln, bis ihr die Augen übergingen, bis sie den Kopf auf den Tisch legte in heißem Weinen.

Es war kein bittres und trostloses Weinen, es waren Thränen, wie sie als alte Jugendfreunde gar selten noch einkehren bei dem Alter, recht junge Thränen, die das Herz leicht machen, die den Schleier wegziehen, mit dem man vergangene Tage fein sachte zugedeckt hat, und sie mit einem Male wieder frisch und lebendig vor die Seele stellen.

Die Mütze hatte nicht einem Sohne der Frau Margareth gehört; – sie, die so viele fremde Kinder gepflegt, hatte nie ein eignes Kindlein auf den Armen gewiegt; – – aber ein andrer, ein längst vergangener, ein langeverhüllter und doch unvergessener Sylvesterabend war mit diesem Anblick wieder vor ihrer Seele aufgetaucht.


Es war in derselben Stadt gewesen, – Frau Margarethens Leben hatte nicht viel äußern Wechsel erfahren, – auch damals war sie in einer bescheidenen bürgerlichen Stube, statt des zitzenen Sophas nur mit einem hölzernen Kanapee versehen. Und die respektable Frau Margarethe Hauser war damals Schlosser Müllers Gretchen gewesen, eine recht frische, rosige Knospe, ein unbefangen, bescheidenes Kind, häuslich fleißig, und im Stillen daheim erzogen. Die Mutter hatte streng darauf gesehen, das Mädchen fern zu halten von all dem Verkehr mit Studenten, der den Bürgertöchtern einer Universitätsstadt leicht einen gewissen Bildungsgrad, aber auch eine bewußte Koketterie gibt, die sie verdirbt für das schlicht bürgerliche Leben. Darum war es ihr auch recht gewesen, daß seit Jahren schon der vermögliche, ledige Secklermeister das hübsche obere Quartier ihres Hauses bewohnte und sie nicht genöthigt war, es an Studenten zu vermiethen. Seit einem Vierteljahr aber hatte der Meister, dem das Treppensteigen gar schwer fiel, sich ein eigen Häuschen in der Nachbarschaft gekauft und die Schlosserin hatte nicht hindern können, daß ihr Mann die zwei hübschen Zimmer an einen Studenten vermiethete, und einiges Vergnügen machte ihr's, daß sie die Stuben neu tapezieren und hübsch meubliren durfte; sie zeigte des »Herrn« Zimmer recht wohlgefällig ihren Nachbarinnen. Es war so weit auch ein recht ordentlicher Herr, vornehmer Leute Kind, die Frau Mama hatte ihm selbst seine Sachen eingeräumt, hatte bei dieser Gelegenheit einen Besuch in des Schlossers Stube gemacht und ihren Eduard der Sorgfalt der Hausfrau recht empfohlen. Gut war es vielleicht für die Ruhe der vornehmen Mama gewesen, daß die Schlosserin das schöne Gretchen für die Zeit des Einzugs zu des Müllers Base geschickt hatte, um bei der Hopfenernte zu helfen; ganz beruhigt über die ordentlichen Leute reiste die Frau Oberfinanzräthin ab.

»Nun siehst, Weib, daß es nichts so Arges um einen Studenten ist,« meinte der Schlosser nach einigen Wochen, als der neue Hausgenoß nach einem freundlichen Gespräch mit dem Meister unter der Thür der Werkstatt eben die Straße hinauf ging; »es ist ein ganz gemeiner Herr, manierlich und freundlich, kommt zur Zeit heim, geht in seine Stunden und zahlt gewiß auch ordentlich.« – »Hab' nichts entgegen, wenn nur das Mädchen nicht wär! Ich bedien' ihn zwar ganz allein, laß sie niemalen in seine Stube; aber siehst du denn nicht, daß er sie auf Wegen und Stegen begegnet und grüßt? und in das Mädchen, die ja sonst still ist, ist jetzt eine Lust und ein Leben gefahren, daß man sie nicht mehr kennt.« »Ach was!« sagte der Schlosser, »solche Geschichten bilden sich die Weibsleut' ein, Ihr müßt gesorgt und gejammert haben: guckt man nicht nach Eurem Mädle, so ist's lez (unlieb) – guckt man nach ihr, so ist's wieder lez; Ihr heult bis sie einen Mann hat, und hat sie einen, so heult Ihr erst recht. Laß Du's in Gottesnamen gehen, und hüt' nicht zu viel; das Mädchen muß lernen ihren Weg in Ehren gehen und mit allerlei Leuten verkehren.« – »Nun ja, ich will nichts gesagt haben, gar nichts,« sagte die Mutter, »aber umsonst red't er nicht so mit ihr, und zieht die Kappe ab, wie vor einem Fräulein, und hat ihr neulich ein Sträußlein offerirt, will aber nichts gesagt haben, gar nichts, kein Brösamle nicht …; wenn nur der Seckler drüben nicht so gar kränklich wäre, und so viel älter als das Mädchen, – rechtschaffen ist er, und das Häusle hat er, auch das Gütle, sie könnten ein Schwein halten, nichts desto schöners, – und gern hat er sie, – ich wär soweit wieder ruhig; aber sie ist doch noch so gar schrecklich jung …, will aber gar nichts gesagt haben; im Gegentheil.«

Sylvesterabend kam; die Mutter hatte es rundweg abgeschlagen, als Gretchens Freundinnen sie auf den Marktplatz abholen wollten. »Der Nachbar Seckler kommt herüber und wir trinken einen Kaffee zusammen, ich habe einen dicken Kuchen gebacken, daß wir auch eine Lustbarkeit haben; das Fortlaufen taugt nichts,« war ihr kurzer Bescheid, und Gretchen hatte sich ohne Murren darein gefügt.

So saßen sie denn nun um einen eichenen Tisch, der jetzt noch die Stube der Frau Margarethe zierte; den Ehrenplatz auf dem hölzernen Kanapee nahm der Nachbar Seckler, der ehemalige Hausbewohner, ein, ein kränklich und gutmüthig aussehender Mann mit einem bleichen, etwas aufgedunsenen Gesicht; er hatte sich seiner kränklichen Umstände wegen zu dem Luxus eines blaugewürfelten Schlafrocks aufgeschwungen, den er als ein höchst elegantes Kleidungsstück zu diesem festlichen Abend ohne Bedenken trug; der Schlosser neben ihm, dessen männlicher Schritt und aufrechte Haltung den ehemaligen Soldaten verkündeten, hatte sich möglichst sauber gewaschen und das gestrickte grauwollene Hauswamms angelegt; er war ein langer, hagerer, robuster Mann, versicherte aber immer, daß ihm vom russischen Feldzug ein Butzen geblieben sei, und er nicht zu alt werde; auch die allzeit geschäftige Hausfrau hatte sich mit dem Strickzeug zur Ruhe gesetzt, und nun erschien Gretchen mit dem glänzend braunen Kaffeegeräth, – Gretchen, frisch und hell, ein Maienröslein mitten im kalten Winter.

Der dicke Kuchen war wie ein Taufstein so groß. Der Lehrling, der am Ofen saß, hatte sich mit seiner Portion schon davon gemacht, um an dem Gassenunfug Theil zu nehmen. Eben kam Gretchen endlich dran, für sich selbst in die hübsche blaue Tasse einzuschenken, die sie einmal zum Hochzeitstrauß erhalten, da flog die Thür auf und mit einem heitern: »Guten Abend beisammen!« stürmte im Sammtrock und rothen Cereviskäppchen der Student herein, – ob jemand das helle, lichte Freudenroth auf Gretchens Wangen gesehen, weiß ich nicht. – Frau Müller erhob sich etwas ceremoniös: »Befehlen Sie etwas, Herr Henrichs? ich wußte nicht, daß man heute einheizen soll!« »Man soll auch nicht einheizen, und ich befehle auch nichts!« rief fröhlich der Studio, »ich bitte nur um ein Täßchen von Ihrem Kaffee, Frau Müller, und um ein Stückchen von dem gebackenen Mühlrad da, – es ist ungemüthlich, heut Abend allein zu bleiben.« Und in freier, doch nicht unbescheidner Weise schob er zwischen die Mutter und Gretchen einen der hölzernen Stühle, deren Lehnen künstlich gewundene Schlangen bildeten. Halb geschmeichelt, halb beunruhigt, sagte Frau Müller: »Aber das ist nicht Ihnen Ihr Ernst, Herr Henrichs; heut sind ja die jungen Herren überall beisammen, im Kreuz ist Commers und in der Krone ist Ball.« »Wollen Sie mir's übel nehmen, wenn ich nicht zu Ball und Commers gehe?« sagte mit einer Röthe leichter Verlegenheit, die ihm gut stand, der junge Mann, »ich war sonst gewohnt, den Neujahrsabend mit meiner Mutter zuzubringen.« Das bewegte der Frau das Herz, und der Schlosser rief erfreut: »Das ist schön, junger Herr, daß Sie mit uns vorlieb nehmen; so freut mich's; Sie werden dafür einmal recht schöne Neujahrsabende im eignen Hauswesen erleben, wenn Sie ihn in der Jugend nicht so in Rausch und Bausch zubringen.« In dem Augenblick reichte Gretchen dem Studenten die blaue Tasse, die zum Glück noch unbenutzt war; seine schwarzen Augen sahen tief, tief in ihre blauen; die Liebe, die junge frische Liebe, die da kommt ungesucht, unbegehrt und unbewußt, zog in ihr junges Herz, und mit ihr der volle Glaube und die süße Hoffnung, alles müsse gut gehen, und da war kein Fragen, wie und warum?

Unbewußt, – denn Gretchen verlebte den Abend wie in einem goldnen Traum. Es war über sie gekommen wie ein unerhörtes, nie geahntes Glück; – daß er, der schöne, gescheidte, vornehme Herr, dem alle Freude und Lust offen stand, – daß er einkehrte in ihrer niedern Stube und unter ihnen vorlieb nahm, – ach, Gretchen war bescheiden, aber sie hätte denn doch kein Mädchen sein müssen, wenn sie nicht gefühlt hätte, es geschähe ihr zu lieb, – sie fragte, sie dachte, sie sorgte nicht; sie fühlte sich nur glücklich, unaussprechlich glücklich.

Bei Kaffee und dickem Kuchen blieb es aber nicht allein; Henrichs brachte die Theemaschine aus seinem Zimmer, um Punsch zu brauen, er brachte ganze Düten feinen Confekts, das er in zierlicher Ordnung auf die Platte zu den Resten des Kuchens legte. Die Mutter folgte ihm mit bedenklichen Blicken, wenn er so mit dem beglückenden Aussehen, das sehr schwer zu unterdrücken ist für Einen, der etwas bringt, womit er Andre zu überraschen gedenkt, immer wieder neue Vorräthe holte, – der Nachbar, der nur nicht daran gedacht hatte, auch etwas zum Abendschmaus beizutragen, sah etwas verlegen und unbehaglich aus; nur der Schlosser nahm diese ungewöhnliche Generosität in jovialer Weise auf. »Was unter den Augen von Vater und Mutter geschieht, ist nichts Unrechtes,« flüsterte er beruhigend seinem Weibe zu; und als später die Punschgläser dampften und der Student fröhliche Gesundheiten ausbrachte, da schwanden allmählich alle Bedenklichkeiten, selbst der Seckler brachte einen Toast aus auf alte Freundschaft und gute Nachbarschaft, der Schlosser kam mit oft vorgetragnen Schaudergeschichten aus dem russischen Feldzug, ohne zu bemerken, daß Gretchen dazwischen heiter auflachte über allerlei, was Henrichs ihr in's Ohr flüsterte; ihre Wangen glühten wie Purpursammt, ihre unschuldigen blauen Kinderaugen leuchteten in heller junger Freude.

»Es geht ein Lumpidus an unsrem Tisch herum,« rief der Student mit Einemmale und erklärte, was das zu bedeuten habe: – daß Jedes ein Liedchen nach eigner Wahl singen müsse. Zu sprachlosem Erstaunen der Schlosserfrau ließ sich der Nachbar Seckler im blauen Schlafrock gar nicht lange bitten, sondern stimmte mit einem zierlichen Schnörkel und etwas schätteriger Stimme an:

Freut euch des Lebens,
Weil noch das Lämpchen glüht,
Pflücket die Rose,
Eh sie verblü-hü-hü-hüt.

Auch der Schlosser mit seinem gewaltigen Baß sang ein altes Kriegslied mit dem Refrain:

Rosen so roth wie eine Glut
Das bedeutet Soldatenblut.

Nun kam die Reihe an Gretchen, die aber wurde glutroth; sie hatte in der Schule gut singen können und dort allerlei schöne Lieder gelernt, jetzt aber wollte ihr kein einziges davon einfallen. »Ei so mach! sing's nächst' best' Schelmenliedlein!« rief der aufgeheiterte Schlosser. »Fällt Ihnen gar nichts ein?« fragte Henrichs, sie mit unverholnem Wohlgefallen betrachtend: da kam ihr, sie wußte nicht wie? ein Reimlein zu Sinn, das sie seit ihrer Kinderzeit nicht mehr gesungen:

Dort drunten im Thale
Lauft's Wasser so trüb,
Und i kann dir's net sagen …

Da blieb sie aber stecken und brachte nichts weiter über ihre Lippen. »I hab di so lieb,« ergänzte der Student und fing ohne weitere Aufforderung seine Reihe an mit dem Schluß eines Volksliedes, indem er, mit leuchtenderen Augen als zuvor, Gretchens gesenkte Blicke suchte, und leise unter dem Tisch ihre Hand faßte:

Bald gehst du in dein Kämmerlein
Und betest still, du Reine mein;
O bete auch für meine Ruh!
Mein ganzer Himmel bist ja du.

»'s ist an der Frau Mutter,« sagte der Nachbar, »und sie darf sich nicht weigern, ich hab's gehört, daß sie einmal eine der besten Kirchensängerinnen gewesen sei.« »Schelmenliedlein habe ich niemals gelernt,« sagte die Schlosserin mit einem Ernst, der nicht so recht in die fröhliche Stimmung der Andern passen wollte, »aber ich will singen, was ich noch kann;« und mit einer noch vollen und schönen Stimme hub sie das alte Kirchenlied an:

In allen meinen Thaten
Laß ich den Höchsten rathen.

Die Andern, zuerst etwas stutzig über einen so ganz verschiedenen Klang, stimmten bald auch mit voller Stimme in den Gesang ein, selbst der Student, dem das vielleicht zwei Stunden vorher noch unendlich komisch erschienen wäre, sang in gutem, herzlichem Ernst mit; Gretchen aber war es, als ob all die stürmischen Wellen, die in der letzten Stunde ihr junges Herzchen fast zum Zerspringen geschwellt hatten, sich unter den Tönen des frommen Liedes glätteten und ebneten zu einem ruhigen, klaren Strom; all die halbbewußten Träume und Wünsche, das Glück und das Bangen versenkte sie in diesen Strom. Und als sie so recht aus voller Seele den Schluß mitgesungen hatte:

So sei nun Seele seine
Und traue dem alleine,
Der dich geschaffen hat.
Es gehe wie es gehe.
Dein Vater aus der Höhe
Weiß allen deinen Sachen Rath.

war ihr ganz still und selig zu Muthe; da faltete sie unwillkürlich die Hände zu stillem Gebet, als eben jetzt die zwölf bedeutungsvollen Schläge vom Thurme erschollen. Mit vollem, klarem Blick begegnete sie Eduards Augen, als er ihr gute Nacht wünschte und ein glückseliges Neujahr; – und sie wußte am andern Morgen nicht mehr, ob ihr Wachen schöner gewesen sei oder ihre Träume.


Die Gedanken reisen schnell, – in weniger als einer halben Stunde hatte Frau Margaretha schon jenen glückseligen Neujahrsabend wieder durchgelebt, jeden Blick, jedes Wort, – ach und so viel schöne liebe Grüße und Blicke und Worte, die jenem Abend gefolgt waren, und noch Einen Abend, den schönsten und traurigsten von allen, wo die stille Liebe zum erstenmal Worte gefunden hatte, den ersten und einzigen, wo sie sich getroffen hatten, ganz heimlich und allein in dem alten steinernen Gartenhaus im großen Baumgarten, den Abend, ehe Eduard nach dem Willen seiner Mutter abreisen mußte auf eine fremde Universität.

»Ich weiß alles, wie es ist,« sagte Eduard, als er die Hand des zitternden Mädchens in der seinen hielt; »sie wollen es nicht haben; Deine Mutter in ihrer übermäßigen Rechtschaffenheit hat die meinige gewarnt, und so wurde ich mit einemmale überrascht mit der Erfüllung meines lange vergessenen Wunsches, nach Berlin zu gehen, und der Vormund schreibt mir viel Schönes über die Opferwilligkeit meiner Mutter; aber nur Geduld, es ist nicht zu lange, so darf ich selbst über mein Schicksal entscheiden …« »Doch nicht ohne Deiner Mutter Segen?« fragte Gretchen erschrocken, in kindlicher Scheu die großen blauen Augen zu ihm erhebend. »O nein, nein, Kind,« beruhigte er sie, »die Mutter versichert ja wieder und wieder, daß sie einzig mein Glück wolle; sie will nur nicht glauben, daß Du mein Glück seiest, – wenn sie aber sehen muß, daß dem doch so ist, daß wir uns treu geblieben, dann, Margaretha, meine süße Perle, – wir leben nicht mehr in den alten grauen Zeiten, wo man Herzen gebrochen hat um Standesunterschiede, – mein Großvater selbst, der Obertribunalrath, war eines Bäckers Sohn, – und mein Gretchen wird eine Perle sein für jeden Stand; komm, Kind, laß uns hier das heilige Wort der Treue austauschen!« »Nein, o nein!« bat Gretchen ängstlich, »ohne Elternsegen ist kein Glück dabei! Du mußt ganz frei bleiben; ich bleibe Dir getreu, das weiß ich wohl; Du aber darfst thun, was Du willst.« »Nun, so bleibe ich Dir auch getreu, und Du darfst auch thun, was Du willst!« rief Eduard lachend.

Sonst waren keine Gelübde ausgetauscht, keine Ringe gewechselt worden an jenem Abend, sie waren geschieden in all dem süßen Weh, dem vollen, seligen Glauben der Liebe.


Und Jahre flogen vorüber an der alten Frau, während sie so da saß, vor sich das rothe Mützchen, das er an jenem Neujahrsabend getragen und das er zurückgelassen, – Jahre, in denen sein Bild der liebe lichte Hintergrund von all ihrem Denken und Thun, von all ihrem Arbeiten und Ruhen gewesen war.

Er war nicht oft gekommen in diesen Jahren. Zweimal nur hatte er flüchtig eingesprochen in der alten Universitätsstadt, einmal in den Ferien, und dann noch einmal, eh er eine große Reise antrat mit einem jungen Prinzen, der aus besondrer Zuneigung den Bürgerlichen zu seinem Reisebegleiter erwählt hatte. Eduards Mutter hatte klug zu arrangiren gewußt, daß er nicht öfter zum Besuche kommen konnte, im Uebrigen hatte sie nie mit ihm über seine Herzensgeschichte gesprochen, sie war sogar seinem Vertrauen ausgewichen und drückte zu den beiden Besuchen ein Auge zu; die Frau Oberfinanzräthin war als eine sehr gescheidte Frau berühmt.

»Thut gar nichts,« erwiederte sie, als Eduards Vormund mit bedenklicher Miene ihr mittheilte, daß Eduard bei seinen alten Philistersleuten und deren hübschen Tochter einen Besuch gemacht; »thut gar nichts, Herr Präsident; ich habe mir erlaubt, wie mir als Mutter zusteht, in Eduards Papieren ein wenig nachzusehen; er korrespondirt nicht mit ihr, aber er macht überschwengliche Gedichte an sie, und betet das Mädchen an, wie einen Engel; eine Liebe dieser Art ist eher ein Sporn, als ein Hemmniß für seine Karriere, sie bewahrt vor vielem. Eine Bekannte von mir, eine gescheidte Frau und Wittwe, hat für ihren studirenden Sohn absichtlich eine Jugendliebe arrangirt, weil der Bengel ohne Vater sonst nicht zu bändigen gewesen wäre.«

Diese beiden Besuche waren kurz gewesen, doch reich genug, um Gretchen neuen Stoff zu langen glückseligen Träumen zu geben. Nur das zweitemal, – das konnte sie nicht verschmerzen, daß er sie da gerade mit der Mutter am Waschzuber getroffen hatte! Sie war freilich immer und überall sauber und reinlich gekleidet, aber, sie hatte ihm ja nicht einmal gleich die Hand geben können, und sein feiner schwarzer Anzug hatte doch gar zu sehr gegen ihr Kattunkleidchen abgestochen! – Er war lieb und herzlich gewesen, als er mit ihr und dem Vater nachher im Zimmer saß, aber doch blieb ihr von diesem letzten Besuch ein peinlicher Eindruck zurück, den sie lange nicht verwinden konnte.

Armes Gretchen, Du hast richtig gefühlt! der Mensch ist von äußern, von augenblicklichen Eindrücken abhängiger, als er selbst geglaubt; und wer weiß, welch elegante, feenhafte Erscheinungen vor dem Auge des jungen Mannes vorübergehen werden, gegen die die aufgeschürzte Gestalt des Bürgermädchens am Waschzuber, wie hell und blau auch ihre Augen, wie frisch und roth ihre Lippen waren, doch nicht recht Stand halten kann.

Gretchen quälte sich nicht zu lange mit diesen Gedanken; die Hoffnung, die süße, goldne Hoffnung tauchte wieder auf. Sie erfuhr, daß Eduards Mutter um diesen Besuch gewußt habe; und welche glückliche Aussicht knüpfte sie an dies stille Gewährenlassen der stolzen Frau, wie heilige Vorsätze faßte sie, wie sie als liebende, demüthige Tochter der Mutter des Geliebten dienen wolle und ihr Herz und ihre Liebe gewinnen! – und das Herz der alten Frau klopfte noch einmal, wenn sie an die selige Erwartung, an das schüchterne Bangen dachte, mit der sie eines Tages die stattliche alte Dame in die bescheidne Stube der Eltern hatte eintreten sehen.

Sie war sehr freundlich, die Frau Oberfinanzräthin, sehr herablassend gegen das arme Gretchen, und sprach außerordentlich verständig. »Ich weiß, mein liebes Kind, daß mein Sohn, wie das bei jungen Leuten oft so geht, großes Wohlgefallen an Ihnen gefunden, ich habe in Wahrheit nichts gegen Sie, liebes Kind, ich respektire auch Ihre rechtschaffenen Eltern, – aber, – Sie wissen, jeder Stand legt Pflichten auf, – ich glaube, daß eine erzwungene Verbindung außer Ihrem Stande auch nicht zu Ihrem eignen Glück ausfallen würde, – und Sie würden gewiß nicht darauf bestehen wollen, selbst wenn Sie ein Recht dazu hätten, eine solche durchzusetzen, wenn es dem Glücke meines Sohnes störend in den Weg träte, eine Last, ein Hemmniß auf seiner Laufbahn würde, … Sie haben kein schriftliches Ehversprechen?« Das arme Gretchen war seither stumm und lautlos da gesessen, die Hand auf dem armen Herzen, das ihr so weh that; nun erhob sie doch ihr Haupt und sagte, ritterlich kämpfend mit ihren Thränen: »ich habe das nie gefordert, aber ich habe Eduard, – Herrn Henrichs, tausend und tausendmal in meinem Herzen Treue versprochen.« »Und gehalten, Frau Oberfinanzräthin,« fiel hier die Mutter ein, die Zeugin der Unterredung war, »ich kann Ihnen sagen, mein Gretchen hat schon recht gute Anstände abgeschlagen …« »Das bedaure ich sehr,« schnitt Frau Henrichs ihr die Rede ab, »verlangt hat dieses Opfer niemand, es wird auch ferner nicht verlangt werden. Sie sind ein verständiges Mädchen,« wandte sie sich zu Gretchen, »Sie werden die Gesinnung meines Sohns am besten aus der Stelle seines Briefes ersehen, die ich Ihnen hier mittheile,« und sie legte selbst einen Brief Eduards in die zitternde Hand des Mädchens. Gretchen kannte seine Hand wohl, er hatte nicht mit ihr korrespondirt, er hatte der Mutter sein Wort gegeben, es nicht zu thun, aber sie bewahrte kleine Blätter, die er zurückgelassen, Gedichte, die sie nie gewagt hatte, auf sich zu beziehen, – und mit dieser Hand geschrieben waren die Worte, die hier vor ihr standen wie in Flammenzügen, so daß sie sie in ihrem Leben nie mehr vergessen konnte …

»Sie mögen recht haben, liebe Mutter; wenn man älter wird, lernt man das Leben und seine Verhältnisse vielfach anders ansehen; ich selbst wußte nicht, daß mein väterliches Vermögen durch die Studienkosten so ganz aufgezehrt ist und sehe allerdings den Zeitpunkt noch gar nicht voraus, wo mir möglich sein würde, ein unbemitteltes Mädchen heimzuführen. Auch gestehe ich, daß ich seither den Werth einer gebildet erzogenen Frau, die Annehmlichkeit und die Vortheile einer angesehenen Familie habe schätzen lernen; – aber, – trotz dem allem, liebe Mutter, obgleich ich kein bestimmendes, bindendes Versprechen gegeben, fühle ich mich doch durch meine Ehre gebunden, und nie, so lange Margarethe Müller sich nicht selbst losgesagt, so lang sie nicht in andrer Weise gut und passend versorgt ist, werde ich mich als frei betrachten, als berechtigt, an eine andre Verbindung zu denken …«

»Haben Sie gelesen?« fragte Frau Henrichs mit weicherer Stimme als zuvor, indem sie das todtenbleiche Gesicht, die bebenden Lippen des Mädchens sah. »O ja, ich danke Ihnen,« sagte Gretchen tonlos und ließ sie den Brief aus ihrer Hand nehmen. »Meine Mittel sind selbst beschränkt,« sagte die Dame zu der Schlossersfrau gewendet, »aber wenn ich irgend etwas thun könnte, eine passende Heirath Ihrer Jungfer Tochter zu befördern, …« »Dank' Ihnen, Frau Oberfinanzräthin,« sagte die Mutter, »wir können zur Noth unser Mädchen noch versorgen, wenn wir auch keine vornehme Braut hätten aussteuern können.« Und die Frau Oberfinanzräthin ging.

Sechs Wochen darauf war Gretchen, die nun allmählich zur Margareth wurde, mit dem Nachbar Secklermeister Hauser verlobt; warum sie so bald eingewilligt, und wieviel sie der Entschluß gekostet, das wußte Gott im Himmel allein. Der Seckler war so vergnügt darüber, als seine kränklichen Umstände es nur immer zuließen und versicherte die Mutter: »ich hab's immer gewußt, Nachbarin, daß es einmal so kommen werde, nur so bald hätte ich mir's noch nicht geschätzt; aber sie soll's gut bei mir haben, so viel an mir ist.«


Gar einförmig wurden die Erinnerungen der Frau Margareth, als sie einmal an diesem Punkt angelangt war, – eine gleichmäßige Ebene, sachte, sachte hinabsteigend, ihr Mann war mehr und mehr schwächlich und krank geworden; wie sie jahrelang geduldig neben seinem Lehnstuhl gesessen, so saß sie viele Jahre geduldig neben seinem Bett, sie hob und legte, tröstete und pflegte ihn. »Gott hätte es nicht besser mit mir machen können,« versicherte sie oft die Mutter, die Einzige, mit der sie noch von den alten Tagen redete, »ein junger lebenslustiger Mann hätte nicht mehr für mich getaugt, dem Hauser sein stilles Wesen ist eben gut für mich und dem kann ich doch noch etwas zu liebe thun.«

Der vielen schweren Tage, der langen, langen, schlaflosen Nächte gedachte sie jetzt nicht mehr, sie dachte nur der Segensworte ihrer sterbenden Eltern und der Nacht, wo sie zum Letztenmal mit ihrem seligen Mann gebetet hatte; er hatte ihr die Hand gegeben und gesagt: »Unser Herrgott wird Dir's noch vergelten, was Du an mir gethan hast,« und diese Worte hatten einen friedlichen, tröstlichen Eindruck in ihrer Seele zurückgelassen.

Ihr Herz und Sinn war gar stille geworden in den langen Jahren an dem stillen Krankenbett, wo die Welt und ihr Treiben nur so fern an ihr vorüber zog. Von Eduard Henrichs hatte sie einmal gehört, daß er mit einer vornehmen Dame verheirathet sei; wenn sie ihrem Mann die Zeitung vorlas, so las sie da je und je seine Beförderung zu einer höhern Stelle, – es klang ihr wie aus einer fremden Welt, sie betete nur darum, daß sie ihn im Himmel einmal wieder sehen dürfe.

Sie war sehr allein, als man ihren Gatten zu Grabe trug, die Eltern, denen sie ein gutes, treues Kind geblieben war, waren noch vor ihm gestorben. Sie war nicht arm, aber sie war nicht gewöhnt für sich allein zu leben und zu sorgen, so gab es sich fast von selbst, daß sie Krankenwärterin wurde, zuerst bei guten Freunden, dann wurde sie weiter und weiter gesucht; Frau Margaretha Hauser war wirklich eine Berühmtheit in ihrem Fach geworden.


Es war denn doch spät geworden über dieser Wanderung in vergangene Tage; Frau Margarethe gedachte nicht den Schlag zwölf abzuwarten, ruhige Nächte waren ein so seltner Genuß für sie. So öffnete sie denn den Alkoven, damit sich das Bischen Wärme hübsch hineinziehe, und schickte sich an zu Bette zu gehen. Ihr junges Glück und Herzeleid legte sich allmählich wieder zur Ruhe in ihrer Seele, und sie fühlte das harmlose Behagen, mit dem sie immer wieder nach längerer Abwesenheit ihr eigen Stübchen, ihr eigen gutes Bett in Besitz nahm.

Sie hatte das Mützchen wieder verwahrt in der Kommode, wo unter Andrem auch, sorgsam eingewickelt, versiegelt und überschrieben, sechs silberne Löffel lagen, ein Hochzeitgeschenk der Frau Oberfinanzräthin; sie hatte sie nicht zurücksenden wollen, aber sie hatte sie nie berührt, nach ihrem Tode sollten sie Eduard Henrichs oder dessen Erben zugesandt werden. Eben legte sie auch die sauber gefältete, weiße Haube sorgsam in ein andres Fach, – da schellte es draußen, hell und durchdringend, es war ein wohlbekannter Ton. »'s ist der Hauserin ihr Glöcklein,« sagte die Familie im zweiten Stock, die der Ton einen Augenblick vom Glühwein aufgescheucht hatte; »'s ist nur der Hauserin ihr Glöcklein,« sagte der alte Junggesell im ersten, und zog sich die warme Decke besser hinauf.

Margarethe kannte den Ton am besten, sie war nicht nervös und war gewohnt, ihr eignes Behagen zu vergessen. »Komme gleich!« rief sie aus dem Fenster und hatte schnell die wollene Haube aufgesetzt, das warme Umschlagetuch umgenommen, ihre Kasten verschlossen, ihr Laternchen angezündet und die Lampe ausgelöscht. »Sie ist's, Bärbel?« fragte sie unten die Hausmagd von der Krone, die noch athemlos vom schnellen Lauf vor der Hausthür stand, »was gibts denn bei Euch, gerade heut Nacht?« »O Frau Hauserin,« keuchte die Magd, während sie mit ihr vorwärts schritt, »Gottlob, daß Sie da sind, man hätte schon früher nach Ihnen schicken sollen, aber die Frau ist eben nicht dazu gekommen vor Gethu'; bei uns gehts gräulich her; der Ball und der Lärm und der Punsch und der Glühwein, und oben der kranke Herr, der geschrieen hat im Trillirium!« – »Ein fremder Herr, und was fehlt ihm?« »Ach, 's ist ein vornehmer Herr, ein Justizrath oder was sonst von der Versuchungs-(Untersuchungs-)Commission, wo hier war. Der Herr wollte gestern schon fort, ist aber krank worden am Tubus oder so, und heut ist's schrecklich.« – Sie waren am Haus angekommen, der Oberkellner, der eben mit fliegenden Haaren und wehender Serviette aus dem untern Zimmer stürzte, erkannte die Krankenwärterin und flüsterte: »Nur leise, ganz still, Frau Hauser! Die Herrschaften im Haus dürfen nicht gestört werden. Sie können den kleinen Laufjungen mit hinauf nehmen, daß er besorgt, was Sie brauchen; nur daß hier Niemand etwas merkt.« – Im untern Wirthszimmer, wo sie vorbeischritt, saßen alte Herren, die sich schon ein nettes Sylvesterzöpflein angetrunken; sie stießen unaufhörlich mit einander an, und sangen: »Es kann ja nicht immer so bleiben …,« wobei sie nie weiter kamen als: »hier unter dem wechselnden Mo-ho-ho-hond.« Eine Treppe hoch rauschte ihr die prächtige Tanzmusik entgegen, blendender Lichtglanz strömte aus der offnen Thürspalte, luftige, weiße Gewänder, blendende Nacken, mit Perlen geziert, blumengeschmückte Lockenköpfchen schimmerten durch, – Margarethe ging vorüber, ohne den Kopf zu wenden, hinauf nach Nro. Zwölfe, wie der Keller noch nachrief.

In Nro. Zwölfe brannte ein Licht bei dem Bette des Kranken, der sich in wilder Unruhe auf seinem Lager wälzte; die Wirthin, mit einer langen Kerze in der Hand, rannte rathlos vor der Thüre hin und her, ein Zimmermädchen schleppte fort und fort noch Betten herbei, um den Kranken zu bedecken, als wüßte sie ihm keine andere Gutthat anzuthun, obgleich schon qualmende Hitze im Zimmer herrschte. »Gottlob, die Frau Hauserin!« riefen Magd und Wirthin erleichtert mit Einer Stimme, bei Margarethens Anblick. »Sie können sich das Drangsal gar nicht vorstellen,« hub die Wirthin das alte Klagelied an, »die vielen Leute und der Ball, und dieser Herr, – mit dem's zuerst gar nicht gefährlich schien, und auf einmal ist's so gekommen, und merken soll's kein Mensch, und,« flüsterte sie leise, »sie sagen, es ist das Nervenfieber; ich kann schier nicht hinein, mein Mann wüßte sich ja fast nicht zu helfen, wenn ich wegstürbe aus dem Geschäft …« »Gehen Sie ruhig, Madame Greiner,« sagte Margarethe, »war der Doktor da?« »War da, kommt wieder, ist selbst pressirt, hat Tropfen verordnet,« beschied sie die Wirthin im Hinuntereilen.

Geräuschlos trat Margareth in's Zimmer, schloß sorgsam die Laden und ließ die Vorhänge herab, damit das Getümmel von unten weniger heraufdringe; dann entfernte sie das Gebirge von Betten von dem bewußtlosen Kranken, und öffnete vorsichtig ein Nebenzimmer, um die erstickende Hitze zu mildern. Nun schüttelte sie mit leichter Hand die Kissen des Lagers zurecht, half dem Kranken, der in diesem Augenblick alles mit sich anfangen ließ, zu einer bequemem Lage, und reichte ihm die vorgeschriebenen Tropfen.

Der Kranke, wenn auch nur halb bei Bewußtsein, schien doch mit Wohlgefühl die verständig pflegende Hand zu empfinden, bis er wieder in heftiges Delirium verfiel, bei dem auch die erfahrne Margarethe rathlos stand.

Der Arzt kam wieder: »Nun, so ist doch jetzt ein vernünftiger Mensch auf dem Platz!« sagte er zu der ihm wohlbekannten Margareth, indem er des Kranken Puls fühlte, bei dem eben ein ruhiger Augenblick eingetreten war. »Der Fall ist bedenklich, ich fürchte, hoffnungslos,« flüsterte er ihr zu, »ich bin froh, daß Sie da sind, denn lange kann ich nicht bleiben, – ein andrer, dringender Kasus, ein neuer Weltbürger, Sie verstehen mich, – das Leben muß dem Tode vorangehen; hier ist nicht viel mehr zu machen, veritabler Typhus, obwohl er hier ganz vereinzelt auftritt und sonst in diesem Alter selten ist; es scheint, die Kraft war hier lange gespannt und aufgerieben durch anhaltende geistige Arbeit, so ist's oft bei Beamten, – keine Widerstandskraft da.« Er gab Margarethen genaue Vorschriften und schickte sich an, wieder zu gehen. »Hat man den Angehörigen des Herrn etwas gemeldet?« fragte Margareth. »Zweifle, ob es die Wirthin gethan, und ich habe, weiß Gott, nicht Zeit,« sagte rathlos der Doktor. »Darf ich zu einem Geistlichen schicken?« fragte sie etwas schüchtern. »Immerhin,« meinte der Doktor ziemlich geringschätzig, »verderben wird's nichts mehr; ob der Kranke noch was versteht, ist die andre Frage; der Pfarrer könnte dann auch die Familie benachrichtigen, den Namen weiß die Wirthin. Ich komme wieder, sobald ich kann; es wird vielleicht nach der jetzigen Betäubung noch ein Zustand klaren Bewußtseins eintreten, das aber wäre dann wohl der Vorbote des nahen Endes.«

Eilig ging der Doktor die Treppe hinab, und Margarethe, nachdem sie den Knaben zum Geistlichen geschickt, blieb bei dem Kranken, – sie fürchtete sich schon lange nicht mehr, allein an einem Sterbebette zu stehen; – es war, als ob ihre sanfte, erfahrene Hand die wilden Wogen der Krankheit zu beschwichtigen verstände, sie deckte ihn leicht und sorgsam zu, schlang kühlende Tücher um die glühende Stirn, und als seine wilden Phantasieen wieder begannen, setzte sie sich an's Bett, legte leise ihre kühle Hand auf die fieberheiße des Kranken und summte halblaut eine Schlummerweise, deren beruhigende Macht sie früher schon erprobt. Und die unruhigen Träume und Phantasieen wurden ruhiger, während die stillen, blauen Augen der alten Frau ruhig und fest in seine unstät rollenden blickten. Und siehe! das Gesicht des Kranken, obwohl durch Fieber und Todeskampf verstellt, kam der guten Margareth nicht so ganz fremd vor; eine Ahnung durchfuhr blitzartig ihre Seele, eine Ahnung, die sich ihr bald, durch Worte des Phantasirenden, als vollste Wahrheit bestätigen sollte, – aber sie nicht aus ihrer Fassung, nicht aus ihrer geheiligten Wärterinrolle zu bringen vermochte.

»Gretchen,« sagte er unter Anderm, »so, Gretchen, Du kommst auch? Warum siehst Du so traurig aus? Weißt, Du bist ja einmal so lustig gewesen? Komm nicht mehr, Gretchen; ich habe ja Hochzeit gehabt, weißt Du? – Sie hat schönere Kleider als Du, – ja, aber sie ist doch nicht so schön, – kalt, kalt!« – und er hüllte sich schaudernd in die Decke. – Und Margarethens Hand zuckte nicht; ruhig, leise, leicht wie immer that sie dem Kranken die kleinen Dienste zu seiner Erleichterung; nur inniger und tiefer blickte sie ihn an, als wollte sie ihm mit diesem Blick in die Seele gießen, wie innig, wie von ganzem Herzen sie ihm vergeben habe.

Und als er aufhörte zu reden und sein Schlummer ruhiger wurde, da ward der alten Frau eigenthümlich wohl zu Muthe, wie sie so an seinem Lager saß, ihre Hand in der seinen, den stillen Blick auf die zerstörten Züge des alternden Mannes geheftet. So war sie noch einmal allein mit ihm, ganz allein auf der Welt, – es war ihr einen Augenblick, als sei sie sein Weib und sitze hier in ruhiger Pflege des geliebten Gatten.

Ihrer Pflicht vergaß sie darum nicht im mindesten, und die stille, allgegenwärtige Aufmerksamkeit auf die kleinsten Bedürfnisse, auf die leiseste Bewegung des Kranken, diese Eigenschaft, die sie immer auszeichnete, schien sich noch zu verdoppeln.

Endlich erwachte der Kranke und seine Augen sahen mit bewußtem Ausdruck um sich, er blickte Margareth nachdenklich an: »Wo bin ich denn?« fragte er, indem seine Augen im Zimmer herumstreiften. »Sie sind hier in T. krank geworden, wo Sie eine Untersuchung gehabt haben,« berichtete ihm Margareth. »Ah so?« sagte er, sich müde zurücklegend, während Margarethe mit einem kühlen Trank seine heißen Lippen netzte. »Und ich bin ganz allein und fremd hier?« fragte er wieder. »Nicht ganz,« sagte Margarethe mit leise bebender Stimme, »aber bleiben Sie nur ruhig, Sie sind sehr krank.«

Der Kranke aber schien unruhiger zu werden, je mehr ihm das Bewußtsein wiederkehrte. » Sehr krank bin ich?« fragte er mit eigenthümlichem Tone. »Ja, sehr krank,« sagte Margarethe sanft und fest, »aber es ist auch möglich, daß Ihnen Gott durchhilft.« »Es ist möglich, nur möglich?« fragte er wieder mit durchdringender Stimme, richtete sich auf trotz seiner Schwäche und faßte Margarethen am Arm, »wo ist der Arzt, und was sagt er?« »Er wird bald wiederkehren,« sagte Margareth, die, selbst mit dem Tode lange vertraut und ohne Scheu davor, sich nie zu den frommen Lügen an Kranken- und Sterbebetten hatte verstehen können, die Viele für Pflicht halten, »aber er hält Ihre Krankheit für sehr bedenklich.« »So?« sagte er mit demselben seltsamen Ton und schien in tiefes Nachsinnen zu verfallen, während Margarethe still betete.

Es ist eine eigne Sache um die Todesfurcht. Daß wir sterben müssen ist die gewisseste aller Gewißheiten; wir sind damit vertraut seit wir leben und denken, wir denken daran, wir reden davon mit romantischer Sehnsucht oder mit übermütigem Leichtsinn in der Jugend, mit lebensmüdem Verlangen oder mit vernünftiger Ergebung in spätern Jahren, wir können für den Fall unsres Todes sorgen und überlegen, ruhig und kühl, und doch gibt es Augenblicke, wo der Gedanke: du mußt sterben, und was dann? die stärkste, die ruhigste Seele mit namenlosem Grauen erfüllt, wo wir den Tod als den König der Schrecken in seiner ganzen furchtbaren Gestalt ahnen. Wohl der Seele, die ihre Lampe brennend erhalten hat für diese Stunde des tiefsten Dunkels! Wohl auch der Seele, die sich durch dies Grauen noch treiben läßt zu der ernsten Herzensfrage:

Wen suchen wir, der Hilfe thut,
Daß wir Gnad' erlangen.

Es gibt freilich Viele, die eine solche Umkehr und Einkehr in der letzten Stunde als »Galgenbuße« verachten, obgleich der Herr auch dieser Buße einen wunderbaren Trost gegeben in dem seligen Wort: »Heute wirst du mit mir im Paradiese sein.« Es hat auch Viele gegeben mit so starkem oder so leichtem Sinn, daß sie ruhig, festen Schrittes der Stunde des Todes entgegengetreten sind, ohne daß wir hoffen dürften, der Glaube an Den, der dem Tode die Macht genommen, habe ihnen geleuchtet durch das finstre Thal. Der Herr allein kennt die Herzen, und es sei ferne, daß wir richten wollten; aber wir lesen auch von Einem, der, so viel wir wissen, ohne schwere Schuld, in Freuden gelebt hat und leicht gestorben ist, und da er nun in der Hölle und in der Qual war, da hub er seine Augen auf. Laßt uns nicht verächtlich auf den blicken, der hienieden noch lernt, seine Augen aufzuheben, und sei's in der letzten Stunde: »Etliche werden selig werden durch Furcht.« Aber, um eine langbekannte Wahrheit und ein altes Gleichniß zu wiederholen: wartet nicht, die Fackel anzuzünden, die Euch über den dunklen Abgrund leuchten soll, wartet nicht, bis ihr am Rande des Abgrunds seid! Es möchte sein, daß ihr hinabstürzet, eh ihr Zeit dazu gefunden.

Der sterbende Mann hier hatte ein rechtschaffenes Leben gelebt, all seine häuslichen und bürgerlichen Pflichten erfüllt, er hatte als Justizbeamter verstockten Sündern eindringlich, selbst mit einer gewissen Salbung zureden können, er war, wenn er eben gut Zeit und Muße dazu fand, im Tempel gestanden mit dem ernstlich gemeinten Gebet: »Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie dieser Einer,« im Gedanken an die Hefe der Menschheit, mit der ihn sein Beruf zusammenführte; nichts auf der Welt hatte ihm weniger Kummer und Anfechtung gemacht, als die Vergebung seiner Sünden. Warum ergriff denn der Gedanke an die unmittelbare Nähe des Todes sein Herz mit so unaussprechlichem Grauen?

Margarethe hatte schon in manch sterbendem Auge gelesen, auch von diesem verstand sie die stumme Sprache, und während wie ein bittrer Hohn die verworrenen Töne der Musik von unten herauf drangen, hub sie mit ihrer ernsten, sanften Stimme die Worte des uralten Kirchenliedes an:

Mitten wir im Leben sind
Von dem Tod umfangen.
Wen suchen wir, der Hilfe thut,
Daß wir Gnad' erlangen? –
Heiliger Herre Gott, heiliger, starker Gott,
Heiliger, barmherziger Heiland, du ewiger Gott,
Laß uns nicht versinken in des bittern Todes Noth,
Erbarme dich unser!

Wo waren all die schönen starken Worte von der Freiheit des Geistes, von der Würde des Mannes, von dem guten Gewissen, mit dem er vor Gott und Menschen treten könne? Aus der tiefsten Seele des geistesstarken Mannes rang sich das Geständniß: »ich habe nichts gethan, mir mein Kindesrecht dort oben zu sichern« und tröstlich wie aus Engelsmund klangen ihm aus dem Munde der einfältigen alten Frau die Worte: »aber der Herr hat es gethan;

All Sünd' hat er getragen,
Sonst müßten wir verzagen.«

»Ich habe kein Recht daran,« tönte wieder des Kranken schwache Stimme, »das Kreuz war mir ein Aergerniß und eine Thorheit.« »Was der Herr uns gibt, ist Gnade und kein Recht; wir brauchen ja nur Glauben.« »Was ist Glauben?« stöhnte der Kranke, vor dessen verdunkelten Sinnen nur Eine grauenvolle Wahrheit klar stand: »nun ist's Ernst mit dem Tode.« »Glauben ist unsre zitternde Hand, die sich in Gottes starke Rechte legt,« sagte Margarethe mit den Worten eines alten Kirchenlehrers, indem sie an dem Sterbebette niederkniete und ein einfaches Gebet aus vollem Herzen sprach. Und, – was den Weisen und Klugen verborgen geblieben, das hat der Herr den Unmündigen geoffenbaret, – ihrem schlichten Worte ward es gegeben, einen ewigen Trost und eine selige Hoffnung in die Seele des Sterbenden zu bringen. – Sie harrte so sehnsüchtig auf den Geistlichen, er kam lange nicht, aber die Züge des Kranken waren ruhig geworden, er sah sie mit einem freundlichen, friedevollen Blick an.

»Haben Sie keine Botschaft an die Ihrigen,« fragte Margarethe zögernd, »wenn es dem Herrn gefallen sollte, …« »Grüße meiner Frau und meinen zwei lieben Kindern,« sagte der Kranke mit schwacher Stimme, »ich weiß nicht, – ich habe Julien vielleicht nicht Liebe genug gezeigt, – es war nicht alles, wie es sein sollte, – sie soll verzeihen.« – »Wenn unser Herr Pfarrer kommt, haben Sie nichts dagegen, das heilige Abendmahl zu empfangen?« »Nein, o nein,« sagte der Kranke mit aufleuchtendem Blick, – »wie lange schon hatt' ich es daheim verschoben, – mit den Meinigen, –« murmelte er vor sich, »und nun allein, unter Fremden!« Da faßte sich Margarethe Muth: »Nicht ganz unter Fremden,« sagte sie, leise zu ihm gebeugt, – »ich bin einmal das Gretchen gewesen.« – »Das Gretchen, Du?« fragte der Kranke, den jetzt, an der Pforte der Ewigkeit nichts mehr heftig erschüttern konnte, »und Du weißt es, daß ich der Eduard bin?« »Ich habe Sie bald erkannt.« »Und Du hast alles verziehen? Daß ich Dich vergessen und verlassen? Es ist schon lange,« sagte er müde, wie halb im Traum, aber er hielt gern ihre Hand in der seinen. »Alles,« sagte Margareth aus voller Seele, »ich habe für Dich gebetet, jeden Abend.« – –

Sie hörte Geräusch außen, der Knabe kam endlich mit dem Geistlichen, er hatte lange keinen gefunden, da der Erste, zu dem er gegangen, krank war. Er brachte nach Margarethens Bitte die Abendmahlsgeräthe mit.

Noch Ein Lichtblick, Ein Funken seiner alten geistigen Kraft kehrte vor dem Erlöschen in Eduards Seele zurück, als er mit Margarethen das heilige Mahl empfing und mit klarem Auge und aufmerksamem Ohr den Worten des Geistlichen folgte.

Dann legte er sich zurück, wie ein müdes Kind, und winkte leise mit der Hand, daß Alle gehen möchten, nur Margarethens Hand behielt er fest in der seinen und sagte leise: »Bleib Du da, es wird so dunkel.«

Und Margarethe blieb da; er hatte keine Wünsche, keine Bedürfnisse mehr, ruhig saß sie an seinem Lager, die stillen Augen auf den Frieden seiner Züge geheftet und mit leiser Stimme betete sie:

Wenn meine Kräfte brechen,
Mein Athem geht schwer auf,
Und kann kein Wort mehr sprechen:
Herr, nimm mein Seufzen auf!

Es schlug zwölf Uhr, von drunten hörte man Gläsergeklingel und lautes Rufen von Hoch und Prosit! die Trompetenmusik blies schmetternden Tusch, vom Thurm tönte die Musik, – es störte ihre Ruhe nicht, störte nicht mehr den Frieden des Sterbenden, dessen Seele den geheimnißvollen Pfad antrat, auf dem uns kein treues Herz mehr begleiten darf, den nur Einer erhellen kann: der Erstling unter denen, die da schlafen.

Wie lange sie so gesessen, wußte Margarethe nicht; erst als der Arzt wieder eintrat, fühlte sie, daß die Hand, die sie in der ihren hielt, ganz erkaltet war. Leise breitete sie ein Tuch über das erblaßte Angesicht, der Friede des Todes hatte über die gefurchten Züge wieder etwas von dem Ausdruck des Jünglingsantlitzes zurückgeführt; aber dieser Todesfriede war ihr zu heilig, als daß sie gewagt hätte, ihn mit ihren Lippen zu berühren, – sie nahm die kleine Bibel zur Hand, die sie stets auf ihren Krankengängen bei sich führte, und schickte sich an, Wache zu halten bei der Leiche. – –

Der Geistliche hatte der Familie Nachricht gegeben. Die Frau Oberjustizräthin mit einem Sohne und einer Tochter kam in tiefer Trauer; eine hagere Frau mit etwas trockenem, ungemüthlichem Aussehen. Sie schien sehr betrübt, fragte aber nicht viel nach den Einzelheiten der letzten Lebensstunden ihres Mannes. – Es war ein stattliches Leichenbegängniß, wie es einem geachteten und angesehenen Manne ziemte. Freunde und Verwandte aus der Residenz kamen dazu, auch die angesehensten Männer der Stadt gaben dem Fremden die letzte Ehre und fuhren mit ernsten Gesichtern hinter dem Leichenwagen her. Sie kamen von dem schnellen Todesfall auf die Untersuchung zu reden, die den Verstorbenen hieher geführt, auf den gelinden Winter und allerlei gleichgiltige Dinge, und erst als der Wagen an der Kirchhofspforte hielt, fiel ihnen wieder ein, daß sie einen Todten zur Ruhe geleiteten.

Nach der Wartefrau fragte Niemand mehr; die anständige Belohnung, die sie erhalten, legte Frau Margareth in ihr Kästchen für arme Kranke. Für sich nahm sie nichts mit nach Hause, wo sie stille, andächtige Todtenfeier hielt, nichts als ein Löckchen von den spärlichen ergrauten Haaren des Todten, die sie fortan verwahrte bei dem rothen Studentenmützchen. –

Etwas stiller war Frau Margareth geworden seit dieser Neujahrsnacht; aber freundlich und friedevoll war ihr ganzes Wesen noch mehr als zuvor, so daß den Kranken besser wurde, wenn sie nur in's Zimmer trat.

Es kann durch ein ganzes Menschenleben das Gefühl von etwas Unfertigem, einem unausgesprochenen Wort, einer ungelösten Aufgabe, mit uns gehen; – Margarethen war sie nun gelöst, ihr Tagewerk war erfüllt, sie hatte nichts mehr zu fragen und nichts zu klagen, nur warten mußte sie noch.

Das Grab des Fremden hielt sie sorgsam schön grün wie ein Gärtchen, mit den Gräbern ihrer Eltern und ihres Mannes, und es brachte sie in keinen Konflikt der Pflichten; sie wußte nichts mehr von unglücklichem Leben und von getäuschtem Hoffen, sie hatte Frieden gefunden über ihr Bitten und Verstehen.



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