Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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IV.
Kleonidas an Aristipp.

Der schlanke schwarzaugige Jüngling, mit den dunkeln, um Stirn und Nacken herabhängenden Traubenlocken, der dir diesen Brief überbringt, nennt sich Antipater, und ist ein naher Verwandter eines meiner hiesigen Freunde, dem ich es nicht abschlagen konnte, dir den jungen Menschen zu empfehlen.Diogenes von Laerta nennt unter denen, welche die Filosofie Aristipps aus der Quelle zu schöpfen vorzügliche Gelegenheit hatten, einen Antipater von Cyrene; der Nahme ist aber alles, was er von ihm zu wissen scheint. Ob es eben derselbe ist, den wir aus diesen Briefen kennen lernen, oder nicht, kann uns gleichgültig seyn, wenn der unsrige nur gekannt zu werden verdient. Ein löbliches Verlangen, das sehenswürdigste Land der bewohnten Welt zu sehen, und zu Athen, der wahren Hauptstadt dieses an schönen und blühenden Städten so reichen Landes, zu lernen was man in Cyrene nicht lernen kann, hat ihn aus dem Schooß der Seinigen herausgetrieben. Er bedarf aber in einer Stadt, welche, so zu sagen, die ganze Welt in einem Auszug ist, eines Führers, Auslegers und Rathgebers; und an welchen andern hätt' ich mich in dieser Absicht wenden können als an dich, der du, was du schon für jeden andern Menschen thätest, desto lieber für einen Mitbürger thun wirst, der mit dem vollesten Vertrauen auf die Empfehlung deines Freundes Kleonidas zu dir kommt. Bisher haben alle Arten von gymnastischen und andern Leibesübungen beynahe seine ganze Bildung ausgemacht. Er reitet wie ein Thrazier, läuft wie der schnellfüßige Achilles, weiß einen Wagen zu lenken wie der homerische Alcimedon, und im Ringen wird er selbst zu Ägina, der fruchtbaren Mutter so vieler öffentlich gekrönter Athleten, nicht viele finden, die er fürchten müßte. Auch hat er große Lust sich an einem eurer großen Nazionalfeste unter die Kämpfer zu stellen, und die Siegeskränze, womit schon mehrere Cyrener unsre Vaterstadt unter den Griechen verherrlicht haben, wo möglich mit einem frischen zu vermehren. Indessen fühlt er doch (was wenigen seines gleichen zu begegnen pflegt) daß er mit allen diesen Vorzügen nur die Hälfte von einem Menschen ist, daß sein Kopf noch leer ist, und daß Kräfte und Anlagen in seinem Innern schlafen, die der Erweckung, oder vielmehr da sie bereits zu erwachen angefangen, künstlicher Ausbildung und strenger Übung eben so nöthig haben als die körperlichen; kurz, er kommt mit dem rühmlichen Vorsatz zu dir, nicht eher abzulassen, bis er unter deiner Anleitung ein vollständiger Mensch geworden. Ich betrachte es als einen nicht geringen Vortheil für dich und ihn, daß er noch unverstückelt und unverbildet in deine Hände kommt, wie ein schönes Stück rohen aber feinkörnigen Marmors, woraus du, als ein geschickter Bildner, jede schöne Form hervorgehen machen kannst; da hingegen selbst Praxiteles und Polyklet einen Marsyas in keinen Apollo, einen Thersites in keinen Ajax oder Diomedes umgestalten können. Nimm dich also seiner an, lieber Aristipp, und mache dir das Verdienst um Cyrene, uns dereinst in unserm jungen Athleten einen zweyten Milon, an Weisheit wie an körperlicher Tüchtigkeit, wieder zurück zu schicken.Milon von Krotona, der berühmteste Athlet seiner Zeit (er wurde sechsmahl zu Delfi und eben so oft zu Olympia gekrönt, und da er zum siebenten Mahl in die Schranken trat, sogar ohne Kampf, weil sich niemand fand, der es mit ihm aufnehmen wollte) soll auch ein Zuhörer und Freund des Filosofen Pythagoras gewesen seyn. Da dir dein junger Abderit den Muth nicht benommen hat, wenigstens etwas leidliches aus ihm zu machen, so können wir um so viel gewisser seyn, daß aus einem so fähigen Jüngling wie Antipater etwas Vortreffliches unter deinen Händen werden müsse.

Plato, – dem wir seine vor so manchem Jahr an dir und dem armen Kleombrot begangene Sünde doch wohl endlich einmahl vergessen müssen, – giebt den Wißbegierigen (einer Klasse von Müßigen, welche unvermerkt immer zahlreicher zu werden scheint) seit einiger Zeit so viel zu lesen, und wenigstens in dem größten Theil seiner bisher bekannt gewordenen Dialogen so viel Stoff zum Nachdenken und zur angenehmen Unterhaltung zugleich, daß ich den großen Ruf sehr natürlich finde, der seinen Nahmen bereits bis an die fernsten Grenzen unsrer Sprache trägt. Materie und Form sind in seinen Werken gleich nett und anziehend: auch wo er mich nicht überzeugt, (was freylich oft begegnet) verführt er mich doch zu wünschen daß er Recht haben möchte, oder macht auch wohl daß ich ihm wenigstens so lange glaube als ich ihn lese. Wenn sein mündlicher Vortrag nur halb so angenehm ist als der schriftliche, wenn er, wie man sagt, eine der geistvollesten Fysionomien hat, und der Ton seiner Stimme schon das Ohr für ihn besticht, so muß er eine Art von Sirene seyn, deren Zauber nicht zu widerstehen ist. Auch hat er mit den Sirenen nicht nur gemein, daß er

Alles weiß was geschieht auf der vielernährenden Erde,

sondern noch vor ihnen voraus, daß er auch weiß was in der über- und unterirdischen Erde, im Himmel und sogar in den überhimmlischen Räumen geschieht; eine Wissenschaft, deren die homerischen Sirenen, mit allen ihren wenig bescheidenen Ansprüchen, dennoch sich anzumaßen Bedenken trugen. Von einem Manne, der so unermeßlich viel mehr weiß als andere, ist freylich nicht zu erwarten, daß er einem Jüngern, einem Ausländer, und was noch das schlimmste ist, einem der die Miene nicht hat, als ob er sich jemahls unter seinen Zepter beugen werde, mehrere Schritte entgegen kommen sollte. Du wirst also, wenn ihr auch nur in einem leidlich anständigen Wohlverhältniß mit einander stehen sollt, schon das Beste dabey thun müssen; und gewiß wünschen alle deine Freunde, daß du auch hierin, wie in so manchen andern Stücken, der klügere Theil seyn mögest.

Unsere dermahlige Staatsverfassung, nach deren Wohlseyn du dich erkundigest, erhielt sogleich in ihrer Erzeugung eine so gesunde und kräftige Leibesbeschaffenheit, daß es nicht natürlich zugehen müßte, wenn sie sich in der ersten Blüthe ihrer Jugend nicht wohl befände. Der große Punkt, wovon alles abhing, war die Wahl der Personen, die uns nach Maßgabe der neuen Konstituzion regieren sollten. Glücklicher Weise, oder vielmehr durch eine Folge des Zutrauens unsers ganzen Volkes zu deinem Bruder und seinem Freunde Demokles, und der eben so großen Klugheit und Redlichkeit, womit sie dieses Zutrauen zum gemeinen Besten benutzten, fielen die Wahlen wirklich auf die Besten in jeder Rücksicht, ohne Ansehen der Partey, zu welcher sie sich ehemahls gehalten hatten; auf lauter verständige, gemäßigte, der neuen Ordnung aufrichtig anhängende, und größten Theils durch ihre Glücksumstände über alle selbstsüchtige Absichten weggesetzte Männer; auch erhielten sie daher die allgemeine Billigung. So lange diese unsern kleinen Staat besorgen, und vornehmlich so lange Demokles und Aristagoras an ihrer Spitze stehen, und die ihnen anvertraute höchste Staatsgewalt so gesetzmäßig und mit so großer Weisheit und Eintracht handhaben wie bisher, wird der sichtbar zunehmende Wohlstand unsers Gemeinwesens und unsrer Bürger aller Klassen die Verfassung selbst immer mehr befestigen, und einen Rückfall in unsre ehemahlige Übel unmöglich machen.

Die natürlichste Folgerung, die du, lieber Aristipp, aus Vergleichung des glücklichen Zustandes unsrer Vaterstadt mit dem politischen und sittlichen Verfall von Athen ziehen könntest, will ich dir selbst überlassen. Lebe wohl, und liebe deine Abwesenden, wie du von ihnen geliebt wirst.


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