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Elftes Kapitel.
Bill Scarfes Geständnis

Ein so geringes Werkzeug wie Bill Scarfe war es, das den Ruhm des »Würgers« – diesen Namen hatte der Mann mit der schwarzen Maske von seinen Vertrauten inzwischen erhalten – verbreitete.

Bill Scarfe gestattete sich nur wenig Luxus. Ein Stück seiner Lebensweisheit lautete, daß derjenige, der seinen Körper nicht richtig behandelt, früher oder später dafür büßen müsse, was in seinem Fall bedeutete, daß er in die Hände der Polizei fallen würde. Aber es gab verschiedene Anlässe, die gefeiert werden mußten und ein Abweichen von diesem strengen Grundsatz gestatteten.

Als zum Beispiel die ehemalige Mrs. Scarfe ihre Augen schloß, ertränkte ihr Gatte seinen Kummer in jener goldenen Flüssigkeit, die die Sinne der Menschen betäubt. Danach sprach er niemals mehr von seiner Frau.

Eine Woche nach dem Plutarch-Raub erschien Bill in einem neuen Anzug und mit beträchtlichem Durst. Im allgemeinen war er ein ruhiger Mann, aber unter dem Einfluß des Alkohols wurde er streitsüchtig, und als der Wirt der Kneipe den Eindruck hatte, daß Bill Scarfe genug getrunken hätte, und ihn hinauswarf, raffte er sich wütend wieder auf, und während er hin- und herschwankte, überlegte er, ob er sich eine andere Quelle suchen oder zurückgehen und dem Mann, der ihn hinausgeworfen hatte, kräftig die Meinung sagen sollte.

Der Zufall entschied für ihn. Das Haus neben der Kneipe wurde gerade neu gebaut, und im Rinnstein lagen einige Mauersteine. Bill Scarfe erblickte einen davon. Er schloß ein Auge und versuchte, ihn genau zu fixieren, der Schatten eines zweiten Steines verschwand sofort. Es war für ihn gar nicht so leicht, den Stein zu bekommen, aber nach einigen akrobatischen Kunststücken gelang es ihm endlich. Er balancierte ihn in einer Hand, und nach einiger Überlegung – denn er hatte inzwischen den eigentlichen Zweck seiner Handlung vergessen – nahm er die Fensterscheibe der Kneipe aufs Korn. Der Mauerstein flog krachend durch die Fensterscheibe, und dem Klirren des Glases folgte das Geräusch zerbrechender Flaschen. Bill Scarfe wankte von einem Bein aufs andere und hörte beglückt den Krach seines Zerstörungswerkes. Er dachte, das Leben habe doch schöne Augenblicke.

Wenn er sich über das Vorhandensein von noch weiteren Steinen, die im Rinnstein zu liegen schienen, ganz klar gewesen wäre, so hätte er sein Werk fortgesetzt. Aber es schien ihm, daß er zuviel Zeit damit vergeude, um die wirklichen von den scheinbaren Steinen zu unterscheiden. Es war besser zu betrachten, was er schon vollbracht hatte, als es noch einmal zu versuchen und dabei vielleicht zu versagen. Anders als die meisten Spieler wußte er, wann er aufhören mußte.

Bill war glücklich; er hatte denen in der Kneipe gezeigt, daß es nicht gut ist, sich mit einem durstigen Gentleman einzulassen. Er hatte die Empfindung, daß er ein Lied anstimmen müßte. Daß der wütende Wirt aus der Tür gestürzt kam, ihn am Rockkragen ergriffen hatte und ihn kräftig hin- und herschüttelte, machte ihm gar nichts aus. Selbst als der Wirt ihn einem Polizisten übergab, machte er kein Aufhebens davon. Abgesehen davon, daß sein Gesang mehr Gefühl als Melodie hatte, und er die höchste Note immer länger aushielt, als es die Gesetze der Musik gestatten, war er ein musterhafter Gefangener.

»Trunkenheit und Ruhestörung,« meldete der Polizist und gab – unterstützt von dem noch wütenden Wirt – dem Revierbeamten einen ausführlichen Bericht. Aber keiner von beiden wußte, was für einen guten Fang sie eigentlich gemacht hatten.

Sie brachten ihn in eine Zelle und durchsuchten ihn mit beängstigender Sorgfalt: Der Name Bill Scarfe hatte in dem Beamten Erinnerungen geweckt. Als die Taschen des Gefangenen umgekehrt wurden, fand man ein kurzes Stemmeisen und einen Steinbohrer, außerdem fast hundert Pfund in Banknoten; die meisten waren Fünfpfundnoten.

Der Sergeant schaute ernst drein, als er das Geld fand. Weil es ein ungewöhnlicher Fall war, mußte er ihn sofort der Hauptstelle mitteilen, und so läutete er Scotland Yard an. Pagson, der den Raub bei der Plutarch Transportgesellschaft bearbeitete und wahrscheinlich Interesse gehabt hätte, war abwesend. Durch Zufall war aber Bromley Kay gerade im Hause, als der Telefonruf ankam, und der Beamte, der den Anruf entgegennahm, stellte die Verbindung mit ihm her.

»Daß muß untersucht werden,« murmelte der Kommissar vor sich hin und bestellte einen Wagen, der ihn nach Bill Scarfes Gefängnis brachte.

Bill war sehr schnell nüchtern geworden und zeigte große Furcht, als Bromley Kay seine Fragen an ihn richtete. Kay hatte sich schon Bill Scarfes Strafregister angesehen, und eine Erleuchtung war über ihn gekommen.

»Du bist zwar wegen Trunkenheit und Ruhestörung eingeliefert worden, mein lieber Freund, aber wenn du nicht die Wahrheit sagst, wird gegen dich eine andere Anklage erhoben werden.«

Es ist ein Grundsatz der Verbrecher, Bluff mit Bluff zu beantworten, und Bill Scarfe war trotz seiner Furcht ein viel zu gewiegter Bursche, um sich gleich fangen zu lassen.

»Ich weiß nicht, was Sie meinen, Mr. Kay.«

»Nein?« sagte Bromley Kay freundlich. »Vielleicht bin ich nicht deutlich genug gewesen. Um es ganz einfach zu sagen, Scarfe, du hast viel zuviel Geld bei dir, und ich möchte gern wissen, wo du es her hast?«

»Was soll ich sagen, Mr. Kay, ich habe es eben verdient.«

»So? Wie denn?«

Bill fühlte sich unter den forschenden, stahlblauen Augen unbehaglich: »Ich habe für einen Bekannten eine kleine Arbeit verrichtet.«

»Arbeit?« wiederholte Bromley Kay ungläubig. »Wie heißt denn dieser freigebige Gentleman?«

»Dean,« sagte Bill Scarfe gleichgültig, »vielleicht kennen Sie ihn?«

»Ah, der ›graue Bock‹,« erklärte Kay, »wer kennt ihn nicht? Was für Arbeit tatest du denn für ihn?«

»Ich baute eine Mauer für ihn,« antwortete Bill Scarfe prompt.

»Und dafür bekamst du hundert Pfund? Das glaubst du selbst nicht, Scarfe, du mußt dir schon etwas ausdenken, was überzeugender klingt.«

»Wenn Sie mir nicht glauben, Mr. Kay, können Sie Dean ja selbst fragen.«

»Das weiß ich. Aber wahrscheinlich wird er seine Geschichte auch bereit haben. Vielleicht zeigt er mir sogar die Mauer. Wir haben augenblicklich nichts gegen den ›grauen Bock‹, wohl aber haben wir etwas gegen dich. Du hast zuviel Geld bei dir, und ich bin vollkommen überzeugt, daß du es nicht auf rechtschaffene Weise verdient hast. Außerdem trägst du ein Stemmeisen und einen Steinbohrer bei dir. Ja, ich kenne deine Strafliste sehr gut, Scarfe, du bist einer der geschicktesten Einbrecher, und wenn es morgen früh zur Untersuchung kommt, wird der Staatsanwalt deine Zurückführung in die Haft fordern. Du wirst in Untersuchungshaft kommen, verstehst du?«

»Nein, das verstehe ich nicht,« sagte Bill Scarfe gequält und befeuchtete seine trockenen Lippen.

»Nun höre zu! Ich will versuchen, es dir klarer zu machen. Der Plutarch-Raub ist erst vor einigen Tagen erfolgt, und du bist der erste, der seitdem in unsere Hände gefallen ist mit Geld, dessen Herkunft er nicht erklären kann. Mit anderen Worten, du wirst wegen Teilnahme an dem Raub angeklagt werden.«

»So wahr ich Bill Scarfe heiße,« antwortete der andere heiser, »ich habe nichts damit zu tun.«

Kays Augen wurden milder. »Wenn du auch selbst nichts damit zu tun hast,« bohrte er hartnäckig, »so weißt du aber, wer es war, wie?«

Der andere ging auf die Anspielung nicht ein, aber seine kleinen, unruhigen Augen zeigten zu deutlich seine wachsende Angst.

»Höre zu,« fuhr Kay sanft fort, »wenn du mir alles erzählst, was du von dem Fall weißt, wirst du hier als ein freier Mann hinausgehen. Wenn du aber widerspenstig bist, werde ich morgen früh dein Strafregister vorlegen lassen. Du kannst dich darauf verlassen, daß du dann ins Moor geschickt werden wirst. Wie denkst du darüber?«

»Sie werden mich nicht ins Gefängnis schicken,« winselte Scarfe, »ich weiß von nichts.«

»Überlege es dir gründlich,« meinte Kay freundlich, »ich habe Zeit. Die Verhandlung findet nicht vor morgen früh zehn Uhr vor dem Gericht statt.«

Es folgte eine Pause, die Bill Scarfe unendlich erschien. Kay zog sein Zigarettenetui hervor, holte sich eine Zigarette heraus, klopfte sie nachdenklich auf dem Etui, es schien so, als ob er sie anzünden wollte. Im letzten Augenblick überlegte er es sich.

Scarfe beobachtete ihn verstohlen. Er verstand nicht ganz, was das bedeuten sollte. Kay hatte nicht bloß Appetit auf eine Zigarette, sondern er hatte irgendeine andere Absicht, dessen war er sicher. Er ahnte nicht, daß der Kommissar gerade diese Ungewißheit und Verwirrung seiner Gedanken herbeiführen wollte.

»Nun,« fragte Bromley Kay, »was hast du zu sagen?«

Bill Scarfe sagte nichts. Er war in einer verdammten Lage. Er kannte Bromley Kay gut genug, um zu wissen, daß dieser sein Versprechen bis auf den letzten Buchstaben halten würde. Er würde den Rest seiner Tage unter dem Schutz der Polizei stehen, und solange er es nicht zu schlimm trieb, würde man ihn in Ruhe lassen. Aber dann mußte er wieder an die sehnigen Hände denken, die hinter dem Vorhang hervorkamen, und wieder sah er den leblosen Körper Camden Hales schwanken und zu Boden fallen. Ihm schauderte.

Kays scharfe Augen wichen nicht einen Augenblick von dem Gesicht des Mannes, und er sah mit Befriedigung das Zittern, das durch die Gestalt des Burschen lief. Bill Scarfe hatte endlich den Augenblick erreicht, wo er die Vor- und Nachteile gegeneinander abwog.

»Bedenke,« sagte der Kommissar, »wenn du uns erzählst, was wir wissen wollen, wird niemand etwas davon erfahren, bis wir unseren Mann sicher haben, du brauchst dir darüber keine Gedanken zu machen. Ich sorge dafür, daß niemand erfährt, wer uns den Wink gegeben hat. Außerdem weißt du ja, daß eine Belohnung ausgesetzt ist, und ich denke, dir wird das Geld genau so herzlich willkommen sein wie irgendeinem andern.«

»Mr. Kay,« sagte Bill Scarfe gutmütig, »Sie haben mich schwankend gemacht. Ich bin keineswegs ein Verräter, aber ich höre nicht gern vom Moor sprechen, und ich habe gehört, daß Princetown nicht gerade ein Erholungsort sein soll.«

Bromley Kay nickte. »Ich wußte,« sagte er mit einem kleinen Seufzer der Erleichterung, »daß es nicht lange dauern konnte, bis du einsehen würdest, wo dein Vorteil liegt.«

»Einen Augenblick,« fiel Bill Scarfe hastig ein, »ich habe nichts davon gesagt, daß ich verraten will; denn ich möchte nicht auch erwürgt werden. Vor einer Kugel oder vor einem kalten Stahl fürchte ich mich nicht, damit muß man natürlich rechnen, aber sich das Leben herauspressen lassen – nein!«

Kays Augen leuchteten auf, er zog schnell seine Schlüsse. Nur durch solche blitzschnellen Gedanken kann ein Detektiv Erfolg haben.

»Scarfe,« sagte er mitleidig, »ich glaube, du bist noch betrunken.«

Der Mann lächelte schwach. »Ich fühle mich nicht gerade wohl dabei. Ich habe fürchterliche Augenblicke erlebt.«

»Und du wirst noch schlimmere Stunden durchmachen, wenn du als Mittäter beim Camden-Mord gefaßt wirst,« sagte Bromley Kay bestimmt.

Bill Scarfe wurde weiß. Seine Augen traten hervor, und der Mund öffnete sich.

»Und wenn ich in dieser Minute sterben sollte ...« begann er heiser, als Kay ihn unterbrach.

»Ich würde das an deiner Stelle nicht sagen,« bemerkte er ruhig, »man kann nie wissen, ob man nicht manchmal beim Wort genommen wird.«

Scarfe starrte ihn an und ließ den Unterkiefer sinken, das zeigte seine große Bestürzung.

Kay sah ihm fest ins Gesicht, als ob er seine Gedanken lesen wollte, und Scarfe, der eine Menge Fragen erwartete, suchte für alle im voraus eine Antwort. Er kauerte sich an die Wand, als ob er dort Schutz finden könne.

»Ich denke, Bill,« sagte Kay endlich, »daß wir dich unter diese Anklage stellen werden.«

»Sie können diese Anklage nicht gegen mich erheben,« wimmerte Scarfe.

»Ich weiß, daß wir nicht können,« sagte Kay, »aber wir werden es doch tun.«

Er wandte sich zur Tür der Zelle, als ob er gehen wolle.

»Mr. Kay,« ein ängstliches Bitten klang aus seiner Stimme, »kommen Sie zurück! Ich will gestehen, aber er wird mich töten, wenn er es erfährt.«

»Er wird es nicht eher herausfinden, als bis es für ihn zu spät ist, das verspreche ich dir, du kannst dich darauf verlassen.«

»Ich vertraue auf Sie,« sagte Bill Scarfe einfach.

Kay läutete, und als der Wärter erschien, ließ er einen Stenografen kommen.

In einigen Minuten war der Stenograf vor der Tür der Zelle.

»Kommen Sie herein, und nehmen Sie das Geständnis dieses Mannes auf!« sagte Kay kurz.

Während Scarfe mit zitternder Stimme seine Geschichte erzählte, schrieb der Stenograf emsig mit. Zum Schluß wurde die Erklärung vorgelesen, und Scarfe bestätigte das Protokoll als richtig.

»Lassen Sie es so schnell wie möglich mit der Maschine abschreiben,« sagte Kay, als er den Stenografen verabschiedete.

Er wandte sich an Bill Scarfe: »Du wirst morgen früh unter der Anklage, unter der du eingeliefert wurdest, vor das Gericht gestellt werden. Die Polizei wird dir keine Schwierigkeiten machen, und dein Register wird nicht vorgelegt werden. Du wirst eine Geldstrafe bekommen, die du leicht bezahlen kannst. Du siehst doch ein, daß ich dich nicht sofort gehen lassen kann. Wenn ich dich, ohne daß du vors Gericht gekommen wärst, freiließe, so könnte das Verdacht erregen. Dieser ›Würger‹, wie du ihn nennst, weiß wahrscheinlich schon, daß du verhaftet worden bist, und wenn du nicht den üblichen Weg gehst, könnte er vielleicht Verdacht schöpfen. Siehst du das ein?«

Bill Scarfe nickte: »Jawohl, Mr. Kay.«

Kay kehrte nachdenklich nach Scotland Yard zurück. Nach Bill Scarfes Geständnis waren der Mörder Camden Hales und der Mann, der den Plutarch-Raub organisiert hatte, dieselbe Person, aber es waren noch einige Unklarheiten in der Geschichte. Ohne Frage hatte der Unbekannte am letzten Verbrechen nicht selber teilgenommen. Scarfe selbst hatte weiter nichts damit zu tun gehabt, als daß er die Örtlichkeiten ausgekundschaftet hatte. Von dem wichtigsten Teil des Planes wußten nur die Haupttäter.

Trotzdem lag genug Material vor, um den Mord an Camden Hale mit dem Bankraub in Verbindung zu bringen. Aber da waren zwei Punkte, welche Scarfe erwähnt hatte, die von besonderem Wert sein konnten. Er hatte angegeben, daß er das Gesicht seines Auftraggebers nicht gesehen hatte, aber er beschrieb ihn als einen großen Mann, mit glattem, schwarzem Haar und dunklen Augen.

Zu der Beschreibung des »Würgers« hatte Bromley Kay handschriftlich hinzugefügt:

»Dieser Mann hat augenscheinlich die Absicht, das Verbrechen auf geschäftlicher Grundlage zu organisieren. Er scheint sehr klug und kühn zu sein und zahlt für erwiesene Dienste gute Belohnung. Beachte die Zahlung von einhundert Pfund an Scarfe für einen geringen Dienst.

NB. Um in dieser Weise fortfahren zu können, braucht er große Summen. Schluß: Ein anderer großer Coup ist sicher schon geplant.


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