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Was dein ist.

Was dein ist, für das wirst du kämpfen. Mein Herz sagt dir: Ja, kämpfe dafür. Die Geschichte sagt dir: Ja, kämpfe dafür. Soweit zu kommen, ist nicht schwer. Aber ein schwierigeres Problem geht vorher. Was ist dein? Was gehört dir? Weißt du das so genau? Vor jeder andern Frage muß diese beantwortet werden. Ehe du für dein Eigentum kämpfen kannst, mußt du dein Eigentum kennen. Und hier ist der Punkt, wo wir straucheln und fallen. Wo wir wenigstens zweifeln und zögern. Denn diese ganz seltsame Frage ist schwer zu entscheiden. Um so schwerer, je mehr du darüber nachdenkst. Genau zu sagen, was dein ist. Dein Eigentum von meinem oder einem andern zu trennen. Beinahe alles andere Schwere ist leicht. Und doch triffst du gerade hier deine Entscheidung ohne Besinnen. Du läßt dich durch große angeborene und anerzogene Illusionen täuschen. Du bist von ererbten und neuauftauchenden Irrtümern gebannt. Zuerst kämpfst du. Dann überlegst du. Ich bitte dich, frage dich noch einmal. Ueberlege, bevor du kämpfst.

Was ist dein eigen? Wenn ich so frage, lächelst du. Gerade, als ob ich dich aufforderte, dein Abc zu wiederholen. Nun. Weißt du es wirklich? Ich überantworte dich der Gnade eines ehrlichen Nachdenkens. Je tiefer du dich in dieses Problem versenkst, um so verwickelter wird es. Warum? Weil es unlösbar ist. Weil die Lösung, die du erwartest, nie zu finden sein wird. Aber du meinst, ich hätte unrecht. Mag sein. Ich verlange von dir nicht, daß du glaubest, ich hätte recht. Ich will nur, daß du nachdenkest. Und wenn du nachgedacht hast, so wirst du sehen, daß ich recht habe. Diesen Weg sind viele gegangen und haben das Ziel nie erreicht. Es gab nur ein Ziel: Geständnis. Ich will kein vorzeitiges Geständnis. Ich warte darauf. Ich gebe dir genügend Zeit. Was ist dein eigen? Wo ist die Außenlinie, wo sich deine und meine Vorposten begegnen? Kannst du das Sonnenlicht teilen? Kannst du die Gewässer des Meeres von einander scheiden? Kannst du die Liebe in Atome zerlegen? Kannst du die Gerechtigkeit in einzelne Bestandteile auflösen? Du willst für deinen Besitz kämpfen? Doch was gehört dir? Was wird dir dein Eigentum weisen? Wird die Chemie es dir zeigen? Kannst du es unter der Lupe oder mit dem Teleskop finden? Ich glaube, es gibt nur eines, was dich dein Eigentum kennen lehrt. Dies eine ist die Liebe. Und was dir die Liebe nicht sagt, das wirst du niemals erfahren.

Ich war glücklich und ließ das Glück nach meinem Eigentum forschen. Ich war verzweifelt und ließ die Verzweiflung nach meinem Eigentum forschen. Ich habe Schiffe danach ausgesandt und die Eisenbahnen mit meinen Boten gefüllt und durch den Telegraph nach einer Lösung gesucht. Und auf der Suche nach meinem Eigentum habe ich mich kreuzigen lassen mit einem Gelehrten zur Rechten und einem Priester zur Linken. Ich habe auf Warnungen gehört. Und alle Sitze der Wissenschaft, die in toter Gelehrsamkeit erstarrt, und alle Sitze der Macht, die durch Tyrannei geschwächt sind, habe ich um Rat gefragt. Und wenn die Propheten kamen, bin ich zu ihnen geeilt. Und wenn die Dichter sich durch Irrgärten unreifen Geschriebsels hindurchreimten, so habe ich alle Zweifel im Sinn ihrer Lieder gedeutet. Immer nach dem Meinen suchend. Immer erfolglos. Immer erfolgreich. Niemals ganz meines Eigentums sicher. Doch immer gewiß, daß etwas mein eigen sein müsse. Daß ich eines Tages mein Eigentum irgendwie finden werde. Daß wir zusammentreffen, einander erkennen und ineinander verschmelzen würden. Mein Eigentum verkörpert in mir. Ich in meinem Eigentum verkörpert.

Ich habe alle Autoritäten befragt. Alle Evangelienwächter. Alle Polizisten. Alle Zensoren. Alle Stimmen, die zureden und abreden. Allen Reichtum und alle Armut. Alle Meisterschaft und Unfähigkeit. Nichts habe ich übersehen, keinen Anspruch überhört. Keine Drohungen sind ausgestoßen worden, die mich unachtsam oder schlafend angetroffen hätten. Alles habe ich in die Tat umgesetzt, was Auge und Ohr tun konnten, mich zu dem Meinen zu führen, mir das Meine zu bringen. Aber noch stehe ich mit leeren Händen da. Mit leeren Händen. Aber das ist gerade die Frage. Mit welchem Recht kann ich erwarten, daß meine Hände voll seien? Ich habe etwas anderes an mir, das nicht leer ist. Mein Herz. Meine Hände sind leer. Mein Herz ist so voll. Und nun sehe ich endlich, was das Suchen bezweckte. Es war gar nicht für die Hände. Nur für das Herz. Es war in Wirklichkeit kein Suchen nach Besitz und Recht, die mir gehörten. Sondern nach einem Bruder, der mir gehörte. Nach allen Brüdern, die mir gehörten. Nach allen Menschen. Nach dem Bruder, der mir gehörte. Und volle Hände könnten gegen meinen Bruder gekehrt sein. Ja, je voller, um so wahrscheinlicher gegen ihn. Doch das volle Herz ist stets für den Bruder, ist der Bruder selbst, in einem Vordergrund praktischen Glaubens verwirklicht. Und ich glaube, daß dieses mein Eigentum ist; daß nichts in dieser Welt mir gehört, als dieser Bruder; daß ich die Welt verkenne, wenn ich diesen Bruder verkenne, und daß die Welt aufhört zu sein.

Hier endlich das Geheimnis. Nach all den Entdeckungen. Nach all den Eifersüchteleien des Besitzes. Nach all den Streitigkeiten um Rechte und Pflichten. Nach Religionssystemen und Herrscherdynastien. Nach Kriegen und Friedensschlüssen. Nach Büchern und Propheten und Märtyrern. Nach Liebe und Haß. Nach all diesem. Durch all das. Das Geheimnis ist verraten. Daß doch nichts, daß kein äußerer Gegenstand dein Eigentum ist. Daß nichts in all der Wirrnis und Ordnung des Lebens ganz dir gehört. Daß nichts ganz nicht dir gehört. Daß solcher Besitz, für den du gehungert und gedürstet und gekämpft hast, im Grund der Mühe nicht wert ist; der Mühe nicht wert wäre, wenn er dein Eigentum wäre; um so mehr der Mühe nicht wert ist, wenn er dein Eigentum nicht ist. Daß das einzige, was dir gehört, nicht gezählt oder gemessen oder in Worte gefaßt werden kann. Daß es dein Bruder ist, was dir gehört. Kein Stück mehr oder weniger. Daß alles andere, was du erwirbst, im Wege steht. Aller Reichtum und alle Macht. Alle persönlichen Vorrechte. Dividenden, Diskonto und Teufel. Alles im Weg. Daß nur eines dir immer gehört: Die Liebe. Die Liebe, die dir den Bruder findet. Die Liebe, die in allen Menschen Brüder sieht; nicht in Besitz und Zinsen und Pachtsummen. Nur in den Menschen. Die Menschen ewig als Brüder. Alle Menschen. Die Liebe ist dein Eigentum.

Für dein Eigentum willst du kämpfen? Ja. Lange wußtest du nicht, was dir gehört. Du meintest, Grundbesitz und Macht gehörten dir. Aber das meintest du, weil du schliefst. Du wachtest auf. Dann gelangtest du von deiner persönlichen Nachtmar hinweg in die Herrlichkeit des allgemeinen Tages. Dann wußtest du, was dir gehörte. Daß nur eines dir gehörte. Die Liebe. Und jetzt höre ich dich vom Leben Besseres sagen. Du sagst nicht mehr, daß du für dein Eigentum kämpfen wollest. Du lebst jetzt so lange, daß du ein andrer werden konntest. Du sagst, daß du für das, was dir gehört, lieben werdest. Denke daran. Du bist ein andrer geworden. Für das, was dein eigen ist, wirst du lieben.


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