William M. Thackeray
Die Geschichte von Pendennis / Band 3
William M. Thackeray

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Zwölftes Kapitel

Phyllis und Corydon

Auf einer malerischen Aue in der Nachbarschaft von Tunbridge Wells hatte Lady Clavering eine hübsche Villa gefunden, wohin sie sich nach ihrer ehelichen Zwistigkeit am Ende jener unglücklichen Londoner Saison zurückzog. Fräulein Amory begleitete natürlich ihre Mutter, und in den Ferien kam auch Master Clavering heim, mit dem zu zanken und zu streiten Blanches Hauptbeschäftigung war. Aber dies war nur ein häusliches Vergnügen, und der kleine Schulknabe war kein Freund von häuslichen Freuden. Er fand zu Tunbridge Kricketspieler und 257 Pferde und eine Menge Freunde. Das Haus der gutmütigen Begum war fortwährend mit jungen Herrn von dreizehn Jahren angefüllt, die viel zu viel Torten aßen und viel zu viel Champagner tranken, die auf dem Rasen vor dem Hause Wettrennen abhielten und die zärtliche Mutter in Angst hetzten, die rauchten, daß ihnen übel wurde und Fräulein Blanche das Speisezimmer unerträglich fand. Sie liebte die Gesellschaft junger Herren von dreizehn Jahren nicht. Was dieses holde junge Geschöpf betrifft, so gefiel ihr jeder Wechsel, solange er noch etwas Neues war, und eine oder zwei Wochen lang würde ihr sogar Armut und eine Hütte, und Brot und Käse, ja, auf eine Nacht vielleicht selbst ein Kerker und Brot und Wasser zugesagt haben, und so war es ihr durchaus nicht unwillkommen, als man nach Tunbridge auszog. Sie wanderte in den Wäldern umher und skizzierte Bäume und Farmhäuser; sie las fortwährend französische Romane; sie fuhr ziemlich oft nach Tunbridge Wells und ebenso zu jedem Schauspiele oder Balle, Zauberkünstler oder Musiker, der etwa im Orte erschien; sie schlief viel, zankte sich morgens mit Mama und dem kleinen Frank; fand die kleine Dorfschule und besuchte sie, streichelte zuerst die Mädchen und widersprach der Lehrerin, dann aber zankte sie die Mädchen aus und lachte über den Lehrer; war regelmäßig in der Kirche, wie sich das natürlich von selbst versteht. Es war eine hübsche kleine Kirche von ungeheuerer Altertümlichkeit – ein kleines anglo-normännisches Bijou, vorgestern gebaut und mit allerhand gemalten Fenstern, geschnitzten Heiligenköpfen, goldenen 258 Bibelsprüchen und offenen Betstühlen ausgeschmückt. Blanche machte sich auf der Stelle daran, eine höchst korrekte hochkirchliche Altardecke für die Kirche zu sticken. Sie galt bei dem Geistlichen eine Weile für eine Fromme, denn sie nahm ihn vollständig für sich ein und umschmeichelte, beschwatzte und berückte ihn durch ihre Zärtlichkeiten so listig, daß die arme Frau Smirke, die zuerst bezaubert von ihr war, später sie duldete, noch später kaum noch mit ihr reden mochte, fast wahnwitzig vor Eifersucht wurde. Frau Smirke war die Gemahlin unseres alten Freundes Smirke, der Pens Hauslehrer und der armen Helene Verehrer gewesen war. Er hatte sich über den Korb, den er von dieser bekommen, mit einer jungen Dame von Clapham getröstet, die ihm seine Mama besorgt hatte. Als die letztere starb, wurden unseres Freundes Ansichten tagtäglich mehr und mehr prononciert. Er schnitt sich den Rockkragen ab und ließ sich das Haar lang herunterwachsen. Strengen Sinnes gab er die Locke auf, die er über seine Stirn zu drehen pflegte, und ebenso die Schleife an seinem Halstuche, auf die er so stolz war. Er ging ganz ohne jede Schleife. Er lebte Freitags ohne Mittagessen. Er las die römischen Horen und machte bekannt, daß er bereit wäre, in der Sakristei Beichte zu hören. Er, das allerharmloseste Wesen der Welt, wurde von Muffin von der Dissenterkapelle und Herrn Simeon Knight von der alten Kirche als ein schwarzer und höchst gefährlicher Jesuit verschrien; Herr Smirke hatte seine Kapelle mit dem Gelde, das ihm seine Mutter in Clapham hinterlassen hatte, gebaut. Großer Gott! was würde sie dazu gesagt 259 haben, einen Tisch einen Altar nennen zu hören, wenn sie die Leuchter darauf gesehen hätte! Wenn sie Briefe datiert vom Tage des heiligen Soundso oder der Vigilia der heiligen Wieheißtsiegleich bekommen hätte! All diese Dinge trieb nämlich das Bürschchen von Clapham, und sein getreues Weib folgte ihm darin nach. Aber während Blanche in der Sakristei eine Konferenz von fast zwei Stunden mit Herrn Smirke hatte, wandelte Belinda auf dem Grabplatze draußen, wo sich bis jetzt nur zwei kleine Grabsteine befanden, auf und ab; sie wünschte, sie hätte einen dritten dort, nur würde er dann sehr wahrscheinlich diesem Geschöpfe, das ihn in vierzehn Tagen mit ihren Künsten berückt hatte, seine Hand anbieten. Nein, sie wollte sich zurückziehen, sie wollte in ein Kloster gehen und ein Gelübde ablegen und ihn verlassen. Solch böse Gedanken hatten Smirkes Frau und seine Nachbarn über ihn, diese letzteren, die ihn im direkten Briefwechsel mit dem Papst von Rom glaubten, jene, indem sie noch viel gehässigere und verhängnisvollere Verirrungen beklagte, und doch hatte unser Freund nicht das mindeste Böse im Sinne. Die Post brachte ihm niemals Briefe vom Papste; er hielt Blanche allerdings zuerst für die frömmste, begabteste, rechtgläubigste und bezauberndste Person, der er je begegnet, und ihre Art, die Kirchenlieder zu singen, entzückte ihn; aber nach einer Weile begann er Fräulein Amorys etwas überdrüssig zu werden; ihre Art sich zu benehmen und ihre Liebenswürdigkeiten wurden ihm irgendwie über; dann begann er an Fräulein Amory zu zweifeln; dann machte sie Störungen in seiner Schule, verlor die Geduld und klopfte die Kinder 260 auf die Finger. Blanche flößte, man wußte nicht wie, diese Bewunderung und diesen Ueberdruß vielen Männern ein. Sie versuchte ihnen zu gefallen und spielte all ihre anmutigen Trumpfe auf einmal aus, rückte ihnen mit all ihren Kleinodien, all ihrem Lächeln, ihren Schmeicheleien und Aberschmeicheleien und Aeugeleien auf einmal auf den Hals; dann wurde sie ihrer und des Versuchs, ihnen zu gefallen, überdrüssig, kümmerte sich nicht mehr um sie und ließ sie fallen, und die Männer wurden ihrer ebenfalls überdrüssig und ließen sie ebenfalls fallen. Es war eine selige Nacht für Belinda, als Blanche wegging und ihr Gatte mit einem leichten Erröten und einem Seufzer sagte, daß »er sich in dieser getäuscht habe; er hätte sie für mit mancherlei köstlichen Gaben begabt gehalten, er fürchte aber, sie wäre bloßes Flittergold; er habe gemeint, sie wäre eine rechtgläubige Person, er fürchte aber, sie habe sich aus der Religion bloß ein Vergnügen gemacht – wenigstens habe sie sich der Schullehrerin gegenüber ganz gehässig benommen und Polly Rucker grausam auf die Knöchel geschlagen.« Belinda flog in seine Arme, es handelte sich nicht mehr um Grab und Schleier. Er küßte sie zärtlich auf die Stirn.

»Es ist doch keine wie du, meine Belinda,« sagte er, seine schönen Augen nach der Decke aufschlagend, »du Kleinod unter den Frauen!« Was Blanche betrifft, so dachte oder kümmerte sie sich von dem Augenblick an, wo sie sie aus den Augen verlor, nie wieder um eins von den beiden.

Aber als Arthur hinunterkam, um ein paar Tage in Tunbridge Wells bei der Begum zu verleben, war 261 dieses Stadium der Gleichgültigkeit weder auf Seiten des Fräuleins Blanche noch bei dem einfachen Geistlichen schon eingetreten. Smirke hielt sie für einen Engel und ein Wunder von einem weiblichen Wesen. Solch eine Vollkommenheit hatte er nie gesehen, und so saß er an den Sommerabenden da und lauschte offenen Mundes ihrer Musik, hingerissen vor Staunen, ohne Tee und ohne Butterbrot. So bezaubernd die Opernmusik sein sollte – er hatte nie außer einem einzigen Mal einem Vortrage dieser Art beigewohnt – (den er mit einem Erröten und mit einem Seufzer erwähnte – es war nämlich an dem Tage, wo er Helene und ihren Sohn zum Schauspiele in Chatteris begleitet hatte) – so konnte er sich doch nichts Köstlicheres, nichts Himmlischeres hätte er beinahe gesagt, denken, als Fräulein Amorys Musik. Sie wäre ein höchst begabtes Wesen, sie hätte eine herrliche Seele, sie besäße die merkwürdigsten Talente – allem äußeren Anscheine nach das himmlischste Gemüt, usw. usw. In solcher Art ließ sich Smirke, der damals auf dem Gipfel seines Liebesfiebers und seiner Bezauberung durch Blanche angelangt war, Arthur gegenüber über sie vernehmen.

Das Zusammentreffen zwischen den beiden alten Bekannten war sehr herzlich gewesen. Arthur liebte jedermann, der seine Mutter liebte; Smirke konnte über dieses Thema mit wahrem Gefühl und tiefer Empfindung sprechen. Sie hatten einander hundert Dinge zu erzählen aus den Begebenheiten ihres Lebens. »Arthur würde bemerken,« sagte Smirke, »daß seine – seine Ansichten über kirchliche Dinge sich seit ihrer ersten Bekanntschaft entwickelt hätten.« Frau Smirke, eine 262 höchst musterhafte Person, sekundierte ihm dabei aus allen Kräften. Er hätte diese kleine Kirche nach dem Ableben seiner Mutter gebaut, die ihm ausreichende irdische Güter hinterlassen hätte. Obwohl in der Abgeschlossenheit von der Welt, hätte er doch von Arthurs Rufe gehört. Er sprach in dem freundlichsten und zugleich schwermütigsten Tone; er schlug die Augen nieder und neigte sein holdes Haupt auf die eine Seite. Arthur amüsierte sich unermeßlich über ihn, über seine Geberden, seine Torheiten und seine Einfältigkeit, über seine schleifenlose Halsbinde und seine langen Haare, über seine wirkliche Güte, Liebe und Freundlichkeit. Und seine Lobeserhebungen Blanches gefielen und verwunderten unseren Freund nicht wenig und bewirkten, daß er sie mit besonders günstigen Augen betrachtete.

In Wahrheit war Blanche recht froh, Arthur zu sehen, wie man auf dem Lande eben immer froh ist, einen angenehmen Mann zu sehen, der die neuesten Neuigkeiten und Anekdoten aus der großen Stadt mitbringt, der besser sprechen kann als die meisten Leute in der Provinz, oder der wenigstens jenes liebe Londoner Kauderwelsch zu sprechen versteht, das allen Londonern so teuer und so unumgänglich notwendig und von Personen außerhalb der großen Welt so wenig verstanden ist. Den anderen Tag, als Pen hinüberkam, bemerkte er, daß Blanche stundenlang nach dem Essen lachte. Sie sang ihre Liedchen mit verdoppeltem Feuer. Sie zankte nicht mit ihrer Mutter, sie liebkoste und küßte sie, zum Erstaunen der ehrlichen Begum. Als die Schlafenszeit herankam, sagte sie: »Déja!« mit der 263 allerniedlichsten Miene des Bedauerns, die ihr möglich war, und bedauerte wirklich ganz außerordentlich, daß sie zu Bett gehen müsse, und drückte Arthurs Hand ganz zärtlich. Er seinerseits gab ihrem hübschen Patschhändchen einen sehr herzlichen Druck. Unser junger Herr war von der Gemütsart, daß sehr mäßig glänzende Augen ihn schon entzückten.

»Sie hat sich sehr zu ihrem Besten verändert,« dachte Pen, indem er in die Nacht hinausblickte, »wirklich recht sehr. Ich glaube, die Begum wird mein Rauchen bei offenem Fenster nicht übelnehmen. Sie ist ein liebes gutes altes Frauenzimmer, und Blanche hat sich unermeßlich zu ihren Gunsten verändert. Ihr Benehmen gegen ihre Mutter gefiel mir heute Abend. Mir gefiel auch ihre lachende Weise mit jenem einfältigen Bengel von einem Jungen, dem sie nicht gestatten sollten, daß er sich betrinkt. Sie sang jene Verschen recht hübsch; es waren übrigens auch höllisch hübsche Verse, obgleich ich es sage, der es nicht sagen sollte.« Und er summte eine Melodie, die Blanche zu einigen Versen von ihm selbst gesetzt hatte. »Oh! was für eine schöne Nacht! Wie köstlich eine Zigarre des Nachts ist! Wie nett diese kleine Kirche aus der Sachsenzeit bei Mondschein aussieht! Ich möchte wissen, was der alte Warrington treibt. Ja, sie ist ein verteufelt hübsches kleines Ding, wie mein Onkel sagt.«

»Oh, himmlisch!« brach hier eine Stimme in einem mit Klematis überwachsenen Fenster neben ihm aus – eine Mädchenstimme, es war die Stimme der Verfasserin von Mes Larmes.

Pen brach in ein Gelächter aus. »Verraten Sie 264 nichts, daß ich geraucht habe,« sagte er, sich aus seinem Fenster hinauslehnend.

»Oh! rauchen Sie nur fort! Ich finde es anbetenswürdig,« rief laut die Dame von Mes Larmes. »Himmlische Nacht! Himmlischer Mond; aber ich muß mein Fenster schließen und darf nicht mehr mit Ihnen reden wegen les moeurs! Wie drollig sie doch sind, les moeurs! Adieu!« Und Pen begann das »Gute Nacht« von Don Basilio zu singen.

Den nächsten Tag gingen sie miteinander in den Feldern spazieren, lachend und schäkernd – das heiterste Freundespaar. Sie schwatzten von den Tagen ihrer Jugend, und Blanche war reizend sentimental. Sie redeten von Laura, der teuersten Laura; Blanche hatte sie wie eine Schwester geliebt, war sie denn glücklich bei der wunderlichen Lady Rockminster? Ob sie nicht herkommen und bei ihnen in Tunbridge eine Weile zubringen wollte? Ach, was für Spaziergänge sie zusammen machen wollten! Was für Lieder sie singen wollten – die alten lieben Lieder. Lauras Stimme wäre herrlich. Ob sich Arthur – sie müsse ihn Arthur nennen dürfen – wohl der Lieder entsinne, die sie in den glücklichen alten Tagen gesungen hätten, nun er ein so großer Mann geworden und solchen Erfolg errungen? usw. usw.

Und den folgenden Tag, der durch eine selige Wanderung durch den Wald nach Penshurst und einen Besuch dieses anmutigen Parkes und Schlosses belebt wurde, kam das Gespräch auf den Pfarrer, den wir erwähnt haben, und das unseren jungen Freund mehr und mehr nachdenken ließ. 265

»Ist sie denn wirklich so vollkommen?« fragte er sich. »Ist sie ernst und religiös geworden? Nimmt sie Anteil an Schulen, und besucht sie die Armen? Ist sie freundlich zu ihrer Mutter und ihrem Bruder? Ja, ich bin überzeugt davon, ich habe sie ja gesehen.« Und als er mit seinem einstigen Lehrer durch dessen kleines Kirchspiel ging und seine Schule besuchte, fand Pen zu seiner unaussprechlichen Freude Blanche dort sitzen und die Kinder unterrichten, und er dachte bei sich selbst, wie geduldig sie doch sein müßte, wie gutherzig, wie geistvoll, wie wahrhaft einfach in ihrem Geschmacke und unverdorben von der Welt.

»Und lieben Sie das Landleben wirklich?« fragte er sie, als sie zusammen wandelten.

»Ich möchte diese häßliche Stadt gar nicht wiedersehen. Oh, Arthur – ich wollte sagen Herr – aber ich sage doch Arthur – es wachsen einem die guten Gedanken in diesen süßen Wäldern und stillen Einsamkeiten im Herzen gleich jenen Blumen, die in London nie blühen wollen, wissen Sie, der Gärtner kommt und setzt uns jede Woche frische Blumen auf die Fenstersimse. Ich glaube, ich werde es nicht ertragen, London nochmals in sein Gesicht – sein garstiges, verräuchertes, mürrisches Gesicht zu sehen! Aber ach!«

»Warum denn diesen Seufzer, Blanche?«

»Ach, fragen Sie nicht warum.«

»Ja, ich möchte wohl wissen, warum. Sagen Sie mir's, sagen Sie mir alles.«

»Ich wollte, Sie wären nicht hierhergekommen,« und eine zweite Auflage von mes soupirs kam heraus. 266

»Sie wollen mich nicht hier haben, Blanche?«

»Ich will nicht, daß Sie von hier fortgehen. Ich glaube nicht, daß dieses Haus sehr glücklich sein wird ohne Sie, und das ist's, weshalb ich wollte, Sie wären nie hierhergekommen.«

Mes soupirs wurden hier beiseite gelegt und mes larmes hatten begonnen.

Ah! Welche Antwort gibt man auf diese, wenn sie sich in den Augen eines jungen weiblichen Wesens zeigen? Welche Methode wendet man an, um sie zu trocknen? Was geschah? O ihr Ringtauben und Rosen, ihr Tautropfen und Waldblumen, ihr rauschenden Büsche und balsamischen Sommerlüfte! Hier waren zwei ausgeleerte Londoner Salonmenschen, die sich einander auf einen Augenblick täuschten und sich einbildeten, sie wären ineinander verliebt wie Phyllis und Corydon.

Wenn man an Landhäuser und Spaziergänge auf dem Lande denkt, so wundert man sich, daß noch ein einziger unverheirateter Mann existiert.



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