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16.

Einige Tage später saß Dr. Chancellor wieder in seinem Bureau in Lancaster. Sein Gesicht zeigte einen ernsten, nachdenklichen Ausdruck, der gar nicht zu dem hellen Sonnenschein draußen paßte.

»Joe hat immer noch nicht geschrieben, wann er kommt und was er bisher ausgerichtet hat«, murmelte er vor sich hin. »Sollten seine Nachforschungen in der Schweiz ergebnislos gewesen sein? Aber ich kann unmöglich länger warten »Jeden Tag wird die Gefahr großer, daß die Lester Verdacht schöpft und sich im letzten Augenblick aus dem Staube macht. Ohne Jannion wieder fehlen mir die endgültigen Beweise ... Außerdem ist es Helens und mein Wunsch, daß wir noch vor unserer Hochzeit unser Ziel erreicht haben. Solange ihr Bruder nicht von jedem Makel befreit ist, wird sie ihres Lebens doch nicht recht froh werden. Aber was kann ich hier in Lancaster unternehmen? Es ist mir zwar gelungen, einiges über die Vergangenheit dieser Annie Lester in Erfahrung zu bringen, aber es ist im Grunde gerade nicht das, was wir so brennend wissen möchten – ob sie nämlich in irgendwelchen Beziehungen zu Trinkall gestanden hat.

Die Kleine scheint bereits sehr viel im Leben mitgemacht zu haben, und selbst wenn sie unschuldig an dem Verbrechen sein sollte, wäre es eigentlich wünschenswert, ein solches Mädchen so rasch wie möglich aus dieser Stadt zu schaffen. Man hat mir im Vertrauen gesagt, daß sie lange Zeit in einem öffentlichen Hause in Dieppe gewesen sein soll. Sollte ich eigentlich nicht diesen Anhaltspunkt weiter verfolgen, ohne auf Jannions Rückkehr zu warten?«

Während er noch über seine schwierige Lage nachdachte, trat sein Sekretär, Eglington, ein. Das brachte Dr. Chancellor zu einem raschen Entschluß.

»Ich glaube, daß ich mich auf Sie verlassen kann, Herr Eglington«, sagte er, »um Sie mit einer Sache zu betrauen, die von höchster Wichtigkeit ist.«

»Das müssen Sie am besten wissen«, entgegnete der Sekretär. »Ich bin nun volle dreizehn Jahre in Ihrem Dienst und glaube nicht, Ihr Vertrauen jemals getäuscht zu haben.«

»Das weiß ich«, erwiderte Dr. Chancellor. »Es liegt mir auch ganz fern, Zweifel in Sie zu setzen. Was ich Ihnen aber anvertrauen möchte, ist so delikater Natur, liegt so außerhalb alles Geschäftlichen, daß ich zögerte, es Ihnen mitzuteilen. Sie müssen in einer außerordentlich wichtigen Angelegenheit, die über Leben und Tod entscheiden kann, nach Dieppe fahren.«

»Nach Dieppe?«

»Ja, und zwar augenblicklich. Ich hätte es selbst getan, aber während der Abwesenheit des Herrn Dr. Dawson kann ich nicht von hier fort und weiß auch nicht, wen ich dorthin schicken könnte.«

Der Sekretär blickte seinen Chef verwundert an.

»Wenn Sie mir vertrauen wollen«, sagte er dann nach einer Pause, »würde ich alles aufbieten, Ihnen dienlich zu sein und natürlich auch strengste Verschwiegenheit geloben.«

»Ich weiß eigentlich nicht, ob ich die Sache mit Recht so tragisch auffasse«, bemerkte Dr. Chancellor. »Ich bin mir nicht im klaren, ob eine Entdeckung, die ich gemacht habe, wirklich von so großer Wichtigkeit ist. In jedem Fall muß ich die Probe machen, und das kann nur durch eine Reise nach Dieppe geschehen.«

»Steht die Angelegenheit mit dem Manningford-Prozeß in Verbindung?« fragte der Sekretär.

»Ja, allerdings«, lautete die zögernde Antwort. »Ich möchte nämlich, daß Sie nach Dieppe fahren und dort eine gewisse Frau Lemel aufsuchen. Sie hat in dieser Stadt ein öffentliches Haus, und »es wird Ihnen nicht schwer fallen, ihre Adresse zu erfahren. Ich rate Ihnen, in Dieppe einen verläßlichen Menschen als Dolmetscher aufzunehmen, denn Frau Lerne! wird natürlich nicht englisch sprechen, und Ihr Französisch dürfte für eine so heikle Angelegenheit kaum ausreichen. Ich werde Ihnen deshalb auf alle Fälle einen Brief an einen dortigen Anwalt mitgeben, der Ihnen den richtigen Mann für unsere Zwecke beschaffen kann.«

»Und was soll ich von dieser Frau Lemel zu erfahren suchen?«

»Vor allem, ob einmal ein Mädchen namens Lester bei ihr angestellt war. Da diese Art Frauen meist Grund haben, über den Namen und die Herkunft ihrer Mädchen Stillschweigen zu bewahren, wird es Ihrer größten Geschicklichkeit bedürfen, die Frau zu einer Aussage zu veranlassen Als das Nächstwichtigste müssen Sie in Erfahrung zu bringen suchen, unter welchen Umständen sie das öffentliche Haus verlassen hat. Sie können der Frau zusagen, daß Sie sich durch ihre Mitteilungen keinerlei Unannehmlichkeiten bereiten wird. Erzählen Sie ihr, daß es sich um eine rein private Information handelt, und bieten Sie ihr, falls Sie glauben, daß sie durch Geld zugänglicher wird, eine entsprechende Summe für ihre Auskunft an. Ihre besondere Taktik muß ich jedoch gänzlich Ihnen überlassen. Verstehen Sie mich?«

»Vollkommen«, erwiderte der Sekretär. »Sie können sich auf mich verlassen, und was in meinen Kräften liegt, das wird geschehen.«

Seine Miene war gleichfalls ernst geworden, denn er besaß Scharfsinn genug, die Wichtigkeit des Auftrages zu erkennen und zu berechnen, welche Folgen er möglicherweise haben konnte.

Noch am selben Abend fuhr Eglington von Lancaster nach London, von wo aus er seine Reise nach Frankreich antrat.

Einen Tag später kehrte Joe Jannion von seiner Schweizer Reise zurück Er ging in Dover ans Land und nachdem er die Themse passiert hatte, stieg er im Lord Warden-Hotel ab.

Er war kaum drei Wochen unterwegs gewesen, aber da er mit genügenden Geldmitteln versehen war, war es ihm gelungen, in dieser verhältnismäßig kurzen Zeit umfassende Nachforschungen anzustellen, die ihm zwar noch nicht ermöglichten, den Namen der Geliebten Trinkalls mit Sicherheit festzustellen, ihm jedoch einen Anhaltspunkt an die Hand gaben, mit dessen Hilfe eine baldige Lösung der Aufgabe in Aussicht stand.

Wie es seine Gewohnheit war, hatte er nichts von den Resultaten seiner Bemühungen gemeldet, da er stets nur mit dem endgültigen Ergebnis vor seinen Auftraggeber hinzutreten wünschte.

Die erste Spur von Francis Trinkall und seiner Begleiterin fand er in Paris. Nach einigen Bemühungen brachte er heraus, daß sie dort in einem kleinen, von Engländern weniger besuchten Hotel unter dem Namen »Herr und Frau Dorat« gewohnt hatten. Sie hatten dann eine Reise durch Frankreich gemacht, sich einige Zeit in Italien aufgehalten und waren dann nach einem kleinen Schweizer Kurort abgereist. Bis dahin war die Spur leicht zu verfolgen gewesen. Nun aber stellten sich Jannion mancherlei Schwierigkeiten in den Weg.

In den Hotelbüchern war der Name »Dorat« nicht zu finden, und erst durch einen Zufall konnte Jannion feststellen, daß das Ehepaar einige Zeit in einem bescheidenen Gasthof außerhalb des Ortes gewohnt hatte. Dann war »Herr Dorat«, wie sich der Wirt noch erinnerte, allein nach England zurückgekehrt, während seine Frau noch einige Zeit in dem Schweizer Kurort verblieb. Dann hatte sie ebenfalls den Gasthof verlassen, und es war nicht festzustellen, wohin sie sich damals begeben hatte.

Ueberdies waren die Aussagen der in Betracht kommenden Personen so verworren, daß Jannion fast zu zweifeln begann, ob die junge Frau, die in Begleitung Trinkalls gewesen war, wirklich jene Person war, die er suchte.

Entmutigt durch diesen Mißerfolg, wollte Jannion schon die Flinte ins Korn werfen und die ganze Sache aufgeben, als eine zufällige Entdeckung seine Hoffnungen neu belebte. Er erfuhr nämlich, daß eine Dame, der Beschreibung ihrer Kleidung nach eine Quäkerin, einige Monate nach Francis Trinkall den Kurort verlassen habe, und zwar in Begleitung einer jungen Engländerin, von der es hieß, daß sie von ihrem Mann verlassen worden sei. Sie hätten ein kleines Kind bei sich gehabt.

Diese Spur verfolgte Jannion weiter, und es gelang ihm, nicht nur den Namen der älteren Dame, einer Frau Annesley, in Erfahrung zu bringen, sondern auch mit Hilfe der Erkundigungen, die er einzog, festzustellen, daß ihre Heimat eine Gegend südlich von London war. Mit diesem Ergebnis zufrieden, kehrte Jannion nach England zurück, wo er am selben Tag eintraf, als Eglington gerade den Kanal überquerte.

Er brannte darauf, seine Nachforschungen fortzusetzen, obgleich er sich nicht verhehlte, daß es keine leichte Aufgabe sein würde, die Adresse einer Frau, die in irgendeinem Ort südlich von London wohnte, herauszubringen. Zum Glück war der Name »Annesley«, wie er überlegte, ein ziemlich ungewöhnlicher. Die Dame mußte in guten Verhältnissen leben, da sie sich sonst nicht hätte den Luxus erlauben können, in ferne Länder zu reisen. Auch war sie zweifellos von gutherziger Gemütsart; das zeigte deutlich die Art und Weise, wie sie sich der verlassenen jungen Frau und ihres Kindes angenommen hatte. Eine solche Persönlichkeit, dachte Jannion, wird sicher über ihren Kreis hinaus bekannt sein und eine gesellschaftliche Stellung innehaben, die ihre Auffindung bedeutend erleichtert.

Die Frage war nur – wo sollte er seine Nachforschungen beginnen? Unwillkürlich drängte sich ihm der Gedanke auf, daß er ja schließlich in der Grafschaft Kent, die am nächsten lag, den Anfang machen könne, um zu erfahren, ob der Name »Annesley« dort bekannt sei.

Ein Adreßbuch war leider, wie es sich bald herausstellte, nicht zu erhalten. In Ermangelung dessen durchstöberte Jannion die alten Jahrgänge der Lokalzeitungen, und er hatte bereits zwei Tage dieser Beschäftigung gewidmet, als er sie schließlich von Erfolg gekrönt sah.

In einem der größeren Grafschaftsblätter, dessen Datum vier Monate zurücklag, fiel ihm eine Anzeige auf, die ihm einen Freudenschrei entlockte:

»Vermißt wird seit dem 4. August dieses Jahres aus ihrem Wohnort Craysfoot bei Ashford eine junge Frau von ungefähr dreißig Jahren. Sie ist mittelgroß und schlank, hat dunkles Haar, braune Augen und feingezeichnete Augenbrauen. Eine Belohnung von zehn Pfund ist für jede Mitteilung ausgesetzt, die zur Entdeckung ihres jetzigen Aufenthaltes führen kann. Sollte diese Anzeige Annie Lester in die Hände fallen, so wird Sie gebeten, ihrer treuen Freundin Ruth Annesley, Craysfoot bei Ashford, unverzüglich Nachricht zukommen zu lassen.«

»Also doch!« sagte Jannion zu sich und lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Jetzt bleibt mir nur mehr übrig, dieser Frau einen Besuch zu machen, und dann müssen die Ereignisse ihren Lauf nehmen.«

Gleich am nächsten Morgen machte sich Jannion auf den Weg nach Craysfoot. In einem Postauto fuhr er durch eine der schönsten Gegenden, die den »Garten von England« bilden. Meilenweit erfreute sich das Auge an herrlich blühenden Obstbäumen und grünen Hopfenranken, die die Frühlingsluft mit würzigem Duft erfüllten.

Nach einer Fahrt von mehreren Stunden erreichte Jannion sein Ziel, das Dorf Craysfoot.

Fairlawn, der Wohnsitz der Frau Annesley, war ein stattliches Besitztum mit ausgedehnten Obst- und Gemüsegärten. Es machte den Eindruck eines friedlichen Hafens, in dem ein verlassenes Mädchen wohl einen sicheren Zufluchtsort finden konnte.

Dieser Eindruck verstärkte sich noch beim Anblick der Herrin des Hauses, die in ihrem einfachen, grauen Gewand, mit ihren freundlichen Augen und sanften Lächeln, einem guten Engel glich, der zur Erde herabgestiegen war, die Mühseligen und Leidenden zu trösten.

»Was könnt Ihr mir, guter Freund, von Ann berichten?« fragte sie in jener Ausdrucksweise der Quäker, nachdem Jannion sich ihr vorgestellt und ihr den Zweck seines Besuches erklärt hatte.

»Ich möchte ganz offen mit Ihnen reden«, entgegnete Jannion respektvoll. »Es liegt mehr in meiner Absicht, Erkundigungen über die Vermißte einzuziehen, als Nachricht über sie zu geben. Ich habe ein besonderes Interesse daran, diese Frau zu finden, und wenn wir uns gemeinsam bemühten, dürfte es uns wohl gelingen, ihren Aufenthalt zu entdecken.«

»Was wollt Ihr also von mir wissen, Freund Jannion?« fragte Frau Annesley in ihrer Quäkerart und musterte ihren Besucher mit scharfen Blicken. »Vielleicht könnt Ihr mir sagen, wo der Schurke ist, der sie allein in einem fremden Land zurückließ, als sie nahe daran war, Mutter zu werden. Hat er Euch geschickt?«

»Nein, ich komme nicht von ihm«, erwiderte Jannion, »teile aber vollkommen Ihr Urteil über ihn.«

»So sagt mir also kurz, was Euch hergeführt hat«, seufzte Frau Annesley mit enttäuschter Miene. »Ich dachte schon, daß Ihr Nachricht von meiner Ann brächtet.«

»Ehe ich Ihnen sagen kann, ob es mir möglich sein wird, sie zu finden, müssen Sie mir alles berichten, was sie von ihr wissen«, erklärte Jannion. »Sie dürfen nicht vergessen, daß wir ein gemeinsames Interesse für dieselbe Person haben. Ihretwegen bin ich in die Schweiz gereist, und nun komme ich zu Ihnen in der Hoffnung, Auskunft über sie zu erlangen, damit es mir möglich wird, sie zu finden.«

»Ist das wirklich wahr?« entgegnete Frau Annesley, sichtlich neubelebt. »Oh, meine Geschichte ist bald erzählt. Ich brachte Ann vor ungefähr zwei Jahren aus der Schweiz hieher. Ich lebte dort einige Monate mit meinem kranken Mann, den die Aerzte dorthin geschickt hatten, weil sie hofften, dadurch sein Leben zu retten. Es sollte nicht sein. Er starb dort in meinen Armen. Seine Seele ist bei Gott.«

Die Erinnerung an den schweren Kummer, der sie getroffen, trieb ihr die Tränen in die Augen; doch sie faßte sich rasch und fuhr fort:

»Ihr seht, daß die Wunde, die mir der Herr geschlagen hat, nie heilen wird, bis die Zeit kommt, da ich meinen Gatten wiedersehen werde. Es war gerade damals kurz nach seinem Tod, als ich von einer jungen Engländerin hörte, die, von ihrem Mann verlassen, nach der Geburt eines Kindes zwischen Leben und Tod schwebte. Um meinen eigenen Kummer zu vergessen, nahm ich mich ihrer an, pflegte sie und brachte sie, sobald sie reisen konnte, mit ihrem Kind hieher nach Fairlawn. Das Kind, von Anfang an ein zartes Wesen, wollte trotz aller Fürsorge nicht gedeihen; es starb bald nach unserer Ankunft in England. Eines Tages beichtete sie mir, daß sie ein sündiges Leben geführt habe, bis eines Tages ein Engländer namens Trinkall ihr versprochen habe, sie zu heiraten. Sie sei mit ihm lange durch ganz Europa gereist und sie hätten sich auch längere Zeit in Italien aufgehalten. Von Italien seien sie nach der Schweiz gekommen und dort habe sie sich bereits [als Mutter] gefühlt. Zuerst habe er sich über diese Mitteilung gefreut, aber dann sei eine plötzliche Veränderung mit ihm vorgegangen und eines Tages sei er überhaupt verschwunden.«

Frau Annesley machte eine Pause und blickte dann traurig auf ihre Hände, die sie gefaltet im Schoß hielt.

»Ann blieb bis vergangenen August bei mir«, fuhr sie nach einer Weile fort. »Ich glaube, daß sie sich die ganze Zeit überglücklich fühlte, denn wenn sie sich auch sehr über den Verlust ihres Kindes grämte, kehrte doch allmählich ihre angeborene Heiterkeit wieder. Dann, wie Sie schon wissen, fand ich eines Tages ihr Zimmer leer. Sie war fort, hatte mir aber einige Zeilen hinterlassen. Ich werde den Brief holen und Euch vorlesen.«

Frau Annesley erhob sich, schloß eine Schublade ihres Schreibtisches auf und entnahm ihr einen Brief, den sie Jannion vorlas. Er lautete:

»Ich weiß nicht, ob wir einander jemals wiedersehen werden. Sollte es nicht geschehen, so lassen Sie mich Ihnen aus tiefstem Herzen für all Ihre Güte und Freundlichkeit danken. Ein Mädchen wie ich ist nicht geschaffen, unter anständigen Menschen zu leben. Vielleicht kehre ich noch einmal zu Ihnen zurück. Allein – ob ich wiederkomme oder nicht – halten Sie mich nicht für undankbar!

Ihre Annie Lester.«

 

Für sein Leben gern hätte Jannion diesen Brief, der für ihn von großer Bedeutung war, besessen, aber er wagte nicht, sie darum zu bitten, denn er las in Frau Annesleys Gesicht, daß sie um keinen Preis dies letzte Andenken an die Entflohene aus den Händen gegeben hätte.

»Haben Sie jemals ein Armband bei ihr bemerkt?« fragte er nach einer Pause. »Ein goldenes Armband mit Initialen.«

»Eure Frage beweist mir, daß Ihr wirklich auf der Suche nach meiner verlorenen Ann seid«, entgegnete die Witwe mit bewegter Stimme. »Ja, sie besaß ein solches Armband, durfte es aber in meinem Hause nicht tragen, weil wir Quäker unseren sterblichen Körper nicht mit Schmuck behängen. Das Armband war ein Geschenk ihres Geliebten und zeigte die Initialen ihres Namens Anette Sally Lester. Außer diesem besaß sie noch ein Andenken an den Mann, der sie verlassen hatte – einen prachtvollen Dolch, wahrscheinlich arabischen Ursprungs, den er einmal in einem italienischen Bazar für sie erstanden hatte. Eines Tages fand ich Ann in Tränen aufgelöst. Sie hatte den Dolch in der Hand und zerkratzte damit das Armband von innen, um nicht immer an ihren ehemaligen Freund erinnert zu werden.«

»Haßte sie ihn so sehr?« fragte Jannion gespannt.

»Das ist schwer zu sagen. Vielleicht war es eher ein Gefühl, das aus Haß und Liebe zugleich bestand. Sie hatte in Trinkall den Befreier aus ihrer schrecklichen Existenz gesehen und war überzeugt, daß er sie eines Tages seinem Versprechen gemäß heiraten würde. Auch war sie so glücklich, daß sie ein Kind von ihm haben würde, da sie darin den Beweis sah, daß vielleicht doch noch ein neues Leben für sie möglich sei. Sie wollte es im Anfang auch gar nicht glauben, daß er sie wirklich für immer verlassen habe, und glaubte stets, daß er eines Tages wieder erscheinen würde. Deshalb weigerte sie sich auch stets, ihm zu schreiben oder zu ihm zu fahren, obwohl sie seinen Aufenthaltsort wußte. Erst in den letzten Monaten ihres Hierseins sprach sie manchmal davon, daß sie ihn doch noch eines Tages auf suchen werde und daß dann noch alles wieder gut werden könne.«

»Nahm sie bei ihrer Flucht den Dolch mit? fragte Jannion.

»Ich habe weder das Armband noch den Dolch seit ihrem Verschwinden gesehen«, entgegnete Frau Annesley. »Nichts hat sie mitgenommen als einen kleinen Koffer mit Wäsche und Kleidern, die ihr schon früher gehört hatten. Alles was ich ihr geschenkt habe, hat sie hier gelassen. Aber nun erzählt mir auch Eure Geschichte, Freund Jannion!«

»Fragen Sie mich nichts!« sagte Jannion traurig. »Beten Sie lieber zu Gott, daß sie nie gefunden werden möge! Denn es wäre für die arme Frau besser, wenn sie im Grabe läge.«

»Weshalb sucht Ihr sie dann?« stammelte die Quäkerin erbleichend. »Ich will es wissen. Sagt mir die Wahrheit!«

»Wir suchen beide dieselbe Frau«, sagte Jannion leise, »Sie, um ihr ein Heim zu bieten; ich – um sie wegen Mord den Gerichten auszuliefern.«

»Mord?« wiederholte Frau Annesley bestürzt. »Das ist nicht möglich.« Die Worte kamen kaum über ihre Lippen, so zitterte sie vor Erregung am ganzen Körper.

Jannion ließ ihr Zeit sich zu fassen. Er besaß im Grunde ein weiches Gemüt und es tat ihm leid, Frau Annesley einen solchen Schmerz verursacht zu haben.

»Lesen Sie keine Zeitungen?« fragte er nach einer Weile, um zu erfahren, ob sie etwas von dem Manningford-Prozeß und der Ermordung Trinkalls gehört hatte.

Die Quäkerin schüttelte den Kopf. »Ich lese sie nur sehr selten. Aber Ihr habt nicht ehrlich gegen mich gehandelt, Freund Jannion. Ihr sagtet, Ihr wolltet offen sein. Hätte ich Eure Absicht gekannt, nicht ein Wort von dem, was ich Euch erzählt habe, wäre über meine Lippen gekommen; nicht etwa, weil ich die Gesetze der Menschen verachte – ich stimme ihnen bei, wenn sie gerecht und auf Gottes Gebote gegründet sind. Aber meist sind die Menschengesetze hart und rachsüchtig. Wie die wilden Tiere fordern sie ›Auge um Auge, Zahn um Zahn‹. Wollt Ihr mir als Entschädigung für Euren Mangel an Offenheit eine Bitte gewähren? Wenn es in Eurer Macht liegt, helft mir, sie zu retten. Aber vielleicht steht ein anderer unter dem Verdacht, ihr Verbrechen begangen zu haben: deshalb soll sie ihre Schuld bekennen und ein schriftliches, von Zeugen beglaubigtes Geständnis ablegen, damit kein Unschuldiger für ihre Tat zu büßen hat. Ich will sie dann weit fortbringen, wo sie das Gesetz nicht mehr erreichen kann und will ihre verirrte Seele wieder auf den rechten Weg zurückführen, von dem sie sich in so unseliger Weise entfernt hat. Wollt Ihr mir dazu helfen, Freund Jannion?«

»Wenn ich auch nicht völlig mit Ihnen übereinstimme«, erwiderte er, »so muß ich Ihnen doch gestehen, daß Ihre Worte Ihrem Herzen alle Ehre machen. Um Ihretwillen wünschte ich, mach mit dieser Sache nicht befaßt zu haben. Da ich jedoch den Auftrag übernommen habe, muß ich ihn auch ausführen. Allein, das will ich Ihnen versprechen: läßt sich Ihr Wunsch erfüllen, so soll es geschehen. Und wenn man Ihnen nicht erlauben sollte, die unglückliche Frau in ein Land zu bringen, wo sie vor der Vergeltung der Gesetze sicher ist, so wird es nicht Joe Jannions Schuld sein.«

»Ihr habt zu viele ›Wenn‹ in Eurem Versprechen, Freund«, entgegnete Frau Annesley, »aber ich glaube, daß Ihr es gut meint und daß ich Euch vertrauen kann. Es ist das einzige, was wir für sie tun könnten, um sie zu retten.«

»Ich will Ihnen lieber nichts Näheres über den Fall mitteilen«, sagte Jannion. »Die einzelnen Umstände haben ja nichts zu bedeuten –«

»Nein, nein –« wehrte Frau Annesley hastig ab. »Erzählt mir nichts! Wir alle sind schuldig an diesem Mädchen und ihrem Schicksal. Was sie auch immer getan hat, es enthebt uns nicht der Pflicht, eine Seele zu retten, die der menschlichen Liebe niemals teilhaftig geworden ist.«

Auf der Rückfahrt nach Lancaster stand Jannion noch lange unter dem Eindruck dieser ergreifenden Unterredung. Die Lösung des Geheimnisses, das die Ermordung Trinkalls umgeben hatte, war ihm über Erwarten geglückt, aber zum erstemal freute er sich nicht über seinen Erfolg.

»Ich hätte zwar ebensogut einen Spaziergang über die Straße machen können als in die Schweiz zu reisen, um diese Frau zu finden«, dachte er, »aber die längsten Wege sind nicht immer die schlechtesten.«


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