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7.

John Mowbray nahm das über ihn verhängte Geschick mit Ruhe und Festigkeit eines wahrhaft unerschrockenen Geistes hin. Ihn hatte das Urteil nicht überrascht. Er wußte von Anfang an, welche Schwierigkeiten er seinen Verteidigern bereitete, wenn er sein Schweigen über die Angelegenheit, die ihm am 11. November zu dem Ausritt veranlaßt hatte, aufrecht erhielt. Er hatte alles vorausgesehen, und wenn das Gesetz von ihm Sühne verlangte, so wollte er nicht davor zurückschrecken.

In den düsteren Tagen, die der Verurteilung John Mowbrays folgten, kam seine Schwester täglich zu ihm. Dr. Chancellor hatte ihr die besondere Gunst erwirkt, jeden Tag einige Stunden bei dem Gefangenen verweilen zu dürfen. Ihre Anwesenheit war für den Unglücklichen ein Lichtstrahl in der dumpfen Monotonie seiner letzten Tage. Um Helens willen heuchelte er Interesse für die Schritte, die zu seinen Gunsten unternommen worden waren, teilte er scheinbar die Hoffnungsfreude, mit der sie diese Bemühungen um seinem Rettung verfolgte. Aber innerlich gab er sich keinen trügerischen Hoffnungen hin, deren Nichterfüllung die Bitterkeit des Todes noch vermehrt hätte. In dem Augenblick, als das Todesurteil ihn zum Mörder stempelte, verlor er alles Interesse am Leben. Seiner Schwester gegenüber berührte er niemals jene geheimnisvollen Dinge, über die zu schweigen er sich verpflichtet fühlte. Nur einmal übergab er Helen ein versiegeltes Päckchen, das, wie er sagte, die Erklärung seiner Handlungsweise enthielt, doch mußte sie ihm schwören, es nicht vor Ablauf eines Jahres zu öffnen.

Inzwischen wurde keine Mühe gespart, eine Revision des Prozesses zu erzielen. Da dies jedoch nicht gelang, so reichten Dr. Chancellor und Dr. Dawson ein Gnadengesuch ein und versuchten gleichzeitig, die angesehensten Familien der Grafschaft zu überreden, ihren Einfluß zugunsten des Verurteilten geltend zu machen.

Alle Anstrengungen erwiesen sich jedoch als fruchtlos, denn der Minister erklärte, daß er keinen Grund finden könne, dem König die Ausübung seines Begnadigungsrechtes anzuraten. Es seien keine Beweise vorgebracht worden, daß Francis Trinkall durch andere Hand gefallen sei als die des Mannes, den die Geschworenen dieses Verbrechens schuldig erklärt hätten. Wollte die Krone trotzdem das Urteil aufheben, so würde die öffentliche Meinung nur allzu rasch behaupten, es gäbe im Staat ein Gesetz für die Reichen und ein anderes für die Armen, und daß die höhere Lebensstellung den Verurteilten vor der ihm zuerkannten Strafe geschützt habe, während sie an einem Mann aus dem Volk ohne Gnade vollstreckt worden wäre. Das Gnadengesuch müsse daher abgewiesen und dem Gesetz Genüge getan werden.

So war der Würfel gefallen. John Mowbrays Schicksal war unwiderruflich besiegelt.

Die Hinrichtung war bereits auf den letzten Sonnabend im Februar festgesetzt worden, und erst am vorhergehenden Tag erhielt Dr. Chancellor das Ablehnungsschreiben des Ministers.

Mit schwerem Herzen begab er sich noch am selben Abend nach dem Gefängnis, um seinem unglücklichen Klienten einen letzten Besuch zu machen.

Nach all den Aufregungen der letzten Wochen und dem fruchtlosen Resultat seiner Bemühungen fühlte er sich todmüde und abgespannt. Als er am späten Nachmittag den Schloßhügel hinaufstieg und ein heftiger Ostwind, der ihm entgegenblies, ihn zwang, sich den Weg zum Schloß mühsam zu erkämpfen, fand er wieder ein wenig die Kraft zurück, die er für den schweren Gang benötigte.

Oben angekommen, nahm er den Hut ab, fuhr sich mit der Hand über die Stirn und blickte nachdenklich auf die friedliche Landschaft zu seinen Füßen. Erst nach einer Weile vermochte er sich von dem Anblick loszureißen, und mit hastigen Schritten eilte er nun dem Schloß zu, dessen dunkle Umrisse sich scharf in der Dämmerung abhoben.

Durch einen Spalt im Tor konnte er das im Hof bereits errichtete Todesgerüst erblicken. Ein Schauer durchlief ihn, und er wandte seufzend den Kopf ab.

Er fand John Mowbray in Gesellschaft des Gefängnisdirektors und des Kaplans. Die Haltung des Verurteilten war derartig ruhig und gefaßt, daß ihm Chancellor nicht seine Bewunderung versagen konnte. Obwohl seine Gesundheit durch die Haft und Ungewißheit seines Schicksals gelitten hatte, war er doch jetzt wieder im Besitz seiner früheren Lebhaftigkeit. Ohne Furcht sah er dem nahen Tod ins Auge.

»Glauben Sie nicht, daß ich den Wert des Lebens verachte, weil ich bereit bin, es zu verlassen«, sagte er, während seine Augen in fieberhaftem Glanz leuchteten. »Aber der Tod ist nicht der schlimmste Feind, den ein Mann zu fürchten hat. Schande, ein Dasein ohne Zweck, ohne Hoffnung, das ist härter als der Tod. Dem möchte ich entgehen. Was hätte vor mir gelegen, wenn man mich begnadigt hätte? Ein trübes Dahinvegetieren in einer Zelle, getrennt von allem, was mir das Leben wertvoll macht, wodurch allein das Leben überhaupt einen Sinn bekommt. Sind wir nicht auch im Leben ständig vom Tod umgeben? Da ich mich unschuldig fühle, kann ich auch den Tod, den ich erleide, nicht als schimpflich betrachten. Wir alle, ich, der ich verurteilt wurde, die Männer, die mich verurteilten, und jene, die meinen Tod herbeiführen werden, stehen unter dem Gesetz der Notwendigkeit. So wenig, wie ich frei war, zu sprechen und damit das drohende Schicksal von mir abzuwenden, so wenig waren die Geschworenen und Richter frei, als sie das Todesurteil über mich aussprachen.

Es ist töricht zu glauben, daß alles hätte anders enden können. Die Gesetze ließen dem Gericht keinen großen Spielraum mehr, da nun einmal alles für meine Schuld sprach. Und die Geschworenen? Sie haben keinen Augenblick vergessen, daß ich ein Fremder unter ihnen war. Auch sie waren nicht frei, das »Schuldig« oder »Unschuldig« nach Belieben zu sprechen. Aufgewachsen in dieser Gegend und verbunden mit dieser Erde, mußten sie allem mißtrauen, was nicht ihresgleichen war. Wie seltsam, daß mir das alles so spät zum Bewußtsein gekommen ist!

Freilich war ich mein ganzes Leben fast ebensosehr Russe wie Engländer. Aber ich empfand es nicht als Zwiespalt. Ich glaubte ein guter englischer Bürger sein zu können und doch mich an das Land meiner Mutter hingezogen fühlen zu dürfen. War es ein Irrtum? Es ist zu spät, darüber nachzugrübeln.«

Keiner der Anwesenden erwiderte ein Wort. Sie alle fühlten, daß dieser Mann keiner tröstenden Worte bedurfte. Auch der Kaplan schwieg, weil er fühlte, daß die Religion John Mowbray nicht mehr Mut und Kraft in seiner schweren Stunde geben werde, als er sich bereits selbst zu geben vermochte.

»Doch ich will die Zeit nicht vergeuden«, fuhr der Verurteilte fort. »Es war ja nicht, um davon zu reden, daß ich Sie noch einmal zu mir bitten ließ, Herr Doktor, vielmehr wünsche ich eine letzte Bitte an Sie zu richten. Ich weiß, es ist ein großer Freundschaftsdienst, den ich von Ihnen begehre. Bevor ich ihn jedoch nenne, möchte ich Ihr Urteil über mich hören. Nehmen Sie sich Zeit, ehe Sie antworten! Halten Sie mich für schuldig oder nicht?«

»Ich habe Sie von Anfang an für so wenig schuldig gehalten wie mich selber«, antwortete Chancellor. »Nicht einen Augenblick lang habe ich an Ihrer Unschuld gezweifelt und bin auch jetzt noch fest von ihr überzeugt.«

John Mowbray blickte ihn einen Augenblick durchdringend an, ob er seinen Worten vertrauen dürfe. Aber dann streckte er ihm die Hand hin und sagte mit bewegter Stimme:

»Ich danke Ihnen für das Vertrauen, das Sie mir bezeugen. Sie dürfen sicher sein, es keinem Unwürdigen geschenkt zu haben. Bei allem, was mir heilig ist, schwöre ich noch einmal, daß ich unschuldig an dem Blute des Ermordeten bin. Sein Tod ist mir unbegreiflich. Er hatte keinen Feind in Mannigford, und die Schwierigkeit für einen Fremden, sich ungesehen ins Dorf zu stehlen und unbemerkt wieder zu entkommen, erscheint so groß, daß ich diejenigen verstehe, die das als unmöglich hinstellten. Dennoch muß es so gewesen sein, und der Elende, dem es gelang, sich jeder Beobachtung zu entziehen, geht noch unverdächtig unter uns herum. Wäre ich frei, dann würde ich es zu meiner Lebensaufgabe machen, ihn aus dem Dunkel, in dem er sich verbirgt, ans Tageslicht zu zerren. Dieses Werk, das ich nicht selbst vollbringen kann, muß ich in andere Hände legen.«

Dr. Chancellor hatte längst bemerkt, worauf sich John Mowbrays Gedanken richteten. Es war nicht das erstemal, daß der Advokat den Plan erwogen hatte, den Mörder Trinkalls auf eigene Faust aufzuspüren, da er es nicht verwinden konnte, daß alle seine Bemühungen gescheitert waren. Noch mehr aber hatte der Anblick Helen Mowbrays, die ihren geliebten Bruder auf solche Art verlieren mußte, den Wunsch in ihm erregt, den Schuldigen zu finden, der zu dem ersten Verbrechen, ein zweites hinzugefügt, indem er einen Unschuldigen an seiner Stelle den Tod erleiden ließ.

Dr. Chancellor hatte, bevor er sich ins Gefängnis begab, noch die schwere Aufgabe auf sich genommen, Helen die schreckliche Nachricht zu bringen, daß alle Hoffnung vernichtet und das Schicksal ihres Bruders besiegelt sei. Nie in seinem Leben war sein Herz von so tiefem Mitgefühl bewegt gewesen, als angesichts des unglücklichen jungen Mädchens, dessen Schmerz ihn zu dem Wunsch bewogen hatte, nicht eher zu ruhen, als bis der wirkliche Täter entdeckt sei. Es bedurfte daher nur eines geringen Anstoßes, seinen Wunsch in einen festen Entschluß zu verwandeln und diesen Anstoß gab John Mowbrays mit tiefem Ernst vorgebrachte Bitte.

»Es ist unendlich viel, was ich von Ihnen verlange«, sagte er. »Wollen Sie es übernehmen, den Mörder ausfindig zu machen?« Er schwieg und sah den Rechtsanwalt lange an. »Ich möchte mit dem Gedanken sterben«, fuhr er fort, »daß meine Schwester nochmal meine Rechtfertigung erleben wird.«

Ohne Zögern gab Chancellor das ersehnte Versprechen.

»Ich verpfände Ihnen mein Ehrenwort«, sagte er und ergriff Mowbrays Hand, »daß nichts ungeschehen bleiben soll, das Geheimnis dieses Verbrechens zu lüften und der Welt Ihre Unschuld zu beweisen.«

John Mowbray ergriff die dargebotene Hand voll Wärme. »Ich glaube Ihnen und danke Ihnen von ganzem Herzen«, sagte er und über sein Gesicht ging ein müdes Lächeln. »Ihr Versprechen hat den Tode seinen letzten Stachel genommen, denn meine Prophezeihung wird sich bewahrheiten. Mir wird doch noch einst Gerechtigkeit widerfahren, und der dunkle Flecken, der jetzt auf meinem Namen ruht, wird getilgt werden.«

Es war unmöglich, Zeuge eines so zuversichtlichen Vertrauens zu sein, ohne es zu teilen. Seine feierlich gesprochenen Worte klangen wie die eines Menschen, der bereits der irdischen Welt entrückt, von einer höheren Sphäre das Wesen dieser Welt klarer erschaut als andere Sterbliche.

Mit dem Bewußtsein einer heiligen Mission, an deren Gelingen er nicht zweifelte, verließ Dr. Chancellor das Gefängnis. Und so vertieft war er in diesen Gedanken, daß er nicht bemerkte, wie ihm eine Frau, die vor dem Gefängnistor wartete, einige Schritte folgte, ohne offenbar den Mut zu finden, ihn anzusprechen.

Der leise Druck einer Hand auf seiner Schulter rief ihn in die Wirklichkeit zurück. Er wandte sich um und erblickte eine Frau, deren Augen mit flehendem Ausdruck auf ihn gerichtet waren.

Sie war vielleicht dreißig Jahre alt und sehr bescheiden gekleidet. Ihr schmales, blasses Gesicht wäre eigentlich recht hübsch zu nennen gewesen, wenn nicht Spuren von Verlebtheit es entstellt hätten.

»Kommen Sie nicht eben aus dem Gefängnis?« fragte die Unbekannte mit leiser Stimme. »Ist es wahr, daß man ihn nicht begnadigt hat?«

Ueberrascht blickte Dr. Chancellor auf die Sprecherin.

»Ist er wirklich nicht begnadigt?« wiederholte die Unbekannte ihre Frage mit sichtlicher Ungeduld.

»Nein«, antwortete der Rechtsanwalt und schickte sich zum Gehen an, da er keine Lust verspürte, sich in ein längeres Gespräch einzulassen.

»Aber sie werden ihn doch nicht hängen?« stieß die Frau ängstlich hervor und ergriff ihn am Arm. »Man wird doch nicht einen Unschuldigen richten.«

»Leider kann nichts mehr für ihn geschehen«, erwiderte Dr. Chancellor achselzuckend. »Das Gnadengesuch –«

Die Frau wartete das Ende seines Satzes nicht mehr ab. Sie wandte sich um und war einige Sekunden später in der Dunkelheit verschwunden.

So rasch hatte sich das alles abgespielt, daß Dr. Chancellor nicht ganz sicher war, ob er wirklich mit der Frau gesprochen hatte oder ob ihm nur seine erregten Nerven einen Streich gespielt hatten.

Aber dann sagte er sich, daß es sicher nur eine Neugierige gewesen sein, die an dem Schicksal von John Mowbrays mehr als gewöhnlichen Anteil genommen hatte. Er wußte ja, daß in allen Häusern der Grafschaft Wochen schon von nichts anderem mehr gesprochen wurde als von dem unglücklichen John Mowbray. Er fand nichts Ungewöhnliches mehr an dem Erlebnis und machte sich auf den Heimweg, wobei er sich vornahm, mit einem starken Schlafmittel alle Gedanken an die bevorstehende Hinrichtung auszulöschen, die ihn in einem unerträglichen Maß zu quälen begann.

*

Der letzte Akt des Dramas brach heran. Es war um eine frühe Morgenstunde des folgenden Tages, als John Mowbray vom Gefängniswärter geweckt wurde, um seinen schweren Gang anzutreten.

Ein nebliger und trüber Tag hüllte gnädig in Dunkelheit, was Menschenhirne und Menschenhände vollbrachten, indem sie einer imaginären Pflicht zu genügen glaubten.

Niemand war bei der verabscheuenswerten Exekution anwesend als der Richter, einige Gerichtsfunktionäre, zwei oder drei Journalisten und der Henker mit seinen Gehilfen.

Draußen vor dem Tor freilich hatte sich eine große Menschenmenge angesammelt, offenbar um den Beweis zu liefern, daß diesem Menschengeschlecht kaum mehr zu helfen ist. Konnten sie auch nicht bei dem Hinrichtungsakt anwesend sein, so bereitete es ihnen doch eine gewisse Befriedigung, wenn, nur durch ein Tor von ihnen getrennt, ein Mensch die Unvollkommenheit unserer Institutionen mit seinem Leben bezahlte.

Ueber John Mowbray ist nur zu berichten, daß er sich wie ein Held betrug und damit den Richter beschämte, der mehr als einmal zu einem Fläschchen Zuflucht nehmen mußte, um sich vor einem Unwohlsein zu retten.

Er hatte auch das Glück – wenn man es so nennen kann – daß man einen guten und geschickten Henker aus London gesandt hatte.

Eine Stunde später ging die Sonne wie gewöhnlich über der Grafschaft Lancaster auf und rief die Bürger an ihre gewohnte Tagesarbeit, während noch ein einsames Gerüst im Gefängnishof von einem schmachvollen nächtlichen Ereignis zeugte.


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