Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Entdeckungen.

Das Zellhaus oder wie die Gaminger in volkstümlicher Verballhornung sagten, das »Zelthaus«, in dessen erstem Stock die Lorentischen Wohnung bekamen, war das zweite in der Reihe der alten, schmalstirnigen Steinhäuser oberhalb des Schlosses. Es schaute aus schmalen Fenstern vor sich auf die geneigte Fläche des Gemüsegartens und hinter sich in einen kleinen Hof. Der war auf der Nordseite von der wohl sechs Meter hohen Steinmauer des ehemaligen Klostergartens begrenzt und gegen die beiden Nachbarhöfe durch niedere Planken abgeschlossen. Es war der erste Tag nach der Übersiedlung, ein Donnerstag. Schulfrei. Koja war schon vor dem Frühstück im Garten und hielt Ausschau, ob die Kutscherkinder schon kämen, die versprochen hatten, den Geschwistern zu zeigen, was sie alles im Schlosse hatten. In seiner Ungeduld ging er ihnen entgegen und dann wieder zurück ins Haus und gelangte durch den dunklen Flur hinten hinaus in den Hof. Da entdeckte er einen sonderbaren Brunnen: Quer von einem Nachbarhof zum andern lagen Baumstämme; in einem derselben stak ein fast mannshohes Brunnenrohr, aber an dem war kein Schwengel! Es war oben mit einem armdicken Pfropf verstopft und hatte an der Seite ein Ausflußrohr, das in eine Pipe endigte, als ob man da nur aufzudrehen brauchte wie bei einem Faß. Das reizte Koja zum Probieren! Und richtig: So oft er die Pipe aufdrehte, schoß das Wasser mit Macht heraus und rann in den Brunntrog, der aus einem ausgehöhlten Baumstamm bestand. Das war lustig. Und noch lustiger mußte es sein, wenn man oben den dicken Pfropf herauszog. – Aber mit den bloßen Händen ging das nicht. Da holte Koja aus dem nahen Holzschuppen ein Handbeil und klopfte damit seitlings auf den Pfropf, daß er locker wurde.

Plötzlich schoß der Pfropf empor, weit über die Höhe des Daches, getragen von einer armdicken Wassersäule. Und platsch, platsch, platsch fiel das Wasser zurück, dem Buben auf Kopf und Schultern. Eiskalt war's; brrr!

Es gurgelte und plätscherte und im Nu war der Hof überschwemmt. Koja schüttelte sich vom Brausebad wie ein Pudel, der aus dem Wasser kommt, suchte den Pfropf, fand ihn und beeilte sich, ihn wieder ins Brunnenrohr zu stecken.

Aber o weh! Kaum hatte er ihn über dem Loch, als das Wasser schirmartig auseinanderspritzte. Es riß dem Knaben den Pfropf aus den Händen und schleuderte ihn weg. Koja stand ratlos. Die prickelnde Kälte ließ ihn aber nicht rasten. Sein Gewand begann zu knittern vom Frost. Da rannte er im Hof umher, suchte den Pfropf und fand ihn an der Mauer. Bebend vor Kälte wollte er mit aller Kraft den Versuch erneuern. Im Augenblick, als er an den Brunnen trat, erscholl über die linke Planke her ein arges Geschimpfe, dessen Sinn er nur ahnte. – Drüben war das Wasser ausgeblieben. Dann zeigte sich über der rechten Planke der Kopf eines bärtigen Mannes, der lachte übers ganze Gesicht. Und gleich darauf hörte das Wasser auf zu fließen. Der Mann hatte weiter oben die Zuleitung abgesperrt. Jetzt nahm Koja das Handbeil auf, erstieg das Ausflußrohr und trieb mit starken Schlägen den Pfropf wieder ins Brunnenrohr. Dann aber lief er ins Haus und über die Stiege hinauf, daß sein froststarres Gewand raschelte. Die Mutter hatte vom Fenster aus das Ende des Ereignisses gesehen. Da fragte sie den Buben, zog ihm die nassen Kleider vom Leib und half ihm in trockene. Dann setzte er sich zum warmen Ofen, umklammerte den Kaffeetopf mit beiden Händen und schlürfte den heißen Trank. Inzwischen erzählte er lachend sein Erlebnis; da mußte auch die Mutter lachen. Agi meinte: »So etwas kann nur dem Koja passieren.« Lustig hatte das Gaminger Leben begonnen. Die Kutscherkinder kamen und führten die Geschwister zunächst ins Schloß. Sie zeigten ihnen alle Sehenswürdigkeiten mit sichtlichem Stolz. »Da haben wir,« hieß es immer. Was sie alles hatten! In den hell geweißten Stallungen schlankbeinige Rappen und Schimmel und rotbraune Fuchsen. Und jedes Pferd hatte über seinem sauber gehaltenen Stand seinen Namen, und es waren lauter wunderliche Namen, ungarische, denn der Graf Festetics cs = isch. war ein Ungar. Die Kutscherkinder aber wußten, was die Namen bedeuteten. Da war Csillág (der Stern), der noch bei keinem Rennen besiegt worden war, dort Sólyom (der Falke), dort Farkas (der Wolf); eine Stute hieß Virág (die Blume) und der Zuchthengst hieß Sandor S wird im Ungarischen als Sch gesprochen., wie der Bub des Herrn Fekete in Alt-Paka. Unter den betonierten Futtertrögen der schönen Pferde huschten allerlei Kaninchen herum. Und sie wagten sich auch ungescheut ins Stroh unter die Pferde; die Großen schienen hier Freunde der Kleinen zu sein.

In einer vergitterten Hofnische saß mit aufgeplustertem Federkleid eine riesige Eule, ein Uhu. Ein eigener Stall für die Jagdhunde war da und ein anderer für zahme Füchse. In den Laubengängen aber hingen über den Türen riesige Hirschgeweihe mit armdicken Stangen, seltsam verwachsene Rehkrickel (Kümmerer), knotenreiche Steinbocksgehörne und hakige Gamskrickel. Zu ebener Erde, unweit der Kutscherwohnung, plätscherte das klare Wasser eines Röhrbrunnens in ein seichtes Steinbecken. Darinnen schwammen dunkle, rot getüpfelte Fische. Es waren die Forellen, welche bereitgehalten wurden für die gräfliche Tafel in Wien.

Auf ihrem Rundgang kamen die Kinder auch in die alte Klosterkirche, aus deren Turmgemäuer schlanke Birken wuchsen. Im Innern war Scheiterholz aufgeschichtet in mächtigen Stößen bis zu halber Höhe der spitzbogigen Fenster, in denen manche der farbigen Scheiben eingestoßen war. Die Wandgemälde waren verkratzt, die marmornen Grabsteine an den Mauern und auf dem Fußboden verschrammt. Und im ganzen Raum war ein feuchter Geruch von Schimmel und Moder.

Ein Ruf, der wie »pao« klang, lockte die Kinder in den Wirtschaftshof hinüber. Da stolzierte ein Pfau mitten unterm Hühnervolk und spreizte die meterlangen Federn seines prachtvollen Stoßes, daß die blaugrünen, metallischen Augenflecke der Feder-Enden fast einen Kreis bildeten. Ein Truthahn kam ruhig auf die Kinder zu, sein bronzefarbiges Gefieder lag ihm dicht an, als ob es gestreichelt wäre, die Fleischwülste überm Schnabel und vorne am nackten Hals waren klein und weiß mit einem Stich ins Bläuliche. Zahm äugte er die Kinder an. Er bettelte um Brot. Die Trinkl-Marie hatte ein tüchtiges Stück mitgenommen, das verteilte sie unter Koja und Agi; und der Truthahn fraß ihnen aus den Händen. O welche Freude! Edwin aber entfaltete sein rotseidenes Halstuch, tänzelte vor dem Hahne hin und her, schwenkte das grellfarbige Tuch und sang dazu ein Sprüchlein:

»Rot und blau ist nit schön!
Rot und blau ist nit schön!«

Da fing der Truthahn an zu kollern »Hudri, budri, hudri, budri!«, sträubte alle Federn, daß er zweimal so groß wurde, schlug mit dem Stoß ein Rad und spreizte die Flügel nach unten, daß sie bei jedem Schritt den Boden streiften. Zugleich stieg ihm das Blut sichtlich zu Kopfe. Der Fleischzapfen über dem Schnabel wurde rot und wuchs und wuchs, bis er eine Spanne lang niederbaumelte. Die Falten der Halskrause wurden rot und blau. Dabei ging er auf Edwin los und wiederholte seinen Kampfruf: »Hudri budri, hudri budri!«

Als der Knabe das rote Tuch im Rocksack verschwinden ließ, beruhigte sich der kampflustige Truthahn, sein Gefieder legte sich, seine Hautwülste schrumpften zusammen und wurden wieder blaß. War das nicht ein Wunder, daß die rote Farbe den Hahn so reizte? – Auch in den Stallungen des Wirtschaftshofes gab es Merkwürdiges zu sehen. Da war unter den Kühen eine riesige Holländerin, die zwei Kälber geworfen hatte. Und unter den Schweinen war eine englische Sau, die hatte ein kurzes Mopsgesicht und war so dick und schwer, daß ihre dünnen Beine den langen, walzenförmigen Leib gar nicht zu tragen vermochten. Sie konnte nicht mehr zum Futtertrog. Da wurde sie nur noch mit Milch genährt und die bekam sie aus der Saugflasche.

Als die Kinder durch die weitläufigen Höfe mit den langen Bogengängen ins Freie gingen, fragte Koja nachdenklich: »Und das alles gehört dem Grafen und der Gräfin ganz allein?«

»O nicht nur das. Sie haben auch noch in Ungarn Schlösser und Berge mit Wäldern, und Tiergärten haben sie mit Hirschen, Rehen, Wildschweinen und Gemsen.«–

Da schwiegen die Kinder, und jedes hatte so seine Gedanken. Agi brach das Schweigen: »Schade, daß sie nicht wenigstens Kinder haben!« Gegenwärtig ist im Gaminger-Schloß ein Kinder-Erholungsheim der Gemeinde Wien untergebracht, in dem jährlich Hunderte von Kindern sich kräftigen.

Das Staunen der Kinder wuchs, als sie durch einen Nebenhof in den verschneiten Garten traten. Da stand ein Glashaus und drinnen war es warm wie im Sommer. Und eine paradiesische Herrlichkeit war da: hohe Palmen ragten bis zum First und unten blühten in heller Pracht allerlei Blumen, die Koja und Agi nie gesehen hatten. Jetzt wußten sie, wie schön es sein mochte in den heißen Ländern.

Dem Schloßtor gegenüber war eine Sägemühle jenseits des Baches, die auch dem Grafen gehörte. Da guckten die Kinder durchs offene Tor hinein und sahen zu, wie ein Baum sich auf die Bandsägen zu bewegte, die senkrecht auf und ab gingen und sich in ihn hineinfraßen, daß er in sechs Bretter zerlegt wurde. Die Zagen surrten, das Wasser rauschte; von dem einzigen Mann, der still die Züge betreute, wäre in dem Lärm nichts zu erfragen gewesen. Da gingen die Kinder um die Sägemühle herum, stiegen die Bachböschung nieder, sahen von unten ins Triebwerk und erforschten, wie denn das möglich war, was oben vorging. Das Bachwasser fiel aus hochgeführter Rinne aufs Rad, füllte seine bretternen Randtaschen und trieb es so herum. An der Welle des Wasserrades aber war in der Sägemühle ein zweites Rad, über dessen breiten Rand ein starker Riemen lief. Das war ja so wie die Schnüre am Spinnrad der Großmutter! Und der Riemen lief weiter oben über ein viel kleineres Rad, das sich viel schneller drehen mußte. Es saß auf einer eisernen Achse, die im Innern der Sägemühle kurbelartig ausgebogen war. Und da dran waren eiserne Gelenkstangen. Die führten die Sägen zwischen fetttriefenden Holzbacken auf und ab, auf und ab.

Und wie ging es zu, daß der Baum sich auf die Sägen zu bewegte? Da war ein zweiter Riemen auf dem Wellbaum des Mühlrades, der lief über ein breites Rad, das mit einer gezähnten Eisenwalze verbunden war. Und da drauf lag der Baum. Langsamer als draußen das Rad, drehte sich die Walze; ihre Zähne bissen in den Baum und schoben ihn ruhig und stetig den Bandsägen zu. – Es war alles ganz einfach, aber schön war es, wie eines so gut ins andre griff. Draußen fiel das Wasser aufs Rad und drinnen wurde der Baum in Bretter zerlegt, die über eine schiefe Brücke hinunterglitten, wenn sie sich von den Sägen lösten.

Nach dem Mittagessen dehnten die Kinder ihren Entdeckungsgang jenseits des Baches bergwärts aus. Da kamen sie zum hohen Zaun des Tiergartens. Und weil gerade aus dem Walde drinnen Holz herausgeführt wurde, stand das Tor offen und der wachehaltende Jäger ließ die Kinder ein. Aber sie durften nicht weiter gehen als bis zum Jagdhaus am Teich. Da standen sie nun und warteten und schauten. Es dauerte lange bis sich's ihnen lohnte. Ein Rudel Damhirsche trat aus dem Gehölz auf die Lichtung beim Futterstadel, darunter fünf Böcke mit breitschaufeligem Geweih, alle so dunkel gefärbt, daß im Fell kaum Spuren weißer Tupfen waren. Sie begaben sich zur Futterraufe und kümmerten sich nicht um die Nähe der Kinder, die beobachtend stille standen, bis es sie in den Fußspitzen fror. Erst als das Wild sich zurückzog, verließen sie den Tiergarten. »Wir haben auch Wildsäu' herin, und Edelhirsche und Gemsen, aber weiter drinnen,« prahlte Edwin. – Am linken Ufer des Baches gingen die Kinder abwärts auf die Hammerschmiede zu. – Die frühe Winterdämmerung lag auf den schneebedeckten Ufern; im Bachbett wallte ein zarter Nebel, unter dem die Wellen rosig heraufschimmerten. Das war von den Funkengarben, die stoßweise aus dem breiten Schlot der Schmiede emporflogen. »Das macht der Blasebalg,« erklärte Marie. – Neben dem Bache war ein langer Trog auf hölzernen Stelzen, von dessen Moosbelag das Wasser troff. Es war das »Mühlg'flieder«, das zum Rade führte. Und je näher die Kinder der Schmiede kamen, desto mehr spürten sie bei jedem Tritt, daß der Boden unter ihren Füßen bebte. Von der Schwelle der Schmiede aus nickten sie dem rußgeschwärzten Mann grüßend zu, der im Lichte der Esse vor dem Amboß saß. Er aber schien sie nicht zu sehen. Da wagten sie sich nicht weiter. Der Mann hatte keinen Hammer in der Hand. Nur den glühenden Eisenstab hielt er mit der langen Zange fest und schob ihn langsam übern Amboß hin. Darüber ging der Hammer von selber auf und ab und hämmerte den Eisenstab krumm; der verlor seine Glutfarbe und wurde grau. Da griff der Schmied nach einem Hebel, der das hintere Ende des langen Hammerbalkens verschob, und der Hammer lag still auf dem Amboß. Erst als der Schmied den grauen Stab zwischen die Kohlen der Esse geschoben und einen anderen, der fast weiß glühte, auf den Amboß gelegt hatte, brachte er durch eine Hebelbewegung den Hammer wieder in Gang.

Wie das zustande kam, mußte Koja erschauen. Auf den Fußspitzen schlich er vorsichtig hinter den Schmied, immer mit einem Fuße vortastend, daß er nicht wieder in eine Grube geriet, wie damals in der Schmiede der Großmutter. Dann schirmte er mit der Hand die Augen ab gegen das Licht der Esse und ließ die Blicke an dem langen Hammerbalken entlanggleiten bis an ihr Ende. Dort sah er Eisenzapfen aus der baumstarken Radwelle ragen, die offenbar vom Mühlrad draußen gedreht wurde. Und so oft ein Zapfen das Ende des Hammerbalkens niederdrückte, mußte der Hammer am andern Ende in die Höhe gehen; und war der Zapfen beim Weiterdrehen der Welle über das Ende des Hammerbalkens niedergeglitten, schlug der Hammer herab auf den Amboß. Das mußte so geschehen, denn quer durch den Hammerstab ging eine Eisenstange, um die er sich auf und ab bewegte. Das war ja wie bei einer Nußschnarre, wo die Finger der Hand dasselbe taten, was hier die Zapfen.

Indes hatte der Schmied den krummen Stab flachhämmern lassen und schon war zu erkennen, was daraus werden sollte: eine Sense!

Still wie die Kinder gekommen waren, verließen sie die Hammerschmiede. Sie traten in die Nacht hinaus und in ihren Augen hatten sie noch eine Weile das Nachleuchten des glühenden Eisens, in den Ohren noch den Nachklang der Hammerschläge.

Sie gingen weiter über den flimmernden Schnee, neben sich den rauschenden Bach, über sich den mattblauen Himmel, von dem die ersten Sterne niederblinzelten. Als sie an der Sägemühle vorbeikamen, war es darin stille, das Mühlrad ging nicht mehr, und eintönig rauschte neben ihm das Wasser aus dem verschobenen Trog-Ende in den Tümpel unterm Wasserfall, der über den Schleusenrand schäumend niederstürzte.

Auf der von wenigen Laternen nur matt beleuchteten Dorfstraße waren mehr Menschen als bei Tage. Zumeist waren es Männer. Und fast alle waren gleich bekleidet mit Lodenrock, Lederhose, wollenen Wadenstrümpfen und Schnürschuhen. Die Knie hatten sie nackt trotz des Winters, und auf ihren Hüten trugen sie als Schmuck lange Haarbuschen (Gamsbart) und schwarze, eingeringelte Federn (Spiel-Hahn-Stoß). Alle hasteten dahin. Es war die Zeit, wo die Werkleute Feierabend gemacht hatten und heimzu strebten zu ihren Lieben.


 << zurück weiter >>