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XXXIII.
Dagon wird zerstückelt

Die letzten Worte Vater Cussens hatten auf Lukas einen tiefen Eindruck gemacht. Eine andere Ueberzeugung begann sich in ihm Bahn zu brechen. Er sah allmählich ein, wie göttlich der Beruf der Kirche war und wie erhaben ihre Sorglosigkeit, unter welcher Regierungsform sie wirkte, solange sie in ihrer Suche nach unsterblichen Seelen nicht gehindert wurde. Gleichzeitig mit dieser Ueberzeugung wuchs in ihm die Wahrnehmung, daß seine eigene Rasse auf geheimen und verborgenen Wegen dem göttlichen Apostolate nachging. Manchmal, wenn er ein Kloster in der Stadt betrat, konnte er eine Schar Nonnen treffen, die eben aus Guinea zurückgekehrt waren, oder eine junge, irische Klosterschwester, die im Begriffe war, nach Java abzureisen. Und sie achteten die Strapazen ihrer langen Reise nicht mehr, als wenn es zu einem Piknik ginge. Er fand, daß sich ihre ganze Unterhaltung um die Seelen armer, schwarzer und nackter Neger drehte, die der moderne Imperialismus am liebsten mit Lyddit oder Dynamit vernichten oder durch die Mittel moderner Zivilisation in Krankheit und Tod treiben möchte. Und wenn diese jungen Märtyrerseelen gingen, ließen sie die göttliche Ansteckung zurück; und kleine irische Kinder, die vielleicht selber kein Brot hatten, um ihren Hunger zu stillen, brachten ihre Pfennige zum Kloster, um ein »schwarzes Kind für den Himmel zu erkaufen«. Und Lukas' Herz klagte oft laut, daß er selber nicht diesem göttlichen Berufe gefolgt war; und sein Gewissen rief ihm mehr als einmal zu: Du Tor! Du Tor! Aber zwei Tatsachen hatte ihm die Erfahrung erschlossen: Einmal, daß die einzelne Seele Gott und der Kirche alles gilt, zweitens, daß die falsche und eingebildete Parole des neuen Evangeliums der Humanität das ungesprochene, aber wohlerfüllte Gelübde seiner eigenen Rasse war.

In gleicher Weise begannen ihm heimlich und unmerklich die wunderbaren Schönheiten selbst der gewöhnlichsten irischen Landschaften aufzudämmern. Gerade die Einsamkeit, die so schwer auf ihm gelastet hatte, begann einen eigenen, seltsamen Reiz für ihn zu gewinnen. Ein geheimnisvolles Licht lag über allem, und selbst die weiten, einsamen Felder und das dunkle, öde Moorland sahen wie ein Traumland und wie verzaubert aus oder wie eine Landschaft aus alten, entlegenen Zeiten. Alles weckte so ein eigenes Gefühl, das unsagbar süß, aber so unbestimmt und gestaltlos war, daß er es nicht definieren konnte. Die Felder im Zwielicht hatten so eine seltsame Farbentönung, so ein Wolkenland über sich hängen, daß es ihn an etwas Süßes und Schönes gemahnte, das weit, weit entfernt lag; weder Gedächtnis noch Phantasie konnten es jemals fassen oder festhalten. Und wenn an einem der sanften Tage, die so lieblich in Irland sind und an denen das Tageslicht nur düster und schwach auf die Erde fällt, ein Regenvogel über das Moorland schrie oder ein Strandpfeifer aufflog und erschreckt und klagend seinen einsamen Weg zog über den aschfarbenen Himmel, dann hatte Lukas das Gefühl, als ob er das alles schon in einem wachen Kindheitstraume gesehen hätte. Aber dann schwand auch diese Gedankenverbindung, und der Zauber der Natur allein blieb zurück.

* * *

Der Oktober dieses Jahres war wunderbar schön. Das Wetter war so kalt und trocken, daß die Natur lange brauchte, um ihr Sommerkleid abzulegen, und sie änderte ihr Gewand in so schöner und abwechslungsreicher Art, daß die ganze Landschaft eine einzige wechselnde Farbenmischung war. Keine grelle Sonne machte das allmähliche Hinsterben zu auffällig, nur eine graue, stille Farbe hing über dem ganzen Land. Und Lukas beobachtete diesen herrlichen Tod von dem Augenblick an, wo der Walnußbaum sein erstes gelbes Blatt zeigte, bis zu dem Momente, wo alles vorüber war und nur das Immergrün sich noch seiner Unsterblichkeit rühmte. Jeder Tag schuf neue Lust; und Lukas gedachte nur noch verächtlich der langen, staubigen Straßen, der einförmigen Häuserreihen, der Asphaltpflaster und des elenden Stückchens Himmel, das man in der Stadt zu sehen das Glück hat. Und dann der Gedanke an die volkreichen Wüsteneien der Zivilisation, wo der Mensch nur ein Verbannter ist, gegen das entzückende Heimatgefühl in Irland, wo man so recht fühlt, daß man zu Hause ist!

Und wie in einem glücklichen Heim selbst die Trübungen und Unannehmlichkeiten ihren eigenen Reiz haben, so fand auch Lukas bald in jeder einfachen, alltäglichen Erfahrung eine Gedankenablenkung, die ganz erfrischend wirkte.

Die ewigen Streitereien in der Küche regten zwar Lukas' Nerven auf; er fand aber bald heraus, daß sie nicht viel zu sagen hatten und daß die dabei gebrauchten starken Ausdrücke nur Hyperbeln waren, wie sie ein Volk liebt, das sich gern malerisch ausdrückt. Wenn Mary John »als den polizeiwidrigsten Narren auf der ganzen Welt« beschrieb, der seine »rechte Hand von seiner linken nicht unterscheiden« könne, oder wenn John beteuerte, »Mary habe die böseste Zunge, die je der Herr geschaffen«, und daß ihre »Blicke schärfer als ein Messer wären und Zucker in Essig verwandelten«, so betrübte das Lukas sehr, bis er fünf Minuten später ein herzliches Lachen aus der Küche schallen hörte und ein erfahrener Freund ihn versicherte, des Herren Interessen seien am besten gewahrt, wenn Knecht und Magd sich entzweiten.

So hörte er auch, als er eines Morgens in die Nähe des Pferdestalles kam, ganz unverkennbar, daß darin getanzt wurde. Er sagte sich, daß John für den Tanz am nächsten Sonntag wohl Vorübungen machen wolle. Aber als er eintrat, sah er besagten John sittsam auf einer Kiste sitzen und mit aller Hingebung das Pferdegeschirr putzen.

»Mir war, als hörte ich tanzen?« fragte Lukas, der unsicher geworden war.

»Tanzen, Hochwürden? Sie hörten wohl den Gaul mit den Füßen stampfen.«

»Mit den Füßen stampfen? Warum denn?«

»Das ist so seine Art, wenn er hungrig ist,« gab John zurück. »Er ist unruhig, seitdem Sie ihm die Haferration zugestutzt haben.« Und Lukas suchte dann das Rätsel nicht weiter zu lösen.

Lukas fand auch bald heraus, daß in gartenbautechnischer Hinsicht Johns Wissen sich auf den Anbau von Kartoffeln beschränkte und daß seine Kenntnis von Blumen damit rivalisierte. In den Tagebüchern der jungen Mädchen hat immer eine Lieblingsblume ihren Platz, und diese wechselt vom schlichten Gänseblümchen bis zur unverwelklichen blauen Blume. John hatte auch seine Lieblingsblume. Es war die heimatliche Kresse, und er war dieser Liebe so sehr ergeben, daß er sich um die aristokratischen Gartengewächse, die Lukas bevorzugte, gar nicht kümmerte.

»Die Kresse macht keine Mühe,« sagte John.

»Sie ist nur Unkraut,« sagte Lukas.

»Sie ist ebenso schmuck wie die, die wie Kinder überwacht und gepflegt werden müssen,« beharrte John.

»Selbst der botanische Name nasturtium verdammt sie,« bemerkte Lukas.

»Ja, das ist richtig, sie riecht eben nicht stark.«

»Das meinte ich nicht. Sie hat einen garstigen Namen –«

»Es gibt viele, die einen garstigen Namen haben und ihn nicht verdienen,« erwiderte John schlagfertig.

Es ist nicht schwer, mit Johns Geschmack zu sympathisieren. Es ist unmöglich, etwas mitleidige Liebe nicht auch für die einfachen Schöpfungen der Natur übrig zu haben. Sie sind so großmütig, so verschwenderisch mit ihren Schönheiten, daß man dankbar sein muß. Und sie gedeihen überall und bei jedem Wetter, wie Zigeunerkinder. Und Mutter Natur liebt sie, weil sie ihr Ehre machen, ohne der pfuschenden Menschenhände zu bedürfen.

Man sieht daraus, daß Lukas in seiner großen Vorliebe für Blumen wenig Unterstützung fand und vielen Aerger mit seinem Gärtner auszustehen hatte. Sein hochfliegender Ehrgeiz, die malerischen Unregelmäßigkeiten irischen Lebens zur geistlosen, rechtwinkligen Einförmigkeit geometrischer Vollkommenheit zurückzuführen, war auch hier in weitem Maße zur Enttäuschung verurteilt. Es war ganz nutzlos, John überzeugen zu wollen, daß all dieses Graben, Arbeiten, Schaufeln, Rechen, Begießen und Beschneiden durch die flüchtige Schönheit dessen belohnt wurde, was er »ein paar Sträuße« nannte, die sich ein paar Tage in all ihrer Lieblichkeit zeigten und die Luft mit Wohlgeruch erfüllten, dann aber grämlich ihre hübschen Kelche senkten, wenn ein leichter Wind sie streifte oder ein Regenschauer sie zur Erde beugte. Auch konnte er nicht einsehen, warum man Blumenbeete in Diagramme von Euklid einteilen sollte. Und es tat seinem Herzen weh, wenn er mit dem scharfen Rasenmäher über das Gras hinfuhr und all die hübschen Gänseblümchen geköpft unter der ruchlosen Guillotine lagen.

»Bei Gott,« sagte er, »der Herr wartete den ganzen Winter auf das erste Gänseblümchen, das sein hübsches, kleines Köpfchen aus der Erde hervorstreckte; und er gebärdete sich wie toll, als die erste Primel aus der dunklen Erde hervorkroch. Und jetzt sagte er nichts als: ›John, mähe die Gänseblümchen ab!‹, ›John, das Gras ist nicht mehr schön‹, ›John, räum' das Unkraut fort!‹ Hat man je so was gehört?« Und John war unzufrieden und sein Herr in Verzweiflung.

»Bringen Sie mir die Tulpen- und Hyazinthenzwiebeln, die ich Ihnen gab, um sie vor dem Winter zu stecken,« befahl Lukas eines Tages, spät im Oktober.

John war verlegen. Mary horchte dem Gespräche zu und kicherte.

»Ew. Hochwürden gaben mir keine Hyazinthen,« erwiderte er ganz verlegen.

»Ich gab Ihnen doch letzten Mai vier Dutzend Tulpen von diesem Beet und zwei Dutzend Hyazinthen von jenen Beeten,« gab Lukas zurück, ärgerlich auf den Platz deutend, wo die Geranien und Begonien eben ausgerissen worden waren.

John verstand noch immer nicht. Da dämmerte ihm plötzlich ein großes Licht auf, und mit all dem Mitleid überlegenen Wissens blickte er seinen Herrn an.

»Ach was, die Hühner haben sie alle aufgefressen!«

»Was?« schrie Lukas, jetzt vollständig aufgebracht. »Wollen Sie damit sagen, daß Sie die Tulpen, die mich vier Schillinge, und die Hyazinthen, die mich sechs das Dutzend kosteten, einfach weggeworfen haben?«

»Ach Gott, Sie können bei Miß Smiddy so viel haben, wie Sie wollen,« erwiderte John lächelnd. »Sie hängen an Schnüren von der Decke herab und sind sehr billig jetzt. Ich bekomme schon ein Dutzend für einen Groschen.«

Lukas fuhr zusammen. Er war wirklich zornig. Welcher Blumenfreund würde es nicht sein? Und er war schon halb entschlossen, John zu entlassen. Er war unverbesserlich und unfähig jeder Erziehung. Nach langer und reiflicher Ueberlegung entschied er sich dafür, den Aerger mit dem Burschen sich vom Halse zu schaffen. Zu seiner Ueberraschung brach Mary bei der Nachricht in einen Strom von Tränen aus. Aber er war unerbittlich. Das Elend dauerte schon zu lange und sollte endlich aufhören. Etwas nervös ging er zum Stall hinüber, denn er haßte es, etwas Unliebes tun zu müssen. Statt des gewöhnlichen Tanzens hörte er etwas, das wie Beten klang. Er horchte. John bereitete sich zur Beichte vor und machte laut seine Gewissenserforschung. Lukas kehrte wieder um, immer noch entschlossen. Als er die Erforschung vorüber glaubte, kam er wieder. John machte eben seinen Akt der Reue. Es war doch nicht unrecht, wenn er horchte. Jawohl – es war die Stimme Johns, von lautem Seufzen unterbrochen. Mitten unter dem Weinen klang's:

Was Du gelitten an Sorge und Qual, der Du im Himmel regierst,
Als König in Güte und Größe;
Wie könnte mein Geist es erfassen!
Wie könnt' ich begreifen die bittere Angst,
Den Schmerz Deines heiligsten Herzens,
Als der Speer es zerriß; Deine Wunden,
Die selbst auf den Thronen die Könige
Erfüllen mit Ehrfurcht vor Deinem heiligen Gesetz!

O Vater! Jesu mein! Der Du durch Dein göttliches Sterben
Unseren Seelen das Leben erkauftest,
Du, dessen Schöpfergewalt im Beginne
Den Menschen nach Deinem Bilde erschaffen,
Ist es nicht, o Christus, König! ein grausam, grausam Ding,
Daß nichts ich geliebt
Als die Sünde und alles, was böse und schlecht
Und ein Greuel vor Dir?

Es war das alte schöne Lied vom heiligsten Herzen Jesu, das von McCarthy aus dem Altirischen übertragen worden war und das John an der Kirchentüre aufgelesen und – weil es auf seine Phantasie starken Eindruck machte – als Reuegebet sich eingeprägt hatte. Alles, was reimt oder klingt, rührt das Herz des Iren. Und Lukas hörte wieder ein Aufschluchzen, als John zu der Stelle kam:

Ist es nicht, o Christus, König! ein grau-ausam, grau-ausam Ding?

Und Lukas wandte sich mit einem leisen: Der arme Bursche! ab. Und John war gerettet.

Einige Tage später reiste Lukas zum Begräbnis seiner Mutter ab. Sie hatte noch den ganzen Sommer gelebt, immer den Tod vor Augen. Eines Nachts, während alle schliefen, hatte sich dieser dann plötzlich in ihr Zimmer gestohlen und sie der Erde entrückt.

Bei seiner großen Abneigung gegen Lärm und äußerliches Gepränge hoffte Lukas, die Bestattungsfeierlichkeiten würden so ruhig wie möglich vor sich gehen. Der letzte Wunsch der Toten, ein »anständiges Begräbnis« zu haben, stimmte aber mit diesem instinktiven Haß gegen Lärm und große Umstände nicht recht überein. Man nahm ihm daher die Sache ruhig aus den Händen. Zu Lukas' größtem Erstaunen waren am Morgen des Begräbnistages an dreißig Priester anwesend. Sie waren aus allen Teilen der Diözese herbeigekommen. Einige hatte Lukas noch niemals gesehen; die Namen anderer klangen ihm unbekannt. Gleichgültig! Sie war die Mutter eines Priesters und sollte teilhaben an seiner Würde. Es sollte ein volles Offizium und ein Traueramt für sie gehalten werden.

Der Morgen war regnerisch. Die kleine Sakristei stand voller Priester, deren triefende Hüte und Regenmäntel überall kleine Seen bildeten. Einige waren zehn, andere zwölf, manche sogar zwanzig Meilen weit gekommen. Lukas, aufs tiefste gerührt, hatte großes Mitleid mit ihnen.

»Wir werden nur eine Nokturn nehmen,« flüsterte er dem Zeremonienmeister zu. Der meldete es dem Kanonikus, der die Feierlichkeit leitete. Er erhielt aber zur Antwort, daß das ganze Offizium gesungen werde. Es war der Wunsch aller Priester. Die Kirche war gedrängt voll von einer schweigenden, andächtigen Gemeinde. Aus ihren nassen, dampfenden Kleidern stieg eine Dampfwolke empor, die sich mit dem Weihrauch mengte und die ganze Kirche mit einem schweren Dunst füllte. Auch die Leute aus dem Volke waren von weit her gekommen, um der Toten ihre Verehrung zu bezeugen. Und Lukas dachte, daß all das doch etwas anderes sei als die kalte Herzlosigkeit Englands, wo ein paar Trauerwagen das einzige Zeugnis der Achtung vor dem Toten sind, der so bald wie möglich aus dem Gesichte der Lebenden entfernt werden muß.

Die lange Prozession begann. Larry, der alte, auf die Ehre der Familie eifersüchtige Diener, zählte sorgfältig jeden Wagen.

»Es waren hundert und dreißig,« berichtete er dem alten Mike Delmege nachher, »und zwanzig Reiter. Es sollten hundert und sechsunddreißig sein, wenn alle, die hätten da sein sollen, gekommen wären. Aber wir werden's ihnen gedenken.«

Schwer fiel der Regen nieder, als der lange Trauerzug langsam auf den schmutzigen Wegen dahinschritt. Eine Schar von Bettlern hatte sich in der Nähe des Hauses versammelt, und gab ihren Gefühlen in einer Sprache Ausdruck, die nur von der Dankbarkeit diktiert wurde. Und sie hatten auch Grund dazu. Man hatte nie gehört, daß man ein Nachbarkind nicht aufgenommen oder einen Bettler von dieser Türe gewiesen hatte. Und manches Stück Rauchfleisch und riesige Brotscheiben wanderten in die Bettelsäcke der Armen zum großen Leidwesen Nancys, die sich fromm bekreuzte und den Himmel anflehte, das Haus vor solchen Plünderungen zu bewahren.

Immer noch fiel der Regen, als der lange Zug in die Nähe der Abtei kam. Aber niemand achtete darauf, außer wenn jemand den Zweizeiler wiederholen wollte:

Glücklich ist die Braut, auf die die Sonne scheint!
Glücklich sind die Toten, auf die der Himmel weint!

Als der Sarg vom Leichenwagen auf die Schultern der Träger gehoben wurde, die sich um diese Ehre stritten, machte der Zug, statt den geraden, bequemen Weg nach der Abtei einzuschlagen, einen Umweg und umkreiste den ganzen Kirchhof. Das war für Priester und Volk unbequem, denn das hohe Gras war naßgeregnet, und Nesseln und Schierling warfen einen Sprühregen kristallener Tropfen auf die Vorübergehenden. Und über Gräben und Hügel, über gefallene Grabsteine stolpernd, in Vertiefungen versinkend, mühten sich Priester und Träger vorwärts, während die Klagetöne des Miserere durch die starken Windstöße und den Regen in die Landschaft hinausklangen und über den Gräbern von dreißig Totengenerationen traurig verzitterten. Niemand kehrte sich daran. Das war so Landessitte und keine Macht der Erde vermochte das Herkommen dieses konservativsten Volkes der Welt zu ändern. Und zum hundertsten Male machte Lukas Delmege die Beobachtung, daß es unnütz ist, fremde Zivilisationen hierher zu verpflanzen. Eine solche Rasse kann nur ihre eigene Zivilisation schaffen oder entwickeln.

Als der Kreis der Priester sich um das offene Grab geschlossen hatte, begann der Kanonikus die Bestattungsfeierlichkeit. Lukas stand neben ihm und hielt seinen Schirm über des alten Mannes entblößtes Haupt, während unaufhörlich der Regen niederrann. Gerade vor dem Benediktus, als man eben die glorreiche Antiphon Ego sum Resurrectio et Vita sang, gab Lukas seinen Schirm einem jungen Priester, der neben ihm stand, und trat auf seinen Vater zu, der gebeugt und schmerzgetroffen traurig ins offene Grab blickte. Und hier traf ein Anblick sein Auge, der ihm eine – Offenbarung wurde. Das Düster, das über dem ganzen Vorgange lag, hatte sich in seiner Seele zu einer seltsamen, überwältigenden Melancholie vertieft, die der graue Himmel und die trostlose Landschaft noch erhöhten. Während des ganzen Totenoffiziums in der Kirche hatte er versucht, die Augen seines Geistes ihrer Bedeutung zu verschließen. Die traurige Musik der Psalmen mit ihren abwechselnden Kadenzen von Kummer und Hoffnung ergriff ihn nicht so tief wie die Lektionen aus dem Buche Job, die, langsam und feierlich von würdigen Priestern vorgetragen, wie das Grabgeläute der armen Menschheit klangen. Und alles, was er je in der Dichtung der Menschheit gelesen, vermengte und mischte sich mit den von Gott inspirierten Klageliedern des Mannes aus dem Lande Hus; und alles, alles handelte nur von der Hinfälligkeit des Menschen, der heute ist und morgen nicht mehr.

Gedenke, ich flehe Dich an, daß Du mich gemacht hast wie den Lehm; und Du wirst mich auch wieder zu Staub werden lassen. Hast Du mich nicht wie Milch gemolken und wie Käse gerinnen gemacht? An einem Blatte, das der Wind verweht, zeigst Du Deine Macht; und einen dürren Strohhalm verfolgst Du. Der wie eine Blume aufsprießt und wieder zu grunde geht, und wie ein Schatten flieht und nie im selben Zustande verbleibt. Ich werde gewesen sein, als ob ich nicht gewesen, auf meinem Wege vom Mutterleibe bis zum Grabe.

Und:

Eine kleine Weile hält aufrecht den sterblichen Menschen die Seele.

Und:

Sie schufen mit Lachen und Weinen,
Und formten mit Hassen und Lieben;
Mit Leben zuvor und nachher,
Und mit Tod oben und unten;
Für einen Tag, eine Nacht, einen Morgen,
Daß seine Kraft eine flüchtige Spanne bestände,
Mit Arbeit und schwerer Sorge,
Den heiligen Menschengeist.

Nirgends ein Wort über den »vollkommenen Menschen,« noch über seine Unsterblichkeit auf diesem seinem kleinen Schauplatze! Kein einzig Wörtlein über die »Gottheit im Embryo« oder den »schlummernden Gott«. Er wird hinschwinden! Er wird hinschwinden! Das ist alles.

Das Grab war gerade unter dem großen nördlichen Fenster der Abtei ausgehoben worden, das fast den ganzen Giebel einnahm. Der Boden der Abtei hatte sich im Laufe der Jahrhunderte um sechs oder sieben Fuß erhöht, denn nur die gewölbten Bogen des Säulenganges waren noch sichtbar.

Und Lukas starrte ins offene Grab und sah, daß es auf allen Seiten von menschlichen Gebeinen umgeben war. Nackte braune Schädel füllten jeden Zoll seiner Wände, und hier im Grase lagen Knochen und Bruchstücke, die einmal die kleine Masse zusammengehalten hatten, die des Menschen Leib ausmacht. Jemand, den das Volk dauerte, hatte den Sarg hinabsenken lassen; und der rauhe Arbeiter, der als Totengräber fungierte, hatte eine Handvoll mit Erde beschmutzter Knochen gepackt und sie ins Grab geworfen, so gleichgültig wie ein Weib, das ein paar Zweige ins Feuer wirft. Dann stieß er ihnen einen großen, runden Schädel nach. Dieser fiel mit einem schweren, dumpfen Schlag auf den Sarg, wandte sein gräßliches Gesicht nach oben und grinste, rollte dann den Sarg hinunter und blieb zwischen dem Sarg und der Grabwand eingeklemmt liegen. Da starrte er nun schrecklich zu den gleichgültigen Zuschauern hinauf. Lukas fühlte sich krank. Hier war das Ende all seiner Jugendträume. Da lag nun der Gott dieser Erde! Und sein Humanitätstraum war begraben in dem Grabe, wo Dagon vernichtet lag vor dem Angesichte des lebendigen Gottes.

Lukas hatte das Benediktus gar nicht singen hören, so vertieft war er in seine Träumerei. Als er nun erwachte, hörte er in einer Art triumphierenden Päans die Worte:

Visitavit nos, Oriens ex Alto!

Diese Worte schienen das Geheimnis des Grabes zu erschließen und die weiten Ausblicke zu eröffnen, die vor der gefallenen Menschheit lagen. Oriens ex Alto! Oriens ex Alto! Die gewaltige Erscheinung der wahren Humanität schien über diesem Beinhaus zu schweben; und Lukas sah, was er vor langen Jahren als theologische Thesis in Maynooth verfochten hatte, daß es bloß eine vollkommene Humanität gibt und geben kann. Und diese wird die ganze Menschheit zu sich selbst emporheben, indem sie die Gewißheiten der Ewigkeit aus den Zweifeln der Zeit herausschält und die Hoffnung und den Segen des Himmels aus der Verzweiflung des Irdischen herleitet. »Suchet ihr den Menschen in Gott!«

Der alte, von Jahren und Kummer gebeugte Vater blieb am Grabe stehen, bis alles vorüber war. Dann richtete ihn Lukas sanft auf und bot ihm die Stütze seines starken Armes zum Nachhausegehen. Alles war sonst schon fort; nur eine kleine Gruppe von Landleuten zögerte noch am Kirchhofstore. Auch sie waren ganz durchnäßt, und kleine Bäche rannen von ihren Hüten herab. Lukas, das Haupt von Sorge gebeugt, bemerkte sie nicht und wollte eben an ihnen vorübergehen, als einer scheu vortrat und Lukas seine rauhe Hand entgegenstreckte.

»Wir sind gekommen, Vater Lukas,« sagte er, »um Ihnen zu sagen, daß Ihr Leid uns nahe geht.«

Lukas drückte ihm die Hand, schaute ihn aber etwas verlegen an.

»Ich bin James McLoughlin,« erklärte der; »Sie erinnern sich doch noch der kleinen Meinungsverschiedenheit, die wir hatten, Hochwürden?«

Da erinnerte sich Lukas seiner früheren Pfarrkinder, die ihm so viel Aufregung und seine Abberufung von ihrer Pfarrei verursacht hatten. Die armen Kerle, die ihr früheres Vergehen gern wieder gut machen wollten, hatten die ganze Entfernung zurückgelegt, um ihre Achtung zu bezeigen. Als Lukas nicht sofort antwortete, meinten sie, er trage ihnen noch etwas nach.

»Wir dachten, geschehen sei geschehen, Hochwürden,« bat James Mc Loughlin, »und wir kamen –«

»O, sprechen Sie doch nicht mehr davon, mein lieber Freund,« erwiderte Lukas. »Ich habe schon längst alles vergeben und vergessen. Und ich bin Ihnen unendlich verbunden für Ihre Güte, daß sie an einem solchen Tage so weit hergekommen sind. Vater, das sind meine früheren Pfarrkinder, die meilenweit gewandert sind, um Mutter die letzte Ehre zu erweisen.«

Und sie mußten nun nach Lisnalee zurückgehen, wo sie sehr gut bewirtet wurden. Und es besteht sogar begründeter Verdacht, daß die Diözesanvorschriften unbarmherzig überschritten wurden, ohne daß Lukas Einspruch erhob.


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