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XXVIII.
Maria von Magdala

Im Heime des Guten Hirten erreicht die Religion unseres Herrn ihren Höhepunkt. Kein Wunder, daß dreihundert Jahre lang in Katakomben und andern Oertlichkeiten die Lieblingsdarstellung Christi die des sehnsuchtsvollen, barmherzigen Heilandes war. Wie gut kannten die ersten Christen doch seinen Geist, wenn sie ein Schäflein und kein Lamm um seine Schultern legten! »Ich kam nicht der Gerechten, sondern der Sünder wegen!« Ja! Zuerst die Menschenliebe und dann die Kreuzigung – das Geheimnis des Leidens. Und hier in der Stadt des gebrochenen Vertrags, unter ihren verfallenden historischen Mauern, und gerade außerhalb ihrer Ruinen, lag solch ein Heim verborgen. Du kannst, lieber Leser, die Stadt hundertmal durchwandern und doch nicht erfahren, daß es solch ein Heim hier gibt. Du kannst die historische Brücke dir ansehen und den Vertragsstein, und doch nie erfahren, daß es hier auch einen Ort gibt, wo die Macht des Herrn sichtbar triumphiert. Anderswo magst du von den Wundern des Christentums etwas hören – hier kannst du sie sehen. Du kannst von Schlachten lesen, die um die zwei Standarten gefochten, gewonnen oder verloren wurden: aber hier kannst du die blutenden und verwundeten vivandières aus Satans Armee sehen, die vom Schlachtfeld hinweggetragen und in dem Schutz des Lagers Christi untergebracht wurden. Und hier könntest du auch, wenn du Glauben besäßest, das heißt, wenn du deine Augen öffnetest und das Gewebe der Gewohnheit wegbürstetest, Wunder sehen und Heilige und Zeichen, wie man von solchen in der Bibel liest oder wie es im Mittelalter welche gab, zu einer Zeit, in der du vielleicht hättest geboren werden mögen. So dachte wenigstens Vater Tracey, der in seinen Urteilen nie herb war, außer wenn er die arge Verblendung der Menschen beweinte, die nicht sehen wollen, was vor ihren Augen liegt.

»Es ist ein Unsinn, mein Kind,« sagte Vater Tracey zu Margaret, »wenn man sagt, die Zeit der Wunder sei vorüber. Hier haben wir Wunder und Heilige, wie keine größeren je kanonisiert wurden.«

Dann bereute er sein rasches Urteil und verbesserte sich.

»Natürlich, ich will damit nicht sagen – das heißt, meine Liebe – ich meine nicht, die Kirche solle alle meine kleinen Heiligen nach ihrem Tode kanonisieren. Aber Sie wissen – das heißt, unser Herrgott wird schon – ich meine –«

»Natürlich, Vater! Wir armen Nonnen sind gar nichts gegen Ihre Heiligen.«

»Nein, nein, das will ich nicht sagen. Ihr seid alle sehr gut; aber es gibt verschiedene Grade der Heiligkeit: die einen sind Apostel, die anderen Doktoren –«

»Jawohl! Aber Maria Magdalena steht doch dem heiligen Herzen Jesu am nächsten nach der Muttergottes und sie zieht alle ihre kleinen Heiligen nach sich, oder nicht? Wollen Sie das nicht damit sagen?«

»Ich weiß nicht, meine Liebe. Die Nachfolge Christi sagt, daß wir keine Vergleiche anstellen sollen.«

»Sagen Sie mir aber nur das eine: Angenommen, Sie hätten die Wahl im Himmel zwischen der Schar, die dem Lamme folgt, wohin es geht, und zwischen einem Platz bei Maria Magdalena und ihren Nachbarinnen, wie würden Sie sich entscheiden?«

»Das ist eine schwierige Frage, meine Liebe. Aber die Wahrheit zu gestehen, mein Kind, würde ich mich bei den letzteren viel wohler fühlen.«

»Das wußte ich,« rief Margaret triumphierend. »Ich habe jetzt zehn Rosenkränze von Mechthildis gewonnen.«

Doch was man auch von den verschiedenen Stufen der Seligkeit im Himmel sagen mag, so viel ist sicher, daß das Leben unter den wiedergewonnenen Schafen hienieden nicht der Inbegriff irdischer Seligkeit war. Gar oft sträubte sich so eine arme Seele in den Armen des Hirten und wollte wieder zu den Schrecken des Schlachtfeldes zurückeilen; träumte von Straßenlaternen und der wilden, jauchzenden Raserei der Sünde.

Und oftmals senkte sich die Schwermut und selbst die Verzweiflung auf so eine arme Seele herab, wenn die schrecklichen Bilder der Vergangenheit wieder auflebten. Und der entsetzliche Gedanke: Wie kann ich je in den Himmel kommen, wenn so viele durch meine Missetaten in der Hölle schmachten? lähmte gar oft jeden Besserungsversuch. Das waren dann harte Prüfungen für Vater Tracey.

»Es hilft nichts, Vater, ich muß fort.«

»Haben wir Ihnen wehe getan, mein Kind? Oder haben Sie irgendeinen Wunsch?«

»O nein, nein, lieber Vater; aber ich muß fort.«

»Nun, meine Liebe, handeln Sie nicht übereilt! Das ist eine Versuchung des bösen Feindes. Gehen Sie hin, und flehen Sie zum heiligen Herzen Jesu! Ich sende Ihnen dann Schwester Maria.«

»Nein, nein, tun Sie das nicht! Ich will sie nicht sehen. Sie würde mich zurückhalten, und ich muß fort.«

»Dazu hat es aber noch Zeit. Gehen Sie hinein, Kind, und beten Sie!« Er, der liebe, heilige Mann, hatte ein großes Vertrauen auf das Gebet im allgemeinen. Das Gebet Schwester Marias hielt er aber für unüberwindlich. War es denn nicht ihr Gebet, das schon so viele Seelen vom Untergange gerettet hatte? War es nicht Schwester Marias Gebet, das die Teufel, heulend vor Wut, vom Totenbette Alluas getrieben hatte? War sie nicht die Wächterin von des Königs Geheimnis, die über des Königs Schätze unbedingt verfügen konnte? Und niemals hörte noch eine arme Büßerin, die wieder in die Welt zurückfliehen wollte, die Stimme Schwester Marias, ohne daß ihre Augen sich öffneten und sie die gelben Flammen aus dem Abgrund züngeln sah.

Und wer war nun Schwester Maria, oder um sie mit ihrem vollen Namen zu nennen, wer war Schwester Maria von Magdala? Nun, sie war auch so eine arme Büßerin, die hier vor dem Treiben der Welt Zuflucht gesucht hatte. Es ging das Gerücht, sie sei eine große Sünderin gewesen. Selbst hart gewordene Frauen sprachen nur mit leisem Schrecken von ihrem früheren Leben; und manchmal, wenn Schwester Maria gar zu sehr einer rückfälligen Sünderin zusetzte, sagte man sogar offen heraus, daß sie auch viel Brennstoff fürs Feuer geliefert habe.

»Ihr hübsches Gesicht hat wohl viele verführt und zum Trunke und in die Hölle gebracht.«

Und Schwester Maria widersprach nicht, sondern neigte nur demütig ihr Haupt und betete und flehte noch einmal so eindringlich für die Versuchte und Fliehende.

Es schien auch, als ob sie eine Dame von sehr hohem Rang gewesen und von Stufe zu Stufe tiefer gefallen sei, bis Gott sich ihrer erbarmte und sie hierher brachte. Und da entwickelte sie nun eine solche Heiligkeit, daß die Klostergemeinde, wie ihre Mitbüßerinnen, erstaunt und verwirrt waren; aber alle stimmten darin überein, daß sich eine Heilige – eine wirkliche, echte, heroische Heilige – in ihrer Mitte befinde. Am meisten überrascht und verwirrt aber war Vater Tracey. Er wußte nicht, was er daraus machen sollte. Er war verwirrt, gedemütigt, nervös und beschämt. Zum ersten Male sah er die junge Büßerin bei einem »Schauspiel«. Denn die glorreichen Schwestern des guten Hirten gebrauchten alle menschlichen Mittel, um die armen Büßerinnen von den heftigen Versuchungen zur Sünde und zur Welt zurückzuhalten. Und so gab es Schauspiele und Konzerte und dramatische Unterhaltungen und lebende Bilder und alle Arten unschuldiger Zerstreuungen für die »Büßerinnen«. Und solche harmlose Vergnügen trugen sehr viel dazu bei, die armen Seelen von dem tödlichen Gifte der Sünde fernzuhalten, bis die Gnade und die gute Gewohnheit den Sieg gewonnen hatten.

Bei einer dieser Unterhaltungen spielte nun Schwester Maria von Magdala die Hauptrolle. Sie stellte eine vornehme Weltdame vor, die an Nervosität litt und einen weiblichen Spezialisten konsultierte. Es war sehr amüsant, und die Zuschauer wälzten sich vor Lachen. Ehrwürdige alte Büßerinnen, die schon ihre fünfzig Jahre Fegefeuer im Asyl durchgemacht hatten, junge Pönitentinnen, die eben der Befleckung der Großstadt entrissen worden waren und noch die Spuren ländlicher Unschuld an sich trugen; dunkle, düstere Seelen, auf die es der Versucher besonders abgesehen hatte, und die Schwesterngemeinde, die alles überwachte, alle gaben sich der unwiderstehlichen Belustigung hin. Schwester Maria hatte ihr Pönitentenhabit abgelegt und war wie eine feine Weltdame gekleidet, was ihr herrlich zu Gesichte stand. Sie war jeder Zoll eine Dame, und all die Süßigkeit und Zartheit ihrer ersten Erziehung leuchtete noch durch die lächerliche Rolle, die sie spielte.

»Damen von der Stadt, meine Liebe?« flüsterte Vater Tracey Margaret zu. »Wie gut von ihnen, daß sie zu uns kommen und die armen Mädchen aufheitern.«

»Nein, es sind unsere eigenen Kinder.«

»Aber die vornehme junge Dame, meine Liebe? Sie paßt in jeden Palast.«

»Das ist Maria von Magdala,« erwiderte Margaret lächelnd. »Sie ist jetzt eine große Heilige; aber man sagt, sie habe es schrecklich getrieben.«

Es rief allgemeines Bedauern wach, als die Spielerinnen unter dem Beifall der Zuschauer verschwanden, um gleich darauf im Büßerinnengewande, einem blauen Kleid mit Mantille und hoher, weißer, normannischer Haube, wieder zu erscheinen und ihren Platz unter den Insassen wieder einzunehmen. Vater Tracey erstickte fast vor Rührung, als er das junge Mädchen ihrer natürlichen Kleidung beraubt und in das seltsame Habit gehüllt sah, das unsagbare Schande verhüllte und doch wieder andeutete. Und sie war so ruhig, so gleichmütig, ohne Erröten ob der Umkleidung, und nahm so dankbar die rauhen Glückwünsche ihrer Genossinnen entgegen. Dann setzte sie sich auf die letzte Bank, hob die Rosenkranzperlen Schwester Paulas auf und spielte mit ihnen wie ein Kind.

»Ich sage Ihnen, meine Liebe,« sagte Vater Tracey, »daß dieses arme Kind, wenn der Himmel der Platz derjenigen ist, die wie Kinder werden, dort ihre Heimat finden wird.«

Und der gute, alte Priester erschrak über Schwester Maria von Magdala. Er begann fast daran zu zweifeln, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn er die Seelsorge der Nonnen übernommen hätte. Und als er ihre Stimme im Beichtstuhl erkannte, bekam er einen Hustenanfall, wandte sein Haupt ab, zog seinen Rock über seine Knie, und statt der langen, feurigen Ermahnung, die er gewöhnlich mit solcher Rührung an seine Heiligen hielt, daß auch die Härtesten von Gottesliebe entflammt wurden, murmelte er bloß mit abgekehrtem Antlitz: »Ja, ja, schon recht, meine Liebe, ganz recht.«

Margaret und er pflegten lange geistliche Konferenzen über diesen Gegenstand zu halten.

»Ich weiß wahrhaftig nicht, was ich tun soll,« konnte er sagen. »Können Sie mir nicht helfen? Gibt es nicht ein Buch, das ein guter, heiliger Mann, namens Scaramelli, geschrieben hat und das von der Leitung heiliger Seelen handelt?«

»Jawohl gibt es ein solches, Vater! Aber Sie haben doch Wissen und Geist genug für diese armen Büßerinnen!«

»Ich? Ich weiß nichts, meine Liebe. Ich war, was man einen minus habens in Maynooth nennt.«

»Was ist das, Vater?«

»Nun, das ist das gerade Gegenteil von dem, was Ihr großer, kluger Bruder war.«

Margaret schauderte.

»Er stand an der Spitze seiner Klasse; ich am Ende der meinigen. Das ganze Seminar hat sich gewundert, daß man mich überhaupt ordiniert hat.«

Margaret hielt nur mit Mühe ihre Tränen zurück.

»Ja, so war's, meine Liebe. Und ich würde heute Kartoffeln graben, was wohl mein eigentlicher Beruf wäre, ohne den alten Dr. Whitehead. Alle wollten mich fort haben. Sie behaupteten, ich würde der Kirche Unehre machen, was ganz richtig war. Und der erste Theologieprofessor sagte, ›ich verstände nicht mehr von der Theologie, als eine Kuh von einem Feiertag‹. Aber der arme Dr. Whitehead fragte, ›ob ich die Zeremonien der Messe lernen könne‹, worauf sie ihre Köpfe schüttelten. ›Nun, so werde ich ihn unterrichten‹, erwiderte er, ›und er muß Priester werden.‹ Möge der Herr ihm gnädig sein – und ihm – vergeben.«

»Haben Sie sie denn gelernt?« fragte Margaret.

»In einer Art schon. Aber manchmal werde ich verwirrt, und ich blicke auf, wenn ich die Augen senken sollte; und bei der Konferenz fragt mich der Bischof nie etwas, damit ich mich nicht blamiere.«

»Ich glaube, Sie brauchen Scaramelli doch, Vater. Es ist gewiß gut für Sie, daß man Ihnen nicht unsere Seelsorge anvertraut hat.«

»Ach, das stand außer Frage, meine Liebe. Der Bischof sah es auch sofort ein, als ich darauf anspielte.«

»Und nun halten Sie Maria von Magdala für eine Heilige?«

»Halten? Nein, ich weiß es. Und denken Sie nur, ich könnte diese große Seele falsch leiten oder auch nur in ihrem Emporstreben hindern, was wäre das für eine schreckliche Verantwortung! Ich denke schon daran, den Bischof um Versetzung zu bitten, und –«

»Sie werden doch das nicht tun!« rief Margaret ganz erschreckt. »Bleiben Sie nur, wo Sie sind!«

»Vielleicht, meine Liebe. Aber ich sage Ihnen, was Sie für mich tun könnten. Sie könnten die Lebensbeschreibungen der heiligen Katharina von Siena, der seligen Angela von Foligno und der heiligen Maria Magdalena von Pazzi nachlesen und mir dann sagen, was deren Beichtväter zu tun pflegten. Oder auch etwas anderes, wenn Sie so gut sein wollten und an Ihren Bruder (er ist ein ganz ausgezeichneter Theologe) schrieben und ihm die Beantwortung einiger Fragen vorlegten, die ich Ihnen von Zeit zu Zeit geben will, dann –«

»Da haben Sie recht,« erwiderte Margaret, in ihrem Innern hinzufügend: »Das ist eine direkte Eingebung.«

»Wissen Sie, dann fühle ich mich auf dem Boden gesunder katholischer Theologie und kann nie weit fehlgehen.«

»Das will ich dann gern tun. Also, man wollte Sie wirklich aus Maynooth entfernen?«

»Jawohl, meine Liebe, wenn Dr. Whitehead nicht gewesen wäre.«

»Und Sie würden jetzt Kartoffeln graben?«

»Jawohl, meine Liebe, in einer wollenen Jacke und dickgenagelten Schuhen.«

»Hm. Das wäre aber doch noch ein entschiedener Fortschritt, wenn ich so sagen darf, gegen Ihre jetzige Garderobe. Wenigstens würden die Sachen dem Regen standhalten.«

* * *

Schwester Maria von Magdala wußte nichts davon, daß sie so viel Interesse erregte. Ruhig ging sie in ihrem Büßerinnengewand einher, wusch, putzte und verrichtete alle Arten niedriger Dienstleistungen für die Alten und Kranken, deren zudringliche Dankbarkeit sie freudig entgegennahm.

»Gott sei mit Ihnen!« oder »Gott segne Sie, Maria, und vergebe Ihnen und uns allen, was wir gegen seinen heiligen Namen gesündigt haben«.

Und sie wunderten sich, die armen Seelen, in ihrer eigenen blöden Weise, über das wunderbare Geschick des göttlichen Künstlers, der diesen Geist der Süßigkeit, diese Lilie des Lichtes aus der schmutzigen, stinkenden Atmosphäre einer bedauernswerten Vergangenheit herausgehoben hatte. –

 

Inzwischen hatte Dr. Wilson Barbaras Verschwinden öffentlich bekannt geben lassen; er hatte sogar Privatdetektivs engagiert, um das Kloster, in dem sie sich verborgen hielt, zu entdecken. Er verwandte ein ganzes kleines Vermögen auf die eitle Suche. In seinem Entschluß wurde er noch bedeutend bestärkt durch eine Bemerkung Mrs. Wenhams, die wieder nach Dublin zurückgekehrt war und aus einem doppelten Grund vorsprach; einmal, um den Wilsons ihren förmlichen Besuch abzustatten, und zweitens, um den Doktor beruflich zu konsultieren. Denn ach! Die schöne und bezaubernde Circe und Sirene Mrs. Wenham war auch nur sterblich, und die bösen Vorläufer des Todes spielten schon verdächtig um ihre Gestalt, die mehr als einen Toren ins Verderben gelockt hatte.

Ihr Besuch im Salon dauerte nur kurze Zeit. Die ewige Klage des Mutterherzens war langweilig. Es hieß nur immer: Louis, Louis, und das Weltweib mit all ihrer Verachtung für die hübsche, kleine Puppe hätte es lieber gehabt, wenn man sie in Frieden hätte schlafen lassen. Es war entsetzlich, all diese Erinnerungsgespenster bei einer Morgenvisite über sich ergehen lassen zu müssen.

»Die reinste Geistersitzung,« klagte sie in ihren Muff hinein. »Sie wird mich noch bitten, den kleinen Dummkopf aus dem Hades heraufzuholen.«

»Gestatten Sie mir die Frage,« sagte sie sanft zur bekümmerten Mutter, »bietet Ihnen denn Ihre Religion keinen Trost bei Ihrem Verlust?«

»Gewiß!« erwiderte die Weinende bitter. »Aber sie kann mir Louis nicht mehr lebendig machen.«

»Aber Sie können doch, oder nicht, für – wie sagt man doch gleich? – für die ewige Ruhe seiner Seele beten?«

»Freilich,« entgegnete die Mutter. »Und ich habe auch gebetet. Aber Tod ist Tod, und dann das Gericht.«

Mrs. Wenham erhob sich hastig. Da hatte sie schon wieder die schrecklichen Worte gehört, die mit diesen Leuten stets verknüpft schienen. Tod! Gericht! Und das bei einem Morgenbesuch! Sie betrat des Doktors Studierzimmer. Hier hieß es zur Abwechselung: Barbara, Barbara, Barbara. Ob sie sie gesehen hätte? Ob sie sie kannte? Ob man je ihren Aufenthalt ausfindig machen könnte? Und des Vaters Augen hefteten sich flehend auf das seltsame Weib.

»Ja,« sagte diese, »Miß Wilson hat einmal zu einer sehr sonderbaren Zeit bei mir vorgesprochen und schien mir da sehr aufgeregt und nicht recht bei Sinnen. Was sie sagte, war sehr ungereimt, und sie schien die Selbstbeherrschung fast verloren zu haben. Ich will nicht sagen, daß Miß Wilson ganz geistesgestört war, aber –«

Es war klar, Miß Wilson war in kein Kloster gegangen, sonst hätte man sie bald wieder nach Hause geschickt.

»Ich dachte immer,« fuhr Mrs. Wenham fort, »es sei der höchste Ehrgeiz eines Katholiken, seine Kinder Gott weihen zu können? Ich kann Sie sogar versichern, daß mir oft der Gedanke kam, eine Nonne sein zu dürfen. Ich habe schon so hübsche Bilder von ihnen gesehen, wie sie vor dem Kreuze knieten und ihre Hymnen sangen; und sie schauten so hübsch dabei aus – solch liebliche Gesichter, mit himmelwärts gerichtetem Blick – solcher Friede, solches Glück, wie es wir armen Weltdamen nicht kennen!«

»Lassen Sie uns das Thema verlassen,« bat der Arzt. »Sie wünschen mich zu konsultieren?«

»Ja!« Und die Untersuchung begann. Und siehe da! Die hübschen Nonnengesichter verschwanden, und ein grimmer Totenschädel floß durch die Augen und grinste aus den Worten des schrecklichen Doktors. Und sie bat ihn, flehte ihn tränenden Auges an, sein Verdikt nochmals genau zu überlegen. Sie war ja noch so jung und die Welt so schön!

»Ich bedaure, konstatieren zu müssen, Mrs. Wenham, daß alles, was Sie mir sagen, mein Urteil nur zu bestärken scheint.«

Und Mrs. Wenham weinte. Tod und Gericht schienen dieser Familie wie Lakaien zu folgen. –

Der Kanonikus war ebenfalls sehr interessiert in der Sache. Er schrieb flehende Briefe an vornehme englische Geistliche. Er benützte dazu stets sein wappengeschmücktes Briefpapier mit dem Familienemblem und dem Motto: Sans tache! und seinen Namen schrieb er: Kanonikus Maurice Murray. Er hätte viel darum gegeben, Archidiakonus oder Dekan von N – schreiben zu können. Aber das ging vorderhand noch nicht. Nach einiger Zeit erhielt er höfliche Antworten, aber keine Nachrichten über Barbara. Wenn sie in ein englisches Kloster eingetreten wäre, hätte dies der Kenntnis der Obrigkeiten kaum entgehen können. Schließlich kam eines Tages ein Brief aus Südengland an, der besagte, daß eine junge Dame, die in jeder Hinsicht der Beschreibung Barbaras entsprach, in einen ausländischen Orden eingetreten sei, der sich in der letzten Zeit wegen der Verfolgungen in Deutschland nach England geflüchtet habe. Das Schreiben sprach aber seinen Zweifel an der Identität aus, da dieser Orden als Postulantinnen nur Töchter aus adligen Häusern aufnehme. Unwillig schrieb der Kanonikus zurück, ob der Herr denn nicht wisse, daß ihr Vater ein Baronet aus Dublin und ihr Onkel der Kanonikus von H – sei? Darauf traf die Antwort ein, alle Zweifel seien jetzt gehoben; es müsse jedenfalls Barbara gewesen sein, die ins Noviziat der Dames de Saint Esprit eingetreten sei. Man habe sie zur Vollendung ihres zweijährigen Noviziats nach Oesterreich geschickt.

»Das dachte ich mir,« sagte der Kanonikus stolz. »Ich würde mich sehr wundern, wenn sie nicht die höchste Auszeichnung in ihrem – hm – Orden erreichte.«

Und seine Phantasie, eines alten Mannes liebende Phantasie, ließ ihn noch weiter gehen; und er konnte sich des langen und breiten über die jetzigen und künftigen Aussichten seiner Nichte aussprechen, wenn die armen, alten Leute, die Barbaras Mildtätigkeit erfahren hatten, solange sie bei ihrem Onkel weilte, den Kanonikus fragten: »Wischa, Hochwürden, darf ich so kühn sein und fragen, wo Miß Wilson ist, Gott segne sie?« dann antwortete er: »Jawohl, arme Frau, ich kann Ihnen zu meiner Freude mitteilen, daß meine Nichte, Ihre Wohltäterin, Klosterfrau geworden ist, und zwar in einem Orden, der sich nur aus den ersten Familien des Kontinents ergänzt.« Und wenn dann die armen Leute ihr Erstaunen und ihre Freude ausdrückten: »Wischa, wir wußten, daß Gott mit ihr sei, der süßen jungen Dame,« dann konnte der Kanonikus erwidern: »Jawohl! Eines Tages wird Miß Wilson die höchsten Würden ihres Ordens bekleiden und dessen mitrageschmückte Aebtissin werden.«

Die »mitrageschmückte Aebtissin« wurde lange Zeit das stehende Wunder und Rätsel in der Pfarrei. Als man das Wort »mitrageschmückt« zu verstehen begann, gab es manches Kopfschütteln.

Der Gedanke eines Bischofshutes auf dem Kopf eines jungen Mädchens war fast ein Skandal. Man befragte daher Vater Cussen.

»Ah bah!« sagte der. »Mitrageschmückt, jawohl! Er selbst ist's, der die Mitra braucht. Und sie müßte sehr hoch sein, denn sein Kopf schwebt immer in den Wolken!«

Trotzdem bekam das Volk noch einen höheren Begriff von des Kanonikus Gewalt und Macht und der Größe seiner Familie.

Selbst Doktor Wilson befreundete sich jetzt mit dem Gedanken, als er entdeckte, daß sein geliebtes Kind unter dem Adel Frankreichs und Oesterreichs eine Stätte gefunden habe.

»Die Kirche ist trotz allem,« meinte er, »eine milde Mutter und weiß ihren Kindern in jeder Lebensstellung Obdach zu bieten.«


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