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Die Zeit um Ostern

Seit dem Tod meiner Frau bin ich immer allein gewesen.

Erwachte ich zum Leben, oder starb ich »auf Abzahlung« – entschlief ich langsam?

Es war Winter, Sommer und wiederum Winter. Dann sollte es Frühling werden, ich überzeugte mich im Kalender, auch in dem Jacquots (die ersten Pannen tauchten im März auf), und Jacquot ließ es sich vom Herrn Lehrer bestätigen. Aber monatelang fiel immer Regen vom Himmel, und die Sonne, wenn sie kam, schien nur zur Vorbereitung eines neuen Wassersturzes aufzutreten. Eine Ewigkeit grauen Himmels und dichten Nebels war, eine Ewigkeit voll stockender Winde, in denen Regen und Hagel das Land peitschten, eine Ewigkeit grundloser Wege – der Wald roch nach verfaultem Holz, den Berg herab purzelten tausend Wässerlein, die es vorher nicht gegeben.

Ich nahm keine Schlafmittel mehr. Ich trank nicht mehr. Ich hoffte auf den Frühling. Soweit Schule und Spiel ihm Zeit ließen, half Jacquot mir dabei.

Da waren die Veilchen im Garten. Wenn die erst ihre kleinen lila Wimpel heraushingen, so sagten wir uns, da müßte es Frühling werden, ja, richtig gesehn, wäre es dann Frühling.

Die armen Veilchen! Einmal schien die Sonne – o, nicht lange, nur so zwischen zwei Regen. Jacquot, der im Garten spioniert hatte, kam und meldete: »Die Veilchen grünen.« Richtig, die Veilchen grünten. Ihr Laub hatte Lebensfarbe angenommen vor allem andern Grün im Garten. Gleich darauf waren die blauen Knospen da und ließen im Regen den Kopf hängen. Acht Tage standen sie so. Und warteten. Im Regen! Sie hatten den heißen Liebesbrief der Sonne erhalten und waren pünktlich gewesen beim Stelldichein. Wo aber blieb die Sonne?

Die Falsche! Sie tanzte in den Hotels an der Riviera!

Es war schon viel, daß sie uns von Zeit zu Zeit eine lange Nase drehte hinter der Gardine ihres Ankleidezimmers hervor, wenn sie sich zum Ball schmückte.

Indes, die Veilchen waren da. Bald darauf hieß es, auf der Böschung unterhalb der Steinterrasse gäbe es etwas zu sehn. Jacquot stand neben mir und deutete mit dem Finger hierhin und dorthin. Aber ich sah nichts als Erde, Steine, Holzstückchen. Schließlich entdeckte ich ein verrostetes Zehnpfennigstück. Jacquot wurde ungeduldig. Ob ich blind sei, fragte er und schenkte dem Zehnpfennigstück keine Beachtung. Er hockte zusammengekauert neben meinem Stiefel und berührte mit dem Finger fast die Erde. Ich stellte das Bein vor, damit er nicht auf die Böschung hinabfiele. Doch darum ging es nicht, ob er hinabfiele oder nicht, und ich mußte niederknien und mich neben ihm über den Abgrund beugen. Sein Finger auf dem Boden des Abgrunds berührte einen andern winzigen, grünen Finger, den sah ich, und dann erkannte ich noch mehr davon in der Umgebung. Das waren also dann die Tulpen, die kamen, und ich durfte aufstehn.

Wie Jacquot mich weiter verklagte, daß er mit seinem Fingerchen erst das andre habe berühren müssen, bis ich die »Tulpen« gesehn, rief ich aus: »Sie sind ja auch noch so klein wie du, deine Tulpen!« Er schaute mich an, ob ich spaßte, aber ich blieb ernst und ließ den Blick schweifen, als dächte ich bereits an etwas anderes. Da kniff er mich mit aller Kraft ins Bein und bemerkte ruhig: »Jetzt such mal, Vater, wer dich gepfetzt hat, ob du ihn findest, wenn ich ihn dir nicht zeige!«

Seit diesem Vorfall sagt er, wenn er sich unterschätzt glaubt: »Ach so, du sprichst von den Tulpen.«

Und es regnete wieder in Strömen. Unser Haus war eine Arche, das Wasser strömte Tag und Nacht über den Garten. Kundschafter aus der Stadt, die bis in unsern Wald gelaufen kamen, um die Taube mit dem Ölzweig womöglich in ihrem Nest aufzustöbern, blieben hundertmal stecken, versanken bis über das Schuhwerk im Boden. Im Wald aber war ein Brausen wie von der herannahenden Sintflut. Nachts sah man weder Mond noch Sterne. Wir schliefen in der großen Stimme des Waldes und erwachten in ihr. Es war nicht jene Stimme, wie sie im Sommer spricht, und die bewegter, wärmer und noch im Sturm sanftmütiger klingt als die eherne Stimme des Meeres, nein, sie war eintönig wie ein riesiges Trommelfell, auf das es regnet, eine kahle, traurige Winterstimme.

Eines Morgens – es war der Morgen des 17. März – erwachte ich von einer seltsamen Liebkosung: einer duftenden Brise, wie sie im Mittelländischen Meer plötzlich von Afrika herüberweht, einer ganz klaren Morgenröte, wie sie mich einmal anrührte, als ich ihr durch die Luke meiner Kabine die Stirn entgegenhob und unter ihrer Berührung auch ich zu klingen begann gleich jener Küste einer griechischen Insel, der felsigen Lichtorgel, an der das Schiff langsam vorbeiglitt ... Von so etwas mußte ich wohl geträumt haben. Dann erst vernahm ich Kinderlachen aus dem Garten, das Sonne um sich verspritzte, und eilige, auffallend klangvolle Schritte, die plötzlich, als sie den Kies der Terrasse betraten, ebenfalls zu einem Lachen wurden.

Ich sprang aus dem Bett und stieß die Fensterläden auf. Da sah ich so mächtig, als hätte ich es noch nie gesehn, da sah ich zum erstenmal einen blauen Morgen, den Sohn des Himmels, mit der grünen, blitzenden Erde vermählt! Alle Vögel des Waldes sangen bei uns in der Höhe, alle Hähne krähten im Tal, und als die Morgenglocken zu läuten begannen, war es mir so klar wie dieser Tag, daß kein Sakristan und kein Dorfknirps an ihrem Seile hing, sondern daß sie es ganz allein unternommen hatten zu läuten, den Frühling einzuläuten und Himmelsbläue auf die Erde zu schleudern und aus den Wiesen und Wäldern den Tau in den Himmel.

Seitdem ist es Frühling. Blühende Veilchenhänge, Schlüsselblume, Anemone. Im Wald gibt der Specht Signale auf seiner kleinen Holztrommel. Die guten. Daß es Ernst sei! Daß man diesmal auf den Frühling bauen könne! Und hört nur, da antwortet der Himmel mit dem ersten Gewitter, seinem Ehrenwort, daß der Winter zu Ende.


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