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Bild Theodor Herrmann

6. Ein Brief aus Amerika.

Nun liegt der Schnee so hoch, daß die Kinder kaum zur Schule kommen können, und ein eisiger Wind heult ums Haus und stäubt Wolken von feinem Schnee von den Dächern.

Das Fenster in der Stube ist den ganzen Tag nicht abgetaut, trotzdem der kleine Kanonenofen in einem fort glüht.

Oh weh! Solch Wetter reißt ein Loch in die Feurung | – Und der Vater sitzt am Ofen und blickt in die Glut und wärmt seine steifgefrorenen Finger. Er ist eben nach Hause gekommen und hat sich noch nicht ganz durchgewärmt.

Ach, trotz der Kälte, trotz Schnee und eisigem Ostwind. – Der Vater hats gut! Kommt er heim, findet er eine warme Stube, eine heiße Tasse Kaffee und fröhliche Gesichter. Und die Mutter kommt mit der Lampe, und die Zeitung liegt auf dem Tische, und die Katze schnurrt, und der kleine Karl spielt Post – –

Aber heute morgen! – Da hatte der Vater einen dicken Brief zu bestellen, und der Umschlag war kreuz und quer mit einem Blaustifte beschrieben, so daß die Adresse kaum zu lesen war. Ja, der Brief hatte schon eine weite Reise gemacht. Übers große Wasser war er gekommen, von Amerika.

Und der Vater hatte drei Treppen hinaufsteigen müssen, bis er unter das Dach des Hauses kam. Und dort oben in einer Bodenkammer wohnte eine alte Frau, die mochte schon an die siebzig Jahre alt sein. Im Zimmer wars kalt und der Ofen schwarz. Auf einer kleinen Petroleummaschine kochten Kartoffeln.

»Ein Brief aus Amerika! Frau Behrens!« rief der Vater und hielt der alten Frau den Brief hin.

»Für mich?« fragte sie ungläubig.

»Jawohl, an Frau Witwe Behrens, hier stehts.«

Da nahm Frau Behrens den Brief und suchte nach einem Trinkgelde und konnte keines finden, und suchte nach der Brille und fand auch die nicht, trotzdem so wenig Sachen im Zimmer waren. Und der Vater mußte den Brief öffnen und ihn der Alten vorlesen.

Und in dem Briefe stand: »Liebe Mutter! Ich glaube, es sind nun schon bald drei Jahre her, daß ich dir nicht geschrieben habe. Ach, ich habe viel erlebt: In den drei Jahren bin ich Soldat gewesen und habe einen langen und schweren Krieg mitgemacht, und jetzt liege ich hier in Neuyork im Krankenhause, denn mir ist eine Kugel ins Bein geflogen, und das Bein wird wohl abgenommen werden müssen. Aber das ist auch nicht schlimm. Dann bekomme ich jährlich meine Pension und kann beinahe davon leben und komme wieder zurück nach Deutschland. Ach, wenn ich dich doch man noch mal sehen könnte! – Mutter, liebe Mutter! Lebst du noch? – – –

Die alte Mutter aber war ganz bleich geworden und hatte in einem fort geflüstert: »Ja, ja mein Junge!

Noch leb ich, aber – komm bald, mein Junge! Komm bald! Sonst kommst du zu spät!« – – –

Und der Vater hatte ihr leise den Brief in die Hand gedrückt und war still hinausgegangen. –

Ja, der Vater hat es gut. Der findet ein warmes Stübchen, der hat seine Kinder, um sich, der braucht keine Briefe aus Amerika zu fürchten. – – Der hat es gut, trotz seinen blaugefrorenen Fingern. – – – –

Bild Theodor Herrmann


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