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11. Kapitel.
Der zweite Anschlag des Würgers

Kammamurri begann unruhig zu werden. Die Sonne sank rasch am Horizont, und die beiden Jäger waren noch nicht zurückgekehrt. Nicht einmal einen Flintenschuß hatte man in der Dschungel rollen hören. Er konnte sich die lange Abwesenheit nicht erklären. Er betrachtete aufmerksam den Horizont in der Hoffnung, sie auf der ausgerotteten Ebene erscheinen zu sehen. Er reizte Punthy zum Bellen, aber ohne jeden Erfolg.

Nochmals ging er mit dem Tiger bis zum ersten Bambus, lauschte aufmerksam, ließ mehrmals den Hulok Eine Art Tam-Tam, wie eine Trommel aus zwei verschieden großen Häuten geformt, das einen ziemlich scharfen Ton gibt. erklingen, der an der Tür der Hütte hing, und verbrannte öfter eine Ladung Pulver. Aber das Schweigen, das in der südlichen Ebene herrschte, wurde nicht unterbrochen.

Entmutigt setzte er sich auf die Schwelle der Hütte und wartete. Nach einigen Minuten sprang der Tiger auf und ließ ein dumpfes Knurren hören. Punthys freudiges Gebell folgte.

Im Glauben, daß die Jäger ankämen, erhob sich Kammamurri, aber er sah niemand. Er wandte sich um und entdeckte Tremal-Naik, der angelehnt an der Tür stand.

»Du, Herr?« rief er bestürzt. »Du?«

»Ja, Kammamurri,« sagte Tremal-Naik mit bitterem Lächeln.

»Wie unklug! Du bist noch Rekonvaleszent und – –«

»Schweig! Ich bin stark, stärker als du glaubst!« antwortete der Schlangenjäger fast wütend.

Er machte einige Schritte, ohne zu taumeln, ohne Anstrengung zu zeigen, setzte sich ins Gras, nahm den Kopf zwischen die Hände und betrachtete die Sonne, die im Westen unterging.

»Herr!« sagte Kammamurri nach einigen Augenblicken des Schweigens. »Die Jäger sind noch nicht zurück. Ich fürchte, es ist ein Unglück geschehen!«

»Wer sagt dir das?«

»Niemand, aber ich vermute es. In der Dschungel können sich die Menschen umhertreiben, die Hurti ermordeten und dich dolchten.«

Tremal-Naiks Antlitz wurde düster.

»Kammamurri, sobald ich völlig genesen bin, kehren wir nach der verwünschten Insel zurück und rotten sie alle aus, alle!«

»Nach jener Insel zurück – Tollheit!«

»Tollheit? – Weißt du denn nicht, wen ich dort unten in den Händen jener Menschen gelassen habe?«

»Wen denn?«

»Die ›Tempeljungfrau‹!«

»Wer ist dieses Weib?«

»Ein schönes Geschöpf, Kammamurri, das ich bis zum Wahnsinn liebe und für das ich Indien in Flammen setzen würde!«

»Die Vision?«

»Ja, die Vision!«

»Wie kommt sie aber nach Raimangal?«

»Ein Urteil lastet auf dem unglücklichen Mädchen, Kammamurri. Die Ungeheuer halten sie gefangen, ich weiß nicht, warum. Ich sah sie in der Pagode, als sie zu Füßen eines Ungeheuers aus Bronze wohlriechende Flüssigkeiten ausgoß. Aber jene Menschen, die sie verdammt haben, die sie in ihren Tränen sterben lassen, jene Menschen, die ihr das Herz zerreißen und mich hindern, sie aus ihren Klauen zu retten, ich werde sie alle ausrotten, Kammamurri. Du wirst nicht in ihren Händen bleiben, unglückliche Ada, denn trotz all ihrer Vorsicht, trotz aller Hindernisse wird dich Tremal-Naik aus jenem schrecklichen Orte herausholen, und müßte er deine Freiheit mit seinem Leben bezahlen!«

»Du machst mir Angst, Herr! Und wenn sie dich umbrächten?«

»Ich werde für die sterben, die ich liebe!« rief Tremal-Naik leidenschaftlich erregt.

»Und wann brechen wir auf?«

»Sobald ich die Kraft habe, den Karabiner zu heben. Ich fühle mich schon wieder kräftig, aber nicht so, um gegen sie alle zu kämpfen.«

Da ertönte im Süden ein Flintenschuß. Darma knurrte.

Der Maharatt und Tremal-Naik sprangen auf und hielten Punthy zurück, der wütend bellte.

»Was gibt's?« fragte der Maharatt, indem er das Messer aus dem Gürtel riß.

»Kammamurri! – Kammamurri!« rief eine Stimme.

»Wer ruft?« fragte Tremal-Naik.

»Großer Brahma! – Mantschadi!« stieß der Maharatt hervor.

In der Tat durchquerte der Bengalese mit größter Schnelligkeit die Dschungel, indem er die dichten Bambusreihen durchbrach und den Karabiner wie ein Verrückter schwenkte. Er schien halb wahnsinnig vor Schreck.

»Kammamurri! – Kammamurri!« wiederholte er mit röchelnder Stimme.

In wenigen Minuten erreichte er die Hütte. Er blutete aus einer Wunde, die er sich, um den Verrat glaubhafter zu machen, auf der Stirn beigebracht hatte. Auch das Gewand war mit Blut besudelt.

»Herr! – Kammamurri!« rief er verzweifelt heulend. »Sie haben Aghur tödlich verwundet! – Sie haben sich auf uns gestürzt – Aghur! – Armer Aghur!«

»Sie haben ihn verwundet?« rief Tremal-Naik wütend. »Wer? Wer?«

»Die Feinde! – die Indier mit dem Lasso!«

»Verwünschte Würger! – Sprich, erzähle, vorwärts, ich will alles wissen!«

»Wir hatten uns in einem Wäldchen niedergelassen,« sagte der Elende seufzend. »Bevor wir die Waffen ergreifen konnten, stürzten sie sich auf uns, und Aghur fiel. Ich hatte Angst und bin geflohen.«

»Wieviele waren es?«

»Zehn, zwölf, ich weiß es nicht mehr. Durch ein Wunder entkam ich.«

»Ist Aghur tot?«

»Nein, Herr, tot kann er nicht sein! Sie stießen ihm den Dolch in die Brust und verschwanden dann. Während ich flüchtete, hörte ich den Verwundeten schreien, aber mir fehlte der Mut umzukehren.«

»Du bist ein Feigling, Mantschadi!«

»Herr, wäre ich zurückgekehrt, sie hätten mich erwürgt!« seufzte der Bengalese.

»Wann wird die Sache wohl ein Ende nehmen?« rief Tremal-Naik. »Kammamurri, vielleicht ist Aghur nicht tot. Man muß ihn aufsuchen und hierherbringen.«

»Und wenn sie mich angreifen?« fragte Kammamurri erschrocken.

»Du wirst Darma und Punthy mit dir nehmen. Mit diesen Tieren kannst du hundert Menschen standhalten!«

»Aber wer soll mich führen?«

»Mantschadi!«

»Und du willst allein in der Hütte bleiben?«

»Ich werde mich allein verteidigen. Geh, und verliere keine Zeit, wenn du den armen Aghur retten willst! Mantschadi, führe diesen Mann zum Walde! Wenn du dich weigerst, lasse ich dich vom Tiger zerreißen!«

Tremal-Naik hatte diese Worte in einem Tone ausgesprochen, der Mantschadi zu verstehen gab, daß es kein Scherz war. Den größten Schrecken heuchelnd, entschloß er sich, den Maharatt zu führen, der sich mit Karabiner und Pistolen gut bewaffnet hatte.

Die Sonne war schon hinter dem Horizont verschwunden. Aber der Mond war aufgegangen und verbreitete ein bläuliches, ungemein sanftes Licht, das den beiden Indiern genügte, um den Weg durch die Bambusmassen zu finden.

Mantschadi, der seinen Plan schon entworfen hatte, führte den Maharatt auf den Pfad, den er am Morgen betreten hatte, und folgte ihm dreiviertel Stunde. Am Saum des Wäldchens hielt er an.

»Ist es hier?« fragte Kammamurri gespannt und schaute unter die Bäume.

»Ja!« antwortete Mantschadi geheimnisvoll. »Folge diesem Pfade, der in den Wald vordringt, und du wirst den Weiher erreichen, an dessen Ufer Aghur gefallen ist. Hier, in diesem dichten Gestrüpp verborgen, erwarte ich dich.«

»In einer halben Stunde bin ich zurück. Darma, paß auf und sei bereit, dich auf den ersten Menschen zu stürzen, der sich uns zeigt, und auch du, Punthy, bereite dich vor, jemand zu zerreißen!«

Der Tiger ließ ein tiefes Knurren hören und stellte sich mit gespitzten Ohren vor den Maharatt. Der Hund stellte sich zähnefletschend hinter ihn.

Kammamurri betrat mit den Tieren den Wald, in dem tiefe Dunkelheit und feierliches Schweigen herrschte, und schritt fast lautlos auf dem Pfade vorwärts. Mehrmals hielt er an, in der Hoffnung, ein Klagen und Rufen zu hören, das Aghurs Gegenwart verriete. Aber nichts drang an sein Ohr.

»Seltsam,« murmelte er, indem er sich den Schweiß abwischte, der ihm dick von der Stirn rann. »Ob er tot ist?«

Er hatte etwa vierhundert Schritte gemacht, als er jemand ein schwermütiges Lied pfeifen hörte.

Es war dasselbe Lied, das Mantschadi pfiff, bevor er Aghur ermordete. Der Tiger begann zu knurren und drehte den Kopf rückwärts. Der Hund wurde unruhig und fletschte die Zähne.

»Achtung!« sagte Kammamurri, dem das Blut erstarrte.

Eine Wolke verdeckte den Mond, und die Finsternis wurde noch dichter. Kammamurri hielt an und war unentschieden, ob er weitergehen oder umkehren solle. Dann drang er mit erhobenen Pistolen vor.

»Kammamurri!« rief eine Stimme.

»Kammamurri!« wiederholte eine zweite.

»Kammamurri!« eine dritte.

Der Tiger begann zu brüllen und peitschte mit dem Schweife die Flanken. Zwei- oder dreimal versuchte er, sich zur Rechten des Pfades zu werfen, aber mit einem Pfiff rief ihn der Maharatt an seinen Platz zurück.

»Ruhig, Kleiner, ruhig!« sagte er. »Laß sie rufen! Geister sind es nicht, sondern Menschen, denen es Vergnügen macht, mir Furcht einzuflößen. Wenn ich zur Hütte zurückkehre, kann ich Wischnu danken, daß er mich beschützt hat!«

Zur Rechten und Linken eine Pistole erhoben, beschleunigte er seinen Schritt und erblickte kurz danach den Weiher.

Ein Mondschimmer fiel auf jenen Ort und erleuchtete ihn wie am hellen Tage. Kammamurri entdeckte, namenlos erschrocken, an der Erde einen menschlichen Körper, auf dem sich eine Gruppe von Marabus bewegte.

Punthy warf sich laut bellend gegen die Leiche und jagte die gefräßigen Vögel in die Flucht.

»Aghur!« rief Kammamurri seufzend.

Wie ein Verrückter lief er zum Weiher und warf sich auf den Körper seines unglücklichen Gefährten. Der Lasso umschnürte ihm noch den Hals, und der Körper war von den Marabus zerfleischt.

»Aghur! Mein armer Aghur!« wiederholte Kammamurri und umarmte die Leiche.

Plötzlich entschlüpfte ihm ein schrecklicher Schrei. Seine Augen hefteten sich auf einen Stein, an dem Aghurs Kopf lehnte.

Bei dem blassen Mondlichte las er zitternd folgende, mit Blut geschriebene Worte:

»Kammamurri, Mantschadi hat mich ermor – –«

Der Maharatt sprang auf. Er verstand den ganzen Verrat des Bengalesen und die Gefahr, in der sich sein Herr befand.

»Darma! Punthy!« schrie er erregt.

»Zur Hütte! – Zur Hütte! – Man mordet den Herrn!«

Und er warf sich quer durch den Wald, der Tiger voran, der wütend bellende Hund hinterdrein. – –

Während Kammamurri wie ein Damhirsch unter dem dunkeln Gewölbe dahinlief, verlor der Bengalese keine Zeit.

Kaum war er allein, so sprang er aus seinem Versteck hervor und, entschlossen, das zweite Opfer zu würgen, eilte er zur Hütte. In weniger als einer halben Stunde durchquerte er die Dschungeln und hielt am Saume der Pflanzungen an, nachdem er einen zweiten Lasso zurecht gemacht hatte.

»Der Herr wird Wache halten,« murmelte er. »Wenn er mich allein zurückkehren sieht, wird er glauben, daß ich Kammamurri verlassen habe und mir eine Kugel durch den Kopf jagen.«

Vorsichtig bog er den Bambus zurück und spähte nach Norden. Vierhundert Schritte vor ihm stand die Hütte und neben ihr Tremal-Naik, mit dem Karabiner in der Hand.

»Ah!« rief der Elende. »Es wird nicht leicht sein, ihn zu töten. Aber Mantschadi ist durchtriebener als ein Schlangenjäger.«

Sein Entschluß wurde schnell ausgeführt. Um von Tremal-Naik nicht gesehen zu werden, legte er sich lang auf den Boden und schlängelte sich wie eine Schlange zwischen die Kräuter hindurch, indem er sich vorsah, kein Geräusch zu machen.

So rückte er langsam vor, machte von Zeit zu Zeit halt und beobachtete Tremal-Naik, der nichts zu merken schien. So gelang es ihm, die Hütte zu gewinnen.

Wie ein Tiger schleichend, richtete er sich auf. Ein grausames Lächeln umspielte seine Lippen. »Er ist mein!« murmelte er leise. »Kali beschütze mich.«

Auf den Fußspitzen lief er längs der Hüttenwände und zehn Schritte vor Tremal-Naik machte er halt. Er warf noch einen Blick auf die Dschungel, entdeckte aber niemand.

Ein noch grausameres Lächeln als das erste zuckte um seine Lippen, seine Augen funkelten wie die einer Katze.

Noch einen Augenblick und das Opfer war in seinen Händen.

Eilig ließ er den Lasso um seinen Kopf pfeifen und warf ihn, indem er einen Schritt vorwärts tat.

Wie ein vom Sturm entwurzelter Baum fiel Tremal-Naik zu Boden. Aber durch günstigen Zufall hatte sich der Lasso in seiner Hand verwickelt.

»Kammamurri!« rief der Unglückliche und packte mit der andern Hand den Strick, um ihn mit verzweifelter Kraft an sich zu ziehen.

»Stirb! – Stirb!« brüllte der Mörder und riß ihn zu Boden.

»Kammamurri! – Hilfe!«

»Hier bin ich!« tönte eine Stimme.

Mantschadi knirschte vor Wut mit den Zähnen. Am Rande der Pflanzungen war der Maharatt unverhofft erschienen, vor ihm mit riesigen Sprüngen der Tiger, an seiner Seite Punthy.

Ein Blitz, von einem Krach gefolgt, zerriß die Nacht. Mantschadi machte einen Sprung von zehn Schritten und stürzte sich kopfüber zum nahen Ufer.

Ein zweiter Schuß ertönte, Mantschadi fiel in den Fluß und verschwand im Gewässer.


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