Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

4. Kapitel.
In der Dschungel

Nach jenem unerwarteten Knall waren die Indier mit dem Lasso in der Rechten und dem Dolch in der Linken aufgesprungen. Als sie ihren Anführer blutüberströmt in krampfhaften Todeszuckungen an der Erde liegen sahen, eilten sie ihm zu Hilfe und vergaßen so für kurze Zeit den Mörder. Dieser Augenblick genügte für Tremal-Naik und Kammamurri, um unentdeckt die Flucht zu ergreifen.

Die mit dichtem, stachligem Gebüsch und riesigem Bambus bestandene Dschungel mit ihren unauffindbaren Verstecken war nur wenige Schritte entfernt. Die beiden Indier stürzten sich mitten hinein und liefen wie verzweifelt etwa fünf Minuten. Dann bargen sie sich unter einer fünfzehn Meter hohen Bambusgruppe.

»Wenn dir das Leben lieb ist,« sagte Tremal-Naik hastig zu Kammamurri, »so beweg dich nicht.«

»Herr! Was hast du getan?« sagte der arme Maharatt. »Bald werden sie alle über uns herfallen und uns erwürgen wie den armen Hurti!«

»Schweig und sei auf der Hut!«

In der Ferne hörte man das Geschrei der furchtbaren Bewohner der Banane.

»Rache! Rache!« schrien sie.

Drei scharfe Töne, die des Ramsinga, hallten in der Dschungel wider, und unter der Erde hörte man das hohle Dröhnen wie kurz zuvor. Die beiden Jäger duckten sich zusammen und hielten sogar den Atem zurück. Sie wußten, daß sie, einmal entdeckt, unerbittlich von den Seidenlasso jener Unmenschen erwürgt würden, die schon so viel Opfer hingeschlachtet hatten.

Es waren noch nicht drei Minuten vergangen, als der Bambus hastig zur Seite geschlagen wurde und sich einer von jenen Menschen zeigte. Das Lasso in der Rechten, den Dolch in der Linken, flog er wie ein Pfeil an dem Versteck vorbei und verschwand im Dickicht der Dschungel.

»Hast du ihn gesehen, Kammamurri?« fragte Tremal-Naik leise.

»Ja, Herr!« antwortete der Maharatt.

»Sie glauben uns schon weit fort und laufen, um uns einzuholen. In wenigen Minuten werden wir keinen Mann mehr in der Nähe haben.«

»Trauen wir ihnen nicht! Diese Menschen flößen mir Furcht ein.«

»Sei ohne Sorge, ich bin hier. Schweig und paß gut auf!«

Ein anderer Indier, wie der erste bewaffnet, raste einen Augenblick danach vorbei und verschwand im Bambusdickicht.

Von ferne hörte man noch einige pfiffartige Töne, die ein Zeichen sein mußten, dann schwieg alles.

Es verging eine halbe Stunde. Aus allem ersah man, daß die Indier, auf falsche Fährte geraten, schon weit weg waren.

»Kammamurri,« sagte Tremal-Naik, »wir können uns fortwagen. Nach meiner Ansicht sind die Indier mitten in der Dschungel.«

»Und wohin werden wir uns wenden? Zur Banane vielleicht?«

»Ja, Maharatt!«

»Willst du dich vielleicht dort hineinwagen?«

»Jetzt nicht, aber morgen, bei Anbruch der Nacht, kehren wir hierher zurück und werden das Geheimnis enthüllen.«

»Aber was meinst du von jenen Menschen?«

»Ich weiß es noch nicht, aber wir werden es erfahren, Kammamurri, wie ich auch bald wissen werde, wer jenes Weib ist, die im Tempel ihrer schrecklichen Gottheit wacht. Hast du gehört, was jener Alte sagte?«

»Ja, Herr.«

»Ich weiß nicht, aber mir ist, als wenn er von mir gesprochen hätte und daß jene Jungfrau die sei – –«

»Still, Herr! –« flüsterte Kammamurri mit gedämpfter Stimme.

»Hast du etwas gehört?«

»Ein Bambus bewegte sich!«

»Wo?«

»Dort unten, dreißig Schritte vor uns. Still!«

Ein kaum hörbares Rauschen kam aus der angegebenen Richtung. Es war, als wenn jemand mit größter Vorsicht die langen Blätter der riesigen Pflanzen beiseiteschöbe.

»Irgend jemand nähert sich,« murmelte Tremal-Naik. »Beweg dich nicht, Kammamurri.«

Das Rauschen wurde deutlicher und kam langsam näher. Kurz vor ihnen bogen sich zwei Bambus auseinander, und ein Indier kam zum Vorschein.

»Gary!« lispelte er.

Ein zweiter Indier kam aus jenem Bambus hervor, kaum sechs Schritte vom ersten entfernt.

»Hörst du nichts?« fragte der letztere.

»Nichts.«

»Und doch ist es mir, als wenn jemand lispele.«

»Du wirst dich getäuscht haben. Seit fünf Minuten stehe ich hier und halte die Ohren steif. Wir sind auf falschem Wege.«

»Wo sind die andern?«

»Alle vor uns, Gary. Man fürchtet, daß die Menschen, die hier zu landen wagten, einen Streich auf unsern Tempel versuchen.«

»Wozu?«

»Vor vierzehn Tagen begegnete die ›Tempeljungfrau‹ einem Menschen. Von einem der Unseren wurden sie ertappt, wie sie Zeichen wechselten.«

»Und warum?«

»Man nimmt an, daß jener Mensch die ›Jungfrau‹ befreien will.«

»Welch furchtbares Verbrechen!« rief der Indier, der Gary hieß.

»Diese Nacht ist ein Gefährte jenes Elenden, der es wagte, seine Augen zur Jungfrau unserer verehrten Göttin zu erheben, hier gelandet. Ohne Zweifel kam er, um zu spionieren.«

»Aber jener Indier wurde erdrosselt.«

»Ja, aber nach ihm sind andere gekommen. Einer von ihnen ermordete unseren Priester.«

»Und wer ist jener Mensch, der die ›Jungfrau‹ anschaute?«

»Ein gewaltiger Mann, Gary. Er ist zu allem fähig, es ist der Schlangenjäger der schwarzen Dschungel.«

»Dann muß er sterben!«

»Und er wird sterben, Gary. Mag er auch laufen, wir werden ihn einholen, und unsere Lassos werden ihn erwürgen. Entferne dich jetzt und eile zum Flußufer! Ich gehe zum Tempel, um über die Jungfrau zu wachen. Leb wohl, möge unsere Göttin dich beschützen!«

Die beiden Indier trennten sich und eilten auf verschiedenen Wegen davon. Kaum war das Gespräch beendet, als sich Tremal-Naik, der alles gehört hatte, erhob.

»Kammamurri,« sagte er lebhaft erregt, »wir müssen uns trennen. Du hast gehört, sie wissen, daß ich gelandet bin und suchen mich.«

»Ich habe alles vernommen, Herr.«

»Du folgst jenem Indier an den Fluß und versuchst, sobald du kannst, das gegenüberliegende Ufer zu gewinnen. Ich folge dem andern.«

»Du verbirgst mir etwas, Herr! Warum kommst du nicht mit mir?«

»Ich muß zum Götzentempel.«

»O, tu das nicht, Herr!«

»Ich bin unerschütterlich. Im Tempel versteckt man das Weib, das mich verzauberte!«

»Und wenn sie dich morden würden?«

»Töten sie mich an ihrer Seite, so werde ich glücklich sterben! Geh! Kammamurri, geh, das Fieber fängt an, mich zu packen.«

Kammamurri stieß ein tiefes Stöhnen aus und erhob sich.

»Herr,« sagte er bewegt, »wo sehen wir uns wieder?«

»An der Hütte, wenn ich dem Tode entgehe. Geh!«

Der Maharatt warf sich in die Dschungel und folgte den Spuren des Indiers nach dem Ufer.

Tremal-Naik hängte den Karabiner über die Schulter, schaute sich nochmals um und entfernte sich rasch und lautlos, indem er die Spuren des anderen Indiers verfolgte, der noch nicht weit sein konnte.

Der Weg war schwierig und verflochten. So weit das Auge sehen konnte, war der Boden mit einem undurchdringlichen Bambusnetz bedeckt, das außerordentlich hoch stand.

Ein Mensch, der in jenen Orten nicht genau Bescheid weiß, würde sich unfehlbar in jenem riesigen Pflanzenreiche verlieren und nicht fähig sein, ohne Geräusch einen Schritt zu tun. Tremal-Naik aber, in der Dschungel geboren und aufgewachsen, bewegte sich dort mit überraschender Schnelligkeit und Sicherheit, ohne auch das leiseste Geräusch hervorzubringen. Er schlüpfte, sich wie ein Reptil schlängelnd, durch das Gestrüpp hindurch, ohne je zu zaudern, welchen Weg er zu wählen habe. In kurzen Zwischenräumen legte er das Ohr an die Erde und war so sicher, die Spuren des Indiers nicht zu verlieren, der ihm voranschritt.

So viel ihm möglich war, benutzte er auch den leicht gebahnten Weg des Indiers.

Schon mehr als eine Meile war er so gelaufen, als er wahrnahm, daß der Indier plötzlich stehenblieb. Drei-, viermal legte er das Ohr an, aber der Boden übertrug nicht das geringste Geräusch. Mit größter Spannung erhob er sich und lauschte, aber nichts drang zu ihm. Tremal-Naik wurde unruhig.

»Was ist geschehen?« murmelte er, um sich blickend. »Ob er gemerkt hat, daß ich ihm folge? Nehmen wir uns in acht!«

Drei Schritte schlich er noch vor, dann erhob er den Kopf, zog ihn aber sofort wieder zurück. Er war gegen einen weichen Körper gestoßen, der von oben herabhing und sofort verschwand.

»O!« machte er.

Ein furchtbarer Gedanke kam ihm. Augenblicklich warf er sich auf die Seite, zog das Messer und starrte in die Luft.

Doch konnte er nichts entdecken. Und trotzdem war er überzeugt, gegen etwas gestoßen zu sein, was kein Bambusblatt sein konnte.

Wie ein Standbild verharrte er einige Minuten unbeweglich.

»Eine Riesenschlange!« rief er plötzlich, ohne jedoch zu erschrecken.

Ein plötzliches Rauschen wurde inmitten des Bambus hörbar. Dann ringelte sich ein langer, schwarzer, schmiegsamer Körper von einer jener Pflanzen herab. Eine ungeheure, mehr als zwanzig Fuß lange Riesenschlange glitt an den Schlangenjäger heran, indem sie hoffte, ihn zwischen ihre schleimigen Krümmungen zu bringen und ihn in jener schrecklichen, unwiderstehlichen Weise zu zermalmen. Aus dem geöffneten Maule hing die gabelförmige Zunge, und die funkelnden Augen leuchteten tückisch in der tiefen Dunkelheit.

Tremal-Naik ließ sich zur Erde fallen, um nicht von jenem scheußlichen Reptil zu einem Haufen zerquetschter Knochen und blutigen Fleisches zermalmt zu werden.

»Wenn ich mich bewege, bin ich verloren,« flüsterte er kaltblütig. »Wenn der Indier, der mir vorangeht, nichts merkt, bin ich gerettet.«

Das Reptil hatte sich so weit herabgeschlängelt, daß es mit dem Kopfe die Erde berührte. Es glitt zum Schlangenjäger hin, der starr wie eine Leiche dalag, ringelte sich plötzlich zu ihm, berührte ihn mit der kalten Zunge und versuchte dann, unter ihn zu kommen, um sich um ihn zu winden. Dreimal erneuerte es vergebens zornig zischend den Angriff, dann zog es sich in tausend Windungen auf jenen Bambus zurück, den es umschlungen hielt.

Tremal-Naik, knirschend vor Entsetzen, blieb ruhig liegen, indem er übermenschliche Anstrengungen machte, um sich zu beherrschen. Kaum hatte sich jedoch das Reptil entfernt, so beeilte er sich, einige Meter weit fortzuschleichen. Da er sich jetzt außer Gefahr glaubte, erhob er sich wieder, als er eine drohende Stimme schreien hörte:

»Was machst du hier?«

Tremal-Naik griff zum Messer. Auf etwa acht Meter Entfernung tauchte plötzlich ein Indier von hoher Gestalt auf. Er war ungeheuer mager und mit Dolch und einer Art Lasso bewaffnet, das in einer Bleikugel endigte.

Seine Brust war mit der geheimnisvollen Schlange mit dem Frauenkopf tätowiert, die mit Buchstaben aus dem Sanskrit eingefaßt war.

»Was machst du hier?« wiederholte er drohend.

»Und was machst du?« antwortete Tremal-Naik mit eisiger Ruhe. »Bist du vielleicht einer jener Elenden, die sich ein Vergnügen daraus machen, die Leute zu würgen, die hier landen?«

»Ja, und wisse, daß dir jetzt Gleiches geschieht!«

Tremal-Naik fing an zu lachen und betrachtete das Reptil, das sich wieder vom Baume herunterschlängelte und sich fast über dem Haupte des Indiers befand.

»Du glaubst, mich zu töten,« sagte der Schlangenjäger, »während der Tod dich bedroht!«

»Aber erst stirbst du!« schrie der Indier und ließ das Lasso um sein Haupt schwirren.

In dem Augenblick, als er die Bleikugel schleudern wollte, ertönte das geräuschvolle Zischen der Schlange.

»O!« stieß er tief erschrocken hervor.

Er hatte den Kopf erhoben und das Reptil vor sich bemerkt. Er wollte fliehen und tat einen Sprung zurück, verwickelte sich aber im Bambus und überschlug sich.

»Hilfe! Hilfe!« schrie er verzweifelt.

Das Ungeheuer hatte sich zur Erde fallen lassen, im Nu den Indier umwickelt und preßte ihn nun derart, daß ihm der Atem ausging und alle Knochen krachten.

»Hilfe! Hilfe!« wiederholte der Unglückliche mit weit aufgerissenen Augen.

Mit einem wuchtigen Messerhieb schnitt Tremal-Naik die vor Wut zischende Schlange in zwei Teile, die schon begonnen hatte, ihr Opfer mit blutigem Geifer zu bedecken. Da krachte plötzlich an verschiedenen Stellen der Bambus.

»Da ist er!« rief eine Stimme.

Es waren andere Indier, Gefährten des Unglücklichen, den das Reptil, obgleich zerschnitten, zermalmte und das Blut aus dem Fleische preßte. Tremal-Naik begriff die Gefahr, in der er schwebte, und begab sich quer durch die Dschungel auf die Flucht.

»Da ist er! Da ist er!« wiederholte dieselbe Stimme. »Feuert auf ihn! Feuer!«

Ein Büchsenschuß krachte und weckte alle Echos der Dschungel. Dann folgte ein zweiter und endlich ein dritter. Tremal-Naik, durch ein Wunder unverletzt, wandte sich um, riß den Karabiner von der Schulter und schoß ebenfalls. Ein Indier stieß einen schrecklichen Schrei aus, fuhr mit den Händen an den Kopf und rollte ins Gras.

Tremal-Naik nahm seine hastige Flucht wieder auf und sprang zur Linken und Rechten, um so seinen Feinden das Zielen unmöglich zu machen.

Er durchquerte ein Bambusgestrüpp, trat es wütend nieder und warf sich mitten in die dichte Dschungel, damit seine Verfolger die Spuren verlören.

So lief er eine Viertelstunde, hielt einen Augenblick, um Atem zu holen, dann stürzte er sich wie wahnsinnig inmitten sumpfigen Bodens, der mit zahllosen Kanälchen durchfurcht war.

Seine Augen waren blutunterlaufen, und Schaum bedeckte seine Lippen. Aber er rannte immer weiter, als wenn er Flügel an den Füßen hätte, sprang über Hindernisse, die ihm den Weg versperrten, tauchte in Sümpfe, durchschwamm Teiche und Kanäle, nur mit dem einzigen Gedanken, zwischen sich und seine Angreifer die denkbar größte Entfernung zu bringen.

Wie lange er so lief, wußte er nicht. Als er innehielt, befand er sich zweihundert Schritte vor einem prächtigen Götzentempel, der sich vereinzelt, unweit eines großen Weihers, von mächtigen Trümmern eingefaßt, erhob.


 << zurück weiter >>