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Der Ukrainer und die Lesgierin

Der Fürstin Tola Meschtscherski nacherzählt

Drei lange Fichtenspäne, in ein Wandbrett gesteckt, brennen und blaken in der Lehmhütte. Eine niedrige, blaurot bemalte Bank zieht sich längs den Wänden hin. Ein riesiger Ofen, zugleich Bett, füllt die Ecke der Stube; daneben hangen tiefgebräunte, kupferglänzende Heiligenbilder.

Die Alte mit den trüben, harten Augen sitzt aufrecht in ihrem Leinenkittel und webt. Das Schiffchen pocht einförmig in den Einschlag. Die Lippen der Alten bewegen sich immerzu.

Ein junger Bauer in scharlachrotem Hemd raucht schweigend seine Kirschholzpfeife. Er ist blond, das Haar fällt ihm in die Augen; traurige Augen mit hellen Wimpern.

Auf der Türschwelle kauert eine schlanke, fremdartige Frau mit kastanienbraunen Locken. Sie drückt ein Kindchen an ihre Schultern, einen nackten, braunen kleinen Knaben.

Die Stille in dem verräucherten Raum wird beängstigend. Es ist, als hielten die Wesen erregt ihren Atem zurück.

Draußen brandet der Kuban an die Felsenufer, der Wind heult, das Strohdach der Hütte raschelt unter seinen Stößen. Schreie, die keiner irdischen Stimme gleichen, ersterben vor den kleinen, blinden Fenstern: so weihen die letzten Herbstböen das weiße, stumme, grausame Fest des Winters ein.

Die Uhr an der Wand, die einem langen, schwarzen Sarg ähnelt, tut zehn Schläge. Der Mann klopft die Asche aus der Pfeife und sagt mit seltsam weicher Stimme: »Weib, du wirst meine Schaftstiefel teeren, den Ledergürtel mit der Geldtasche bereitlegen, zwei Hemden, meinen Reisepaß, mein Beil und zwei Bündel Stricke. Ich gehe morgen früh. Mutter, du sorgst für den Imbiß.«

Das Schiffchen hört auf, den Webstuhl zu schlagen. »Schön,« sagt die Alte; und mit einem Blick auf ihre Schwiegertochter: »Unsre jungen Männer haben es eilig, das Haus zu verlassen.«

Der Bauer mit derselben eintönigen Stimme: »Wir müssen uns einschränken und arbeiten. Laß das Kind, Weib! Was beleckst du es immerzu? Bei der heiligen Anna, das Geschöpf hat einen bösen Blick.«

Die junge Frau erhebt sich und gehorcht. An dem Gürtel mit den Goldtroddeln hängt ihr der Kleine. Sie steigt gebückt auf den Schemel, um das Beil herabzulangen, das bei dem übrigen Jagd- und Arbeitsgerät an der Wand hängt, den Sicheln, Flinten, Heugabeln und Sensen. Ihre Bewegungen sind träg, biegsam und geschmeidig, schlank und ebenmäßig ihre Gestalt.

Als sie alles bereitgelegt hat, trägt sie das Mahl auf: Brot und Kohl. Die Alte und der Bauer bekreuzigen sich, setzen sich zu Tisch und essen ernst, mit gesenkten Augen. Indes lehnt die junge Mutter an der Wand, hat die Hände auf das Haupt ihres Kindes gelegt und wartet.

Die Frau ist nicht hierzuland zu Hause: sie ist Lesgierin von reinstem Blut – aus den Bergen und Wäldern, die an den Kaspisee grenzen. Sie ist anders als die Menschen der Ebene, die grobschrötigen Ackerbauern mit der breiten Brust und dem farblosen Haar. Der Ukrainer gleicht seinem langsamen, ungeschlachten Steppenochsen mit den großen, leuchtenden Augen. Der Lesgier lebt noch im Mittelalter: er trägt ein Panzerhemd, einen Helm, der den langen Kopf bedeckt, und einen krummen Säbel. Sein Pferd ist geharnischt. Die Frauen, weiß gekleidet, schlafen in unzugänglichen Horsten. Bei Tagesanbruch singen die Muesin auf den Minarên. Der Lesgier ist mild, aber ritterlich, er verachtet die Arbeit der Hände, die den Kleinrussen so schwerfällig und mißtrauisch macht. Von den grünen Hängen, zwischen denen der Terek funkelt, stammt die Frau, und ihre schwarzen Augen strahlen die großartige, die tiefe Traurigkeit des Landes der Adler aus.

Taraß hatte einst eine Winterkarawane nach Tiflis geführt und dabei zufällig die Freundschaft eines alten, ziemlich reichen Tscherkessen erworben, des Vaters von Hadjila. Sie machten gemeinsam einige Geschäfte, und auf dem Abschiedsfest wurde Hadjila dem jungen Mann gegeben, abgetreten wie eine Ware oder wie ein Angeld auf künftige Dienste.

Die Hochzeit war fröhlich. Zehn Tage mischten sich Sang und Tänze unter Myrten mit den Klagen der wilden Turteltauben in den Rosengebüschen. Ak Kul feierte die Abreise einer ihrer Töchter, einen Abschied für immer.

Man belud Tarassens Pferde mit der Ausstattung und Mitgift der Lesgierin; das ganze Dorf zog die blühenden Hänge hinab und geleitete die Jungvermählten bis an die Berge mit den weißen Gipfeln. Der Mollah segnete ihre Zukunft: eine Zukunft, so einförmig wie der Weg, der sich schnurgerade, so weit das Auge reichte, vor ihnen in die Steppe verlor.

Sie gingen zusammen fort; der Weg, schmal wie ein Graben, führte sie zwischen reiterhohen Haferschlägen dahin. Die Lesgierin blickte zurück; aus schwarzen Zypressen stach spitz wie eine Nadel das weiße Minarê. Die Lesgierin sah es im Prisma ihrer Tränen; und auf dem letzten Abhang ihrer Heimaterde stand der Sohn des Zenturio, schön wie ein Zentaur auf seinem Fuchs, in Stahl gepanzert, mit Türkisen geschmückt, mit erhobenem Haupt und schickte ihr einen langen Blick nach.

Als sie zwei Tage später die niedrige, weißgetünchte Hütte im Apfel- und Pfirsichgarten mit dem abgeschlürften Fußboden betrat, da senkte sie den Kopf. Zwei Tage Fußmarsch trennten sie vom heimatlichen Eden. Immerhin könnte ein Tscherkesse auf seinem Pferd den Weg aus Ak Kul hierher in sechs Stunden zurücklegen.

Seither hat Hadjila das Dorf am Kuban nie verlassen, kaum mehr ihre Hütte, die wie ein viereckiges Zelt aussieht. Seit vier Jahren nicht mehr.

In der ersten Zeit fanden ihre Schönheit und ihre Mitgift Gnade vor den Augen von Tarassens Mutter; die strenge Bäuerin verzieh ihr die Schweigsamkeit und Trauer. An Spiel und Tanz der Ukrainerinnen nahm die Lesgierin nicht teil. Die starken, schönen Arbeiterinnen verachteten sie darum auch ein wenig.

Bei der Ernte sichelte sie und band sie mitten unter ihnen, gewandt, aber ohne Kraft, ohne Klage, doch auch ohne Eifer. Und redete kein Wort. Des Abends lehnte sie an der Haustür, im Mondlicht gebadet, und raunte leise Lieder vor sich hin, die wie das Säuseln des Windes in den Zypressen klangen.

Der Winter kam. Taraß liebte sie mit der verborgenen und wilden Leidenschaft des Slawen; er war herrschsüchtig, anspruchsvoll, mißtrauisch und breitete um sich abstoßenden Schrecken. Sie atmete auf, als er im Schlitten abfuhr – in einem jener Schlitten, die alljährlich Getreide und Holz aus der Steppe nach der Stadt bringen. Diese leichten Schlitten aus Birkenrinde, mit magern, langhaarigen Pferdchen bespannt, ihrer Hunderte in endloser Kolonne, ersetzen die Eisenbahn in der Unermeßlichkeit der Ukraine.

Die Dörfer sind dann entvölkert; alle jungen Männer sind beim ersten Frost weggegangen und kommen erst zur Schneeschmelze wieder. Die Greise allein bleiben bei den Frauen und Kindern. Man ist eingesperrt im Kerker des Frostes, von Winterstürmen geschlagen, und die Stunden wollen nicht verstreichen. Am Nachmittag schon sinkt die Nacht. Am Morgen verspätet sich die Sonne im Kampf mit zähen Nebeln. Und die Menschenhände finden keine Arbeit.

Die Lesgierin fühlte sich anfangs durch Tarassens Abreise befreit; die beklemmende Unruhe ihres Herzens war gewichen. Doch die graue, undurchdringliche Einsamkeit der Wintertage, die immer gleichen Schrecken der eingesargten Natur wurden zu einer Krankheit, die an des Weibes leidenschaftlicher, verträumter Seele fraß.

Es gab Augenblicke, der Hoffnung, wo Hadjila den warmen Regen der Taggleiche, würzigen Frühlingswind zu spüren glaubte; sie hörte die rhythmischen Gesänge ihrer Gespielinnen, den Galopp der Hengste auf den Felsen, das Klirren der Steigbügel und Silbersporen; sie schaute geschmeidige Reiter, gebeugt auf verzierte Sättel, schaute die weißen Schleier von Mädchen, die Steinkrüge auf den Köpfen trugen. Sie atmete den Duft der Lorbeerblüten ein und von kupfernen Kohlenbecken, die auf den Dächern rauchten. Herber Schmerz ergriff sie.

Wie eine Anemone welkte sie dahin; dennoch zog sie diese Einsamkeit dem erregenden Spionieren Tarassens vor. Sie konnte die Augen schließen und in der Erinnerung leben.

Mit dem Frühling kam ihr Mann zurück, mürrisch und weniger verliebt. Das Joch wurde drückend.

Zwei Jahre vergingen. Im dritten Winter endlich schien Hadjila aus ihrer Lähmung zu erwachen; ihre tiefen Augen glänzten, ein rosiger Hauch hatte ihr Gesicht überflogen.

Nun ging sie oft aus. Ihre Füße in den bemalten Holzpantoffeln froren nicht. Sie fürchtete nicht die Nacht, nicht die grollenden Unwetter am Kuban. Immer erst bei Morgengrauen kehrte sie heim. Und niemand wußte, wo sie gewesen war. Niemand wagte auch, ihr Vorstellungen zu machen; nicht einmal die alte Mutter, die vergeblich versucht hatte, der Schwiegertochter mit Drohungen, Schimpfreden und Schlägen beizukommen. Schließlich war das alles Tarassens Sache und Taraß, war weit weg.

Die Lesgierin ging mit aufrechtem Haupt. Ihre wunderbare Schönheit funkelte von Haß und Hochmut; sie ging stumm bei sinkendem Tag und kam stolz bei Sonnenaufgang heim.

Im September gebar sie einen Sohn. Er hatte schwarze Augen und eine Stirn, braun wie antike Bronze. Von da an versenkte sie sich in ihr Kind, das in Reiz und Schönheit heranwuchs.

Das Kind war der Rasse des Ukrainers und ihm ganz fremd. Wenn Taraß den Augen des Knaben begegnete, überlief ihn ein fieberhaftes Zittern. Seine Züge wurden hart. Er sah in dem Blick des Kleinen heimliche Verachtung. In solchen Augenblicken konnte man glauben, Taraß hasse seinen Sohn.

Hadjila war so versunken in Mutterfreude, daß sie die Drohung nicht wahrnahm. Sie redete mit dem Kind in der singenden Sprache der Lesgier. Sie hüllte es in die langsamen, katzenartigen Liebkosungen der morgenländischen Frauen und mischte in das Zeichen des Kreuzes die Verneigungen des Moslime zur Stunde des Gebets.

Während also Taraß und seine Mutter wortlos zu Abend aßen, blieb Hadjila an die Wand gelehnt. Sie wiegte sich leis – und darin sprach sich, ohne daß sie es wußte, ihr innerster Gedanke aus, immer derselbe: eine wortlose, in keine Worte gefaßte Anrufung, eine ewige Vergötterung des Knaben, in dem sich für sie all ihre eigene Leidenschaft, ihre eigenen Tugenden verkörperten.

Eine Weile hatte Taraß sich auf den Tisch gestützt und sie beobachtet. Seine stahlgrauen Augen flackerten, das flachsblonde Haar sträubte sich. »Iß!« rief er plötzlich.

Hadjila schüttelte den Kopf.

»Iß!« sagte er noch einmal.

Sie blickte ihn an, antwortete aber nicht.

Mit drei ungestümen Schritten war er neben ihr. Mit der einen Hand ergriff er den Kopf des Kleinen, mit der andern steckte er ihm ein Stück Brot in den Mund. Das erschreckte Kind trotzte ihm; es preßte die Zähnchen zusammen und biß ihn dabei. Der Bauer erbleichte und schlug nach dem Kind.

Die Mutter sprang auf, entsetzt – Gesicht an Gesicht mit dem Mann. Stand einen Augenblick, fiel lang hin auf das Kind, das zu Boden lag und schrie. Sie bedeckte es mit ihrem Körper und erstickte mit Küssen seine Tränen.

Taraß ging zurück auf seine Bank und zündete die Pfeife an. Die Greisin hatte kein Wort gesprochen – sie räumte den Eßtisch ab. In die große Stille klangen nur einzelne Schluchzer.

Dann betete die Alte; lange verneigte sie sich vor den Heiligenbildern, bis auch die eintönige Litanei verstummte und das dumpfe Aufschlagen des greisen Kopfes auf dem Lehmboden. Die Alte stieg auf den Ofen. Man hörte das Stroh unter dem Gewicht ihres Körpers knacken, dann blieb es still.

Taraß, ohne einen Blick auf Weib und Kind zu werfen, die immer noch auf dem Boden lagen, stand auf, reckte sich und warf sich schwer auf sein Lager. Die Fichtenspäne, von der Alten bis dahin oft erneuert, erloschen endlich.

Spät, wohl nach einer Stunde, erhob sich Hadjila, wickelte ihren Sohn in ein Wolfsfell und bettete ihn auf eine Bank, legte sich daneben und schlief ein.

Am Morgen war Taraß vor Tagesanbruch ausgegangen. Die Frauen schliefen noch. Um die siebente Stunde streckte Hadjila die Arme aus. Das Kind?

Sie schoß wie eine Natter empor, die Augen blitzten wie zwei Klingen; wild, verzweifelt schrie sie auf, mit schneidender Stimme – ein Tier, das zu Tode verwundet ist. Sie lief, durchsuchte alle Ecken; bückte sich, stieß an die Mauern, tappte an die Tür, riß an den Angeln, den Riegeln; ihr Haar löste sich und überflutete sie. Sie stürzte auf die Straße, bleich. Ein rauhes Winseln heulte aus ihrer Kehle: das Kind, das Kind, das Kind!

Der Tag neigte sich seinem Ende zu. Die Frauen des Dorfes hatten sich versammelt – in Tarassens Hütte und davor. Sie umgaben die Lesgierin.

Die Lesgierin lag ausgestreckt auf dem Rücken – mit weitoffenen Augen, die Arme waren gekreuzt, die Zähne gegen die weißen Lippen gepreßt; sie lag ohne jemand anzusehen – die Brust von stummem Jammer und Zorn erfüllt. Niemand wagte, sie anzureden.

Die Greisin hockte auf einem Schemel. Die grauen Flechten starrten um die Stirn. Die Greisin saß bleich und starr. Sie blickte bang, entsetzt, ratlos auf die Junge.

Man hatte Hadjilas Sohn vom Morgen an gesucht. Das ganze Dorf war auf der Fährte gewesen. Man hatte alles durchstöbert: die Gärten, die Hohlwege, die Gräben, die Teiche. Umsonst.

Währenddessen baggerte und fischte Taraß mit den Nachbarn im Kuban. Die Zeit stand still; das Warten erregte alt und jung. Ein paar Frauen weinten hinter vorgehaltenen Schürzen.

Plötzlich erhob sich fern an den Ufern ein Geschrei. Es näherte sich mit einer Schar von Menschen.

Das sind die Bauern des Dorfes; sie gehen zu einem Haufen gedrängt, man hört ihre Schritte.

Hadjila fährt auf; sie hat die Fäuste an die Gurgel gepreßt, der Mund klafft.

Sie kommen – sie sind da. Legen ihre Bürde auf den Tisch – und lüften den beschmutzten Kittel vom wachsbleichen Gesicht des wiedergefundenen Kindes.

Ohne einen Laut beugt sich Hadjila auf das Kind. Sie betrachtet es, hebt es mit beiden Händen hoch.

Taraß ist unter den Bauern; er nähert sich seinem Weib – doch ehe er ein Wort sagen konnte, hat sie am Hals ihres Sohnes ein Tuch erblickt, ein verwaschenes, zerrissenes Tuch. Es gehört Taraß. Sie will es abreißen. Der Stoff gibt nicht nach. Er ist fest zugeknotet.

Sie richtet einen wütenden Blick auf Taraß – er weicht zurück.

Da öffnet sie die verkrampften Fäuste und läßt den leblosen Körper des Kindes zu Boden fallen.

Springt an die Mauer, reißt eine Sichel vom Nagel – und mit gesenktem Kopf rennt sie ihren Mann an.

Ein einziger Ruck hat ihm die Brust geöffnet, das nackte Herz bloßgelegt.

Er sank lautlos um.


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