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Die Kalkgrube

Der Fürstin Tola Meschtscherski nacherzählt

Graf Padloff war ein Fünfziger von gedrungener Gestalt, sein Kopf war kahl, das Gesicht stark gefärbt, die Hände fett und haarig. Er hatte die peinliche Gewohnheit, geräuschvoll seinen Backenbart zu kämmen, indem er ihn durch die Zähne zog.

Seine Reden drehten sich ohne Unterlaß um Ehrlichkeit und Menschenliebe. Er predigte die Majestät des Arbeiters in Lumpen, die Niedrigkeit des Reichen, der in Luxus und Faulheit erstickt und schamlos den Armen ausbeutet.

Graf Padloff hatte einige Millionen Rente. Das gestand er offen, und in solchen Minuten wirkte er gradezu hinreißend; Tränen leuchteten in seinen Wimpern, wenn er das Elend der Erde beschrieb; als berauschte er sich an Leid und Mitleid.

Er lebte getrennt von Frau und Kindern; seine Zeit widmete er den ungeheuern Besitzungen. Tief im Finstern der Padloffschen Urwälder rauchten die Schmelzwerke und Glashütten, riesige menschliche Bienenkörbe; aus ihnen drang früh und spät furchtbares Geräusch durch die dunkeln Tannen – wie das Stöhnen ewig unbefriedigter Tiere. All die Völker von Arbeitern verdankten ihr Dasein und Wohlsein der Sorge des Grafen, täglichen Opfern, die er ihnen brachte – den Arbeitern, die er liebte ›als seine wahre Familie‹.

Weit abseits von den Bienenkörben stand die italienische Villa, ein großes, schneeweißes Haus mit einer Fahne auf der Kuppel. Die Villa hatte sich der Graf erbaut.

Die größte der Glashütten lag sechzig Werst von der Villa an einem Weiher. Es war ein riesiges Holzgebäude, von Alter und Kohlendunst geschwärzt. Die Häuschen der Arbeiter wimmelten rundum auf der nackten schwarzen Erde. Der Wald war vor den gierigen Öfen zurückgewichen.

Herrscher in dem vergessenen Reich war Dimitri, der Verwalter; er hatte eine ehemalige Kammerfrau Padloffs geheiratet. Sie soll einst hoch in des Grafen Gunst gestanden haben …

Dimitri Babonitsch war ein strenger Herrscher. Unverantwortlich, unfehlbar. Der Graf kam ja oft daher, um mit seinen Luchsaugen das Treiben in Bureaus und Fabriken zu besichtigen – all die interessanten Verbesserungen – Neuerungen, die dem Grafen, nebenbei gesagt, fabelhafte Summen kosteten, ohne ihm den geringsten Nutzen zu bringen. Allein Padloff glaubte, daß seine hoheitvolle Gegenwart allein die Maschinen zu sechzehnstündigem Fleiß aneifere. Einzelheiten sah er nicht und wollte er nicht sehen. Da konnte sich die Zuchtrute Dimitris ausleben.

Langjährige Gewohnheit des Regierens ließ den Verwalter Land und Leute als seine Eroberung betrachten. Und zwischen je zwei Schnapsräuschen dachte Dimitri emsig nach: ob es denn noch eine Frau, ein Mädchen auf Padloffs Gütern gebe, die ihm nicht zu Willen war?

Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht. Die Sklaven wurden müde der ewigen Strafen, sie wollten ihre Frauen nicht mehr Dimitris Launen überlassen sehen, nicht mehr sechzehn Stunden die Öfen heizen in Kellern, worin menschliche Lungen es keine halbe Stunde aushalten, ohne zu verdorren: und zehn oder zwölf Kerle warfen eines regnerischen Oktoberabends angesichts des ganzen Dorfes den Verwalter in die Kalkgrube. Man hörte ein dumpfes Untertauchen, ein Aufwallen. Es dauerte eine Minute, dann glättete sich die gelblich teigige Masse wieder.

Am andern Morgen kam ein Bote von Frau Babonitsch in die italienische Villa und meldete dem Grafen: Dimitri wäre verschwunden; niemand wisse, wie, noch wohin.

Der Graf hörte die Kunde zuerst mit ungläubigem Staunen an. Dann durchlief er fieberhaft erregt die langen Säle, Er hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt, und die Wangen blähten sich unter dem gesträubten Bart. Von Stunde zu Stunde schickte er fragen: ob Dimitri denn immer noch nicht erschienen sei?

Endlich hielt er es nicht mehr aus – er fuhr ins Hüttenwerk. Sein Gesicht war entstellt vor Wut über seine Ohnmacht. Und sein Herrengefühl gab ihm die Gewißheit, das Werkzeug der göttlichen Gerechtigkeit zu sein.

Der Donsche Viererzug kam angaloppiert. Die Pferde, ermattet und schaumbedeckt, blieben auf Anruf des bärtigen Kutschers wie vom Blitz getroffen stehen. Langsam stieg der Graf aus dem Wagen, durchschritt die Palisadenpforte des Hofes und trat in ein Häuschen, daß sich spitzgieblig in die herbstlichgelben Birken drückte.

Eine Tasse Tee mit Rum dampfte auf dem Tisch. Der Graf nahm sich keine Zeit, sie zu trinken. Er verlangte nach den Desjätski und Sotski, Aufsehern von zehn und hundert Mann.

Sie sammelten sich gruppenweis im Hof, mit den Fellmützen in den Pranken; ließen sich zwischen den Disteln und Nesseln langsam auf die Knie nieder, setzten sich auf die Fersen und warteten.

Der Graf erschien auf dem Treppenabsatz. Er war ein wenig bleich, hatte den Überzieher aufgeknöpft und donnerte: »Ihr Hunde! Was habt ihr mit Dimitri getan?«

Die Männer schwiegen; sie blickten mit abbittenden Augen auf den Herrn. Einige zuckten krampfhaft ihre Achseln.

»Hunde und Hundesöhne! Wenn ihr mir nicht auf der Stelle die Mörder Dimitris ausliefert, werde ich euch mit der Knute befragen.«

Einer der Sotski stach durch sein aufgewecktes Gesicht gegen seine Genossen ab. Er sagte schlau, fast freundlich: »Euer Gnaden, wenn wir die Wahrheit wüßten, könnten wir sie dir verschweigen? Du liest ja wie Gott in unsern Herzen. Überleg ein wenig, Väterchen: wer von uns könnte denn wagen, die Hand gegen Dimitri Babonitsch zu erheben? Deinen treuen Diener, unsern großmütigen Fürsprecher bei deiner Barmherzigkeit?«

»Zum letztenmal: was ist aus ihm geworden? Sprecht! Werdet ihr antworten – ja oder nein? Ihr wißt, ich pflege nicht zu scherzen.« Der Graf war brennrot geworden. Seine Stimme schnappte über.

Die Knienden riefen durcheinander: »Gnade, Herr! Tu mit uns, was du willst. Wir sind deine Leibeigenen, lebendig oder tot.«

Padloff raste vor Grimm. Beamte mischten sich in das Verhör: ein pensionierter Offizier mit einem Ordensband um den Kragen und ein Kassierer von gespenstischer Magerkeit. Die Aufseher schwiegen hartnäckig, oder sie antworteten mit albernen Ausreden.

Da brachte man sie in den Pferdestall. Zwei Tage klatschten die Knuten und die Ruten. Das Geschrei lohte zum Himmel, erstarb in Kehltönen. Fünf, sechs Leute fielen hin, um sich nie wieder zu erheben.

Die Dörfer in der Nachbarschaft verfolgten fieberhaft den Zweikampf zwischen der Knute des Herrn und bäuerlichem Trotz. Padloff schäumte. Er beschloß, seinen Untertanen ein Beispiel zu geben. Tief in die zweite Nacht zog sich eine Unterredung des Grafen hin mit seinem Stabschef, mit den Verwaltern der Werke, den Hüttenmeistern, Kassierern und einem Priester, dessen abgezehrtes Gesicht, dessen niedrig-demütige Gebärden zeugten für hundertjährige, vom Vater auf den Sohn vererbte Dienstbarkeit.

Die Morgensonne ging langsam auf in eisigen Nebelschwaden. Die schwarze, reiche Erde, jüngst entwaldet, nie vom Pflug gerissen, wandelte sich in zähen Brei.

Auf dem Platz vor der Kirche drängte sich das Volk. Dahinter im Knäuel tausend Wagen, bespannt mit kleinen dickbäuchigen Stuten. Hausrat und Werkzeug, alte zerbrochene Betten, Lumpen in Bündeln, glänzende Sensen; Pflüge mit umgekehrter Pflugschar, Kochgeschirr türmten sich auf den Wagen in kläglichem Durcheinander. Die Sotski mit ihren langen Stäben hielten die stumme Herde zusammen. Da und dort schrie ein Brustkind auf, ein Greis ächzte, ein Füllen wieherte grell.

Plötzlich tauchte der Graf auf. Er ritt einen Schimmelhengst, und das stolze Tier schien den dicken Bändiger mit Verachtung zu tragen. Padloff hatte die Mütze tief ins Gesicht gedrückt, seine Augen blickten unsicher.

Die Leute knieten nieder wie ein Mann. Der Graf durchritt schweigend langsam die geduckte Menge und hielt vor den ausgetretenen Stufen des Kirchenportals.

Es öffnete sich weit, der kleine Priester mit dem dünnen weißen Bart trat hervor; in schwarzem Ornat, wie zum Begräbnis. Und die Totenglocke bimmelte.

Der Priester erhob das Kreuz, der Graf nahm die Mütze ab, Diakon und Kantor stimmten die Trauerlitaneien an. Die Litaneien wechselten mit Regenschauern und dem Stöhnen einer Menge, die dalag wie ein Roggenfeld nach dem Hagel. Der Diakon sang in tiefem Baß die Responsorien, – die Gehilfen psalmodierten das Dies irae; der Graf und sein Gefolge bekreuzigten sich.

Da wallte von den Arbeiterhütten ein zarter Rauch auf und füllte die Luft. Er wurde schärfer, beizender. Die Herde erhob die Köpfe und blickte sich um. Der Regen hatte sich verdoppelt und schlug die Rauchwolken nieder. Von beiden Dorfenden, rechts und links des Weihers ein Leuchten – Flammen krochen hin und leckten bald hoch auf: das Dorf brannte; die spitzen Dächer mit den Storchnestern, die Nischen der Türen, die Fenster starrten in höllischem Schmuck.

Ein einziger, ungeheurer Schrei ging durch die entsetzten Sklaven. Sie sprangen empor, sie rissen einander nieder – sie stürzten sich auf den Hengst. Er blickte sanft aus seinen großen Augen, nur ein Zittern lief über seinen nervösen Hals unter dem Andrang der Verzweifelten.

Die Feuersbrunst wuchs. Die Glocke bimmelte atemlos. Siedehitze. Die Dächer krachten und barsten. Der Priester hob das Kreuz, rot vom Blut des Brandes, und murmelte erregt den letzten Segen.

Da schwieg die Glocke. Der Graf aber brüllte auf und richtete die Augen gradeaus: »In die Verbannung! In die Steppe! Geht verfaulen und düngen mit euern Leichen die unfruchtbaren Länder am Dnjepr! Damit ihr euch durch Reue und Strafe das Paradies erkauft!«

»So sei es!« kreischte der Pope.

Der Graf wandte sein Pferd und trabte von dannen. Sein Gesicht hatte wieder Farbe bekommen; ein Mensch, der eine unangenehme Aufgabe vollendet hat. Der Hengst trug auf seinem langen Schweif den Widerschein des Feuers davon in den Dampf und Nebel.

Die Bauern machten sich auf den Weg – in Haufen, im Trott gebeugt, angetrieben von den Sotski und ihren langen Stäben. Ihre Schuhe aus Birkenrinde blieben in der schwarzen, durchweichten Erde stecken. Die Bauern hielten immer wieder und sahen sich immer wieder um: ob denn all der Schrecken Wahrheit war oder ein wüster Traum? Sie fielen hin, und es war, als wollten sie den Heimatboden zum letztenmal umarmen. Doch immer wurden sie von den Aufsehern vorwärtsgeschoben, und so begann die düstre Wallfahrt nach den verlorenen Ländern.

An der Kreuzung der Poststraßen, da standen die hohen, gelben Pappeln wie riesige Kerzen. Die Bauern wandten sich südwärts. Vor ihnen lagen neunhundert Werst Urwald, wüste Ebenen und der russische Oktober.

Keiner hat ihn überlebt. Es starben zuerst die Kinder, die Schwangern und die Greise. Bis, in Fetzen gehüllt, von verdorbenem Brot und Sauerkohl vergiftet, auch die Männer im Morast erstickten.


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