Silvio Pellico
Meine Gefängnisse
Silvio Pellico

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96.

Der Kommissar führte mich auf die Polizei, um mich dem Direktor vorzustellen. Was empfand ich, als ich dies Haus, welches mein erstes Gefängnis gewesen,, wiedersah! Wie viele Leiden traten mir wieder vor die Seele! Ach, an dich, Melchiorre Gioja, dachte ich voll Zärtlichkeit, an die hastigen Schritte, welche ich dich zwischen diesen engen Mauern auf und ab tun sah, an die Stunden, wo du am Tische unbeweglich sitzend, deine edlen Gedanken niederschriebst, an die Zeichen, die du mir mit deinem Tuche machtest, und an das traurige Gesicht, mit dem du zu mir herüberblicktest, als man dir verboten, mir Zeichen zu geben! Meine Phantasie führte mich an dein Grab, das vielleicht die Mehrzahl derjenigen, die dich liebten, nicht kennt, sowie es mir unbekannt ist! – und ich flehte um Frieden für deine Seele!

Auch des Stummen gedachte ich, der rührenden Stimme Magdalenens, meines im Herzen tief empfundenen Mitleids mit ihr, meiner Nachbarn, der Straßenräuber, des angeblichen Ludwig XVII., des armen Sträflings, der sich mit dem Zettel ertappen ließ und dessen Geheul ich unter den Stockschlägen zu vernehmen geglaubt.

Alle diese und andere Erinnerungen drückten mich wie ein angstvoller Traum danieder, mehr aber noch ward ich durch das Andenken an jene zwei Besuche, die mir mein Vater vor zehn Jahren dort gemacht hatte, niedergedrückt. Wie täuschte sich der gute Vater, indem er hoffte, daß ich bald wieder bei ihm in Turin sein würde! Hätte er den Gedanken an eine zehnjährige Haft für einen Sohn ertragen können und an eine solche Haft? Aber als seine Täuschungen vorüber waren, sollte er, sollte die Mutter da so viel Kraft besessen haben, so herzzerreißendes Wehe zu ertragen? War es mir noch vergönnt, beide wiederzusehen? oder vielleicht bloß einen von beiden? und wen?

O qualvoller, immer neu entstehender Zweifel! Ich stand sozusagen an der Haustür, ohne zu wissen, ob die Eltern noch am Leben waren, ob nur einer von meiner Familie noch lebte.

Der Polizeidirektor empfing mich sehr artig und erlaubte, daß ich mit dem kaiserlichen Kommissar im Gasthause »zum schönen Venedig« bleiben konnte, statt mich anderswo bewachen zu lassen. Aber nicht ward mir gestattet, mich irgendwem zu zeigen, und deshalb entschloß ich mich, den folgenden Morgen abzureisen. Allein dazu erhielt ich Erlaubnis, dem piemontesischen Konsul einen Besuch zu machen, um mich nach meiner Familie zu erkundigen. Ich würde auch zu ihm gegangen sein, aber von neuem befiel mich das Fieber, so war ich genötigt, mich zu Bett zu legen, und ließ ihn bitten zu mir zu kommen.

Er bewies mir die Freundlichkeit, nicht auf sich warten zu lassen, ach, wie dankbar war ich ihm dafür!

Über meinen Vater und meinen älteren Bruder gab er mir gute Nachrichten. Hinsichtlich der Mutter, des anderen Bruders und der beiden Schwestern blieb ich in grausamer Ungewißheit.

Zum Teil, aber nicht völlig getröstet, hätte ich, um mein Herz zu erleichtern, mich so gern länger mit dem Herrn Konsul unterhalten. Er bewies mir eine außerordentliche Höflichkeit, aber endlich mußte er mich doch verlassen. – Als ich wieder allein war, fühlte ich wohl das Bedürfnis zu weinen, aber die Tränen versagten mir. Warum zwingt mich der Schmerz, manchmal in Tränen auszubrechen, und andere Male wieder oder vielmehr sehr oft, wenn mir das Weinen eine so wohltuende Erquickung wäre, sehne ich mich vergebens danach? Die Unmöglichkeit, meine Betrübnis durch dies Mittel zu lindern, steigerte mein Fieber: ich hatte heftige Kopfschmerzen.

Ich bat Stundberger mir zu trinken zu geben. Dieser wackre Mann war ein Polizeisergeant aus Wien, zu Dienstleistungen für den Kommissar befohlen. Er war noch nicht alt, aber der Zufall wollte, daß seine Hand zitterte, als er mir das Wasser reichte. Dies Zittern erinnerte mich an Schiller, an meinen lieben Schiller, da ich am ersten Tage meiner Ankunft auf dem Spielberge mit gebieterischem Hochmute von ihm den Wasserkrug verlangte und er ihn mir holte.

Seltsam! Diese Erinnerung, im Verein mit den anderen, zerbrach den Stein, der mein Herz umschlossen hielt, und die Tränen quollen hervor.


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