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Die Kasseler Generalversammlung [I]

Als vor einigen Wochen die Einladungen zu einer außerordentlichen Mitgliederversammlung der Deutschen Friedensgesellschaft hinausgingen, mochten viele unserer Freunde im Zweifel gewesen sein, ob der Zeitpunkt für eine solche Veranstaltung günstig gewählt war. Die Verkehrsverhältnisse hatten sich im Laufe der Zeit immer mehr verschlechtert, auch war die Frage, ob in unseren Kreisen nach den großen Spannungen des Berliner Kongresses nicht eine gewisse Abflauung eingetreten war. Der Verlauf der Kasseler Tagung hat die Zweifel zunichte gemacht. Der Besuch war durchaus zufriedenstellend (39 Ortsgruppen vertreten durch 67 Stimmen), und die Lebhaftigkeit der Debatten bewies, daß nirgends der Eifer für unsere Sache nachgelassen hatte und der frische Geist des Berliner Kongresses in allen Teilnehmern lebendig geblieben war. Wärmster Dank für Zustandekommen und Durchführung der Veranstaltung gebührt unsern Kasseler Freunden, die nicht nur mit der Sorgsamkeit guter Gastgeber um die Unterbringung der Delegierten sich bemüht haben, sondern darüber hinaus bestrebt waren, die wenigen Stunden, die zwischen den Verhandlungen lagen, zu wirklichen Feierstunden zu machen.

Die Aufgaben des Kasseler Kongresses waren in erster Linie organisatorische. Weitere politische Ausblicke durfte nur der Bericht der Vertreter zum Berner Bureau geben. Durch die Verschmelzung mit der Zentralstelle Völkerrecht hat der Pazifismus in Deutschland eine breitere Front erhalten. Das Programm mußte nach den Erfahrungen der letzten Jahre, wenn auch nicht prinzipiell umgestaltet, so doch erweitert, vervollkommnet werden. Ebenso war das alte Satzungskleid zu eng geworden. Die Kasseler Generalversammlung hat an drei arbeitsreichen Tagen diese Aufgaben technisch gelöst. Inwieweit die geistige Bezwingung gelungen ist, wird die Zukunft erweisen.

Am Freitag, dem 24. Oktober, nachmittags 4 Uhr, eröffnete der geschäftsführende Vorsitzende Prof. Dr. Quidde mit kurzen Begrüßungsworten die außerordentliche Mitgliederversammlung, die im Evangelischen Vereinshaus stattfand. Zu Vorsitzenden wurden gewählt: Prof. Quidde, H. v. Gerlach und Oberlehrer Fricke (Kassel), zu Schriftführern Frl. Höhmann (Kassel), v. Ossietzky (Berlin), Röttcher (Stuttgart) und Schwann-Schneider (Berlin). Einleitend erstattete v. Ossietzky einen kurzen Bericht über die gegenwärtige Geschäftslage. Er wies auf die verschiedenen Aktionen der Gesellschaft hin, daß unter der allgemeinen politischen Stagnation in den vergangenen Monaten auch unsere Agitation gelitten hätte. Im Anschluß an den Geschäftsbericht forderte Herr Röttcher in warmen Worten auf, der alten Buchhandlung der Deutschen Friedensgesellschaft auch unter dem neuen Namen Friede durch Recht G.m.b.H. treu zu bleiben.

Über den neuen Satzungsentwurf referierte Herr Prof. Quidde. Er legte dar, inwieweit sich dieser neue Entwurf von dem früheren unterscheide, und daß diejenigen Dinge, die seinerzeit den meisten Widerspruch ausgelöst hatten, nunmehr umgestaltet seien. Ganz besonders sei die Beitragspflicht neu geregelt und die Finanzkommission ihres »plutokratischen Charakters« entkleidet worden; neu sei die Kontrollkommission, welchen Namen Referent allerdings durch einen besser ansprechenden ersetzt wünschte. Nach langer Beratung, die sich auch über den Vormittag des zweiten Verhandlungstages erstreckte, wurden die Satzungen nach einer Reihe von Abänderungen schließlich einstimmig angenommen. Eine fast einstündige Debatte brachte der § 20 mit sich. Der Entwurf sieht ein dreiköpfiges Präsidium vor. Demgegenüber wurde von verschiedenen Seiten ein Präsident gewünscht. Die Versammlung entschied mit 44 gegen 24 Stimmen für ein Präsidium. Die Frage der Beitragsleistung wurde in folgender Weise geregelt: Der jährliche Beitrag wird der Selbsteinschätzung der Mitglieder überlassen, doch beträgt der Mindestbeitrag für persönliche, der Hauptgeschäftsstelle unmittelbar angeschlossene Mitglieder 5 M, für körperschaftliche Mitglieder 10 M. Den Ortsgruppen steht es frei, für ihre Mitglieder einen Mindestbeitrag festzusetzen. In besonderen Fällen kann die Geschäftsleitung bzw. der Vorstand einer Ortsgruppe den Beitrag für einzelne Mitglieder ermäßigen. (§ 8.) Über die Abführung der Beiträge an die Hauptgeschäftsstelle besagt § 10: »Die Beiträge der Ortsgruppen-Mitglieder sind an die Ortsgruppe zu zahlen, wenn nicht die Geschäftsleitung mit dem Vorstand der Ortsgruppe etwas anderes vereinbart. Von den Jahresbeiträgen der Ortsgruppen-Mitglieder erhält die Hauptgeschäftsstelle, solange nicht die Hauptversammlung eine andere Verteilung beschließt, je 2 M und ein Viertel des darüber hinausgehenden Betrages. Dafür hat sie der Ortsgruppe die Vereinszeitschrift zu liefern.« – Durch diese elastische Fassung des Paragraphen dürfte den Wünschen der Ortsgruppen Rechnung getragen sein. Es wurde ferner beschlossen, das Vereinsorgan, den »Völkerfrieden«, vom 1. Januar an durch ein Mitteilungsblatt zu ersetzen. Dieser Entschluß wird manches berechtigte Bedauern hervorrufen, doch wurde allseitig betont, daß infolge der größeren Möglichkeit, heute sowohl in der Tagespresse als auch in Zeitschriften pazifistische Artikel unterzubringen, das Bedürfnis nach einem Vereinsorgan nicht mehr in gleichem Maße bestehe wie früher. Auch sei mit der Übersiedlung der »Friedenswarte«, dieser vornehmsten Tribüne des wissenschaftlichen Pazifismus, nach Deutschland zu rechnen. Zu erwähnen wäre noch, daß der Name »Kontrollkommission«, welcher nicht ganz den Funktionen dieser Körperschaft entspricht, durch den passenden »Schlichtungsausschuß« ersetzt wurde.

Am Freitag abend fand im Großen Saale des Evangelischen Vereinshauses unter dem Vorsitz von Herrn Pfarrer Dr. Preger, dem ersten Vorsitzenden unserer Kasseler Ortsgruppe, eine stark besuchte öffentliche Versammlung statt. Neben Herrn Dr. Alfred H. Fried, der zum erstenmal seit dem Kriege wieder zu deutschen Hörern sprach, nahmen das Wort Herr Prof. Nicolai (Pazifismus und Naturwissenschaft), Redakteur Häring, Kassel (Pazifismus und Arbeiterschaft) und als letzter Herr Prof. Quidde, der einen zündenden Appell an die Anwesenden richtete, für die Sache des Pazifismus zu werben.

Die Programm-Debatte beanspruchte den ganzen Sonnabend nachmittag und einen Teil des Sonntags. Nach manchen prinzipiellen Auseinandersetzungen, die zum Teil nicht der Schärfe entbehrten, wurde das Programm einstimmig angenommen. Nach dem Entwurf des Vorstandes ist das Programm in der Weise gegliedert, daß einem einleitenden Teil von manifestartigem Charakter eine Reihe von Einzelforderungen folgt. Den allgemeinen Teil begründete Herr Prof. Nicolai in wirkungsvoller Rede, scharf das Gesinnungsmoment hervorhebend, während der Korreferent v. Ossietzky in Kürze auf die einzelnen Programmsätze einging. Ein Antrag aus der Versammlung ersuchte die Geschäftsleitung um Drucklegung der Nicolaischen Programmrede, um diese weitesten Kreisen zugänglich zu machen. Die Versammlung kam schließlich zu dem Entschluß, die beiden Teile des Programms zu trennen; der Geschäftsleitung wurde die endgültige Redaktion übertragen. Eine solche ist auch durch etliche Änderungen (Streichungen resp. Zusätze) notwendig geworden. Das Programm wird also künftig aus zwei Teilen bestehen. Den eigentlichen programmatischen Sätzen wird ein Aufruf vorangehen, der die ethischen Grundlagen unserer Bewegung darlegt und zur Mitarbeit auffordert.

Über die einzelnen Punkte des Programms entspannen sich zum Teil recht lebhafte Debatten. Der Entwurf des Vorstandes erfuhr zum Teil recht wertvolle Ergänzungen. Namentlich nimmt in der nunmehrigen Fassung das Erziehungsproblem einen breiten Raum ein. Eine leidenschaftliche Auseinandersetzung rief die Frage hervor, ob man sich auf die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht programmatisch festzulegen habe. Ein Teil der Delegierten glaubte das mit Rücksicht auf die natürlichen Bedenken, die sich gegen jedes Söldnerheer erheben, und besonders unter Bezugnahme auf gewisse unliebsame deutsche Erscheinungen nicht tun zu können. Die Mehrheit des Kongresses entschied sich, die Forderung auf allgemeine Abschaffung der Wehrpflicht ins Programm aufzunehmen. Zu längerer Aussprache führte auch der Antrag Quidde, das Programm in die Sätze ausmünden zu lassen:

»Sie (die Deutsche Friedensgesellschaft) wird auf der Grundlage dieses Programms und in Übereinstimmung mit den Pazifisten aller Länder auf friedlichem Wege im Rahmen des Völkerbundes eine Revision des Versailler Friedens herbeizuführen suchen.«

Dieser Antrag wurde abgelehnt. Angenommen wurde dagegen mit großer Mehrheit folgende Resolution Ossietzky, mit der Maßgabe, sie in engstem Anschluß an das Programm zu veröffentlichen:

»Die Deutsche Friedensgesellschaft weiß sich in der Verurteilung wesentlicher Bestandteile der Friedensschlüsse von 1919 eins mit den Pazifisten aller Länder. Eine Revision scheint ihr nicht mit leeren Protesten zu erreichen zu sein, sondern nur im Rahmen des Völkerbundes und in engster Zusammenarbeit mit den ausländischen Gesinnungsfreunden. Sie hält es für ihre Pflicht, über das Wesen des Völkerbundes aufzuklären und dafür zu kämpfen, daß die alte Politik der Hinterhältigkeit durch eine solche der Aufrichtigkeit ersetzt werde. Die Deutsche Friedensgesellschaft ist sich bewußt, daß nichts besser geeignet ist, das Ansehen Deutschlands wieder zu heben als ein unzweideutiger Sieg des pazifistischen Geistes. Sie fordert jeden, dem es ernst ist um die Erneuerung Deutschlands und ein gesundes internationales Leben auf der Grundlage der Völkergemeinschaft, zur Mitarbeit in ihren Reihen auf.«

(Schluß folgt in der Dezember-Nummer.)

Völker-Friede. November 1919


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