Guy de Maupassant
Stark wie der Tod
Guy de Maupassant

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II

Die Gräfin und ihre Tochter hatten sich, ganz in schwarzen Krepp gekleidet, eben im großen Eßsaal von Roncières einander gegenübergesetzt, um zu frühstücken. Primitiv gemalte Ahnenbilder, einer im Küraß, ein anderer im Leibrock, der erste gepudert in der Uniform der französischen Garde, der andere als Oberst aus der Zeit der Revolution, hingen an der Wand, die einstigen Guillerons darstellend, in alten Rahmen mit verblichener Vergoldung. Zwei Diener servierten lautlos den beiden schweigenden Damen, und die Fliegen bildeten um den Krnstallkronleuchter, der über dem Tisch hing, eine kleine schwarze Wolke von summenden, wirbelnden Pünktchen.

– Machen Sie die Fenster auf, es ist etwas kühl hier, sagte die Gräfin.

Beide Flügel der drei hohen Fenster, die vom Parkett bis zur Decke hinaufgingen, wurden geöffnet. Ein Hauch von lauer Luft, der den Duft von frischem Gras mit sich trug und fernes Geräusch vom Lande, mischte sich mit der etwas stickig-feuchten Atmosphäre des tief in den dicken Mauern des Schlosses eingesenkten Raumes.

– Ah, das thut gut, sagte Annchen und atmete die Luft in vollen Zügen ein.

Beide Frauen blickten hinaus, wo unter dem hellblauen Himmel, nur ein wenig verschleiert durch den mittäglichen Dunst, der aus der sonnbestrahlten Erde steigt, die weiten grünen Rasenflächen des Parkes lagen, mit Baumgruppen hier und da, und weiten Blicken in die gelbe Landschaft hinaus, auf der bis an den fernen Horizont goldene Saaten glänzten.

– Nach dem Frühstück wollen wir einen langen Spaziergang machen, sagte die Gräfin. Wir können zu Fuß bis Berville gehen am Fluß hin, auf freiem Felde ist es zu heiß.

– Ja Mama, und wir wollen Julio mitnehmen, um Rebhühner aufzuspüren.

– Du weißt, daß Papa das verboten hat.

– Aber Papa ist ja in Paris. Es ist so hübsch, wenn Julio sucht. Sieh mal, wie er dort die Kühe anbellt. Nein, ist das komisch.

Sie schob den Stuhl zurück, stand auf und lief an ein Fenster und rief hinaus: – Such, Julio, such, such!

Auf der Rasenfläche lagen drei schwere Kühe, ihr Futter wiederkäuend, ermattet von der Hitze. Ihr Bauch wurde durch den Druck auf den Boden seitlich hinausgetrieben. Bellend sprang, von einer zur anderen in verrückten Sätzen, spaßig wütend, ein schlanker weißer rotgefleckter Jagdhund, dessen Behänge bei jedem Sprung in der Luft flogen, und bemühte sich, die drei großen Tiere zum Aufstehen zu bringen, was sie nicht wollten. Das war des Hundes Lieblingsspiel, das immer wieder anhob, sobald er Kühe liegen sah. Sie blickten ihn nicht erschrocken aber unzufrieden mit ihren großen nassen Augen an, indem sie den Kopf nach ihm wendeten.

Annchen rief vom Fenster aus: – Leid's nicht Julio, leid's nicht!

Und der Jagdhund wurde lebhafter, kühner, bellte lauter und näherte sich dem Hinterteil der einen, als wollte er sie beißen. Jetzt wurden sie unruhig, und das nervöse Zucken der Haut, um die Fliegen zu vertreiben, wurde häufiger und dauerte länger.

Plötzlich schoß der Hund auf die eine Kuh los, war zu stark im Schwung, konnte nicht mehr anhalten, und um nicht an das Tier zu stoßen, sprang er darüber hinweg. Das schwere Tier wurde gestreift, hatte Angst, hob zuerst den Kopf, richtete sich dann langsam auf den vier Beinen auf, laut muhend. Als die beiden anderen die Kuh stehen sahen, erhoben sie sich gleichfalls, und nun sprang Julio im Triumph um sie herum, während Annchen ihn lobte.

– So ist schön, Julio, so ist schön.

– Na, nun komm doch frühstücken, mein Kind, sagte die Gräfin.

Aber das junge Mädchen schützte die Augen mit der Hand und sagte:

– Da, da kommt ein Telegramm.

Auf dem Weg, den man nicht übersehen konnte zwischen den Getreidefeldern, schien eine blaue Bluse über die Oberfläche des Kornes hinzugleiten und kam nun in gleichmäßigem männlichem Schritt zum Schloß.

– Mein Gott, flüsterte die Gräfin, wenn es nur keine schlimme Nachricht ist.

Jene Angst, die der Tod eines geliebten Wesens in uns zurückläßt, zitterte noch in ihr. Ihre Finger bebten, wenn sie ein Telegramm aufriß, und sie war ganz erregt in der Erwartung; aus dem zusammengefalteten Papier mußte ihr wieder ein Unheil entgegenstarren, das ihr von neuem die Thränen in die Augen treiben würde. Annchen dagegen war voll jugendlicher Neugierde und liebte alles Neue, das ihr begegnete.

Die Gräfin aber aß nicht weiter und verfolgte im Geiste den Weg des Mannes, der sich ihnen näherte, der ihr ein paar Worte brachte, ein paar Worte, die sie vielleicht tötlich trafen, wie das Opfer auf der Schlachtbank. Die Unruhe, bis sie wußte, was es sei, benahm ihr den Atem, und sie suchte zu erraten, was die Nachricht wohl bringen könnte. Um was handelte es sich, von wem kam es? Sie dachte an Olivier, – war er etwa krank, vielleicht auch tot.

Die zehn Minuten, die sie noch warten mußte, schienen ihr kein Ende zu nehmen. Als sie dann das Telegramm geöffnet und die Unterschrift ihres Mannes erkannt, las sie:

»Unser Freund Bertin fährt mit dem Einuhrzug nach Roncières. Schicke Wagen Bahnhof. Gruß.«

– Nun, Mama? fragte Annchen.

– Herr Bertin kommt.

– O, das ist famos! Wann?

– Bald.

– Um vier?

– Ja.

– Ach, das ist reizend.

Aber die Gräfin war bleich geworden. Seit einiger Zeit wuchs in ihr eine neue Sorge, und die plötzliche Ankunft des Malers schien ihr eine so peinliche Drohung, wie irgend etwas, das sie hätte befürchten können.

– Hol ihn mit dem Wagen ab, sagte sie zu ihrer Tochter.

– Kommst Du denn nicht mit, Mama?

– Nein. Ich erwarte euch hier.

– Warum denn? Das wird ihm leid thun.

– Ich fühle mich nicht ganz wohl.

– Du wolltest doch eben zu Fuß nach Berville gehen.

– Ja, aber das Frühstück ist mir schlecht bekommen.

– Ach, bis dahin geht's Dir schon wieder gut.

– Nein. Ich werde mich sogar auf mein Zimmer zurückziehen. Laß es mir sagen, sobald ihr da seid.

– Jawohl, Mama.

Die Gräfin gab Befehl, zur bestimmten Zeit den Phaëton anzuspannen und ein Fremdenzimmer herzurichten. Dann ging sie auf ihr Zimmer und schloß sich ein.

Bis dahin hatte sich ihr Leben beinah ohne Kummer abgespielt. Die Liebe zu Olivier war das einzige Ereignis darin und die einzige Sorge, diese sich zu erhalten. Es war ihr gelungen, und bis dahin war sie in dem Kampf stets Siegerin geblieben.

Ihr Herz war, von Erfolg und Schmeicheleien eingewiegt, das anspruchsvolle Herz einer schönen Dame der Gesellschaft geworden, der alles Glück der Erde zufallen muß. Sie hatte ohne Neigung eine glänzende Partie gemacht und dann die Liebe wie die Vervollständigung zu einem glücklichen Dasein angenommen, hatte ein sträfliches Verhältnis angeknüpft hauptsächlich aus Leidenschaft, ein wenig aus heiliger Scheu vor der Empfindung an sich, in der sie ein Gegengewicht gegen die banale Alltäglichkeit ihres Lebens sah. Sie hatte sich eingemauert in dieses Glück, das ihr der Zufall in den Schoß geworfen, nur mit dem einen Wunsch, es gegen die jeden Tag drohenden Überraschungen zu verteidigen. Sie hatte mit der Gelassenheit einer hübschen Frau alles Angenehme, das ihr kam, angenommen, und, wenig abenteuerlustig, wenig gepeinigt von dem Reiz nach Neuem, dem Gelüste nach Unbekanntem, sondern zärtlich, zäh und vorsichtig, mit der Gegenwart zufrieden, aus Instinkt immer um den folgenden Tag besorgt, es verstanden, mit sparsamer Klugheit alles zu genießen, was ihr das Schicksal brachte.

Da hatte sich ganz allmählich, ohne daß sie es sich selbst einzugestehen wagte, in ihre Seele das Bangen geschlichen vor der Erkenntnis, daß die Tage der Rosen vergehen und das Alter naht. Das fraß an ihr ununterbrochen. Aber da sie wohl wußte, daß dieser Niedergang im Leben unaufhaltsam ist und, wenn er einmal begonnen, nicht mehr aufhört, schloß sie die Augen und ließ sich gehen, um in ihren Träumen nicht aufgestört zu werden durch den Schwindel vor dem Abgrund, an dem sie stand, durch die Verzweiflung über ihre eigene Ohnmacht dem gegenüber.

Lächelnd lebte sie also dahin mit einer Art gemachten Ehrgeiz, so lange schön zu bleiben wie möglich, und als Annchen mit der Frische ihrer achtzehn Jahre an ihre Seite trat, war sie, statt durch diese Nachbarschaft zu leiden, im Gegenteil stolz, in dem bewußten Liebreiz ihrer Reife vielleicht vorgezogen zu werden diesem kleinen Mädchen, das erst aufblühte im strahlenden Glanz ihrer jungen Schönheit.

Sie meinte sogar, am Anfang einer glücklichen und ruhigen Zeit zu stehen, als sie der Tod ihrer Mutter aufs tiefste traf. Während der ersten Tage war sie so verzweifelt, daß sie an nichts Anderes dachte, von früh bis abends konnte sie sich davon nicht losreißen. Sie suchte sich tausend Dinge ins Gedächtnis zu rufen, die mit der Toten zusammenhingen. Ein paar liebe Worte, ihr Gesicht wie es früher gewesen, Kleider die sie einst getragen, als ob sie in den Tiefen ihres Gedächtnisses Reliquien gesammelt und in der Vergangenheit, die entschwunden war, alle verschiedenen intimen Erinnerungen aufgespeichert, womit sie ihre grausamen Träume nährte. Wie sie dann in ein solches Verzweiflungsstadium gekommen war, daß sie alle Augenblicke Nervenkrisen und Anfälle hatte, zerfloß das aufgehäufte Leid in Thränen, und Tag und Nacht tropfte es aus ihren Augen.

Als eines Morgens die Jungfer bei ihr eintrat, die Läden öffnete, die Vorhänge zurückzog und fragte: »Wie geht es heute, Frau Gräfin?« antwortete sie von all den Thränen matt und zerschlagen: »Schlecht, wirklich, ich kann nicht mehr.«

Die Jungfer, die das silberne Tablett mit dem Thee trug, blickte ihre Herrin an. Sie war ganz bewegt, sie so blaß in den weißen Kissen zu sehen und sagte im Ton echten Mitgefühls:

– Frau Gräfin sehen wirklich schlecht aus. Frau Gräfin sollten sich schonen.

Der Ton, in dem sie das sagte, traf die Gräfin wie ein Stich, und sobald das Mädchen hinausgegangen war, stand sie auf, um ihr Gesicht im großen Spiegel zu betrachten.

Sie war erschrocken über sich selbst, erschrocken über die eingefallenen Wangen, über die roten Augen, die Verheerungen, die die paar Tage des Kummers angerichtet.

Ihr Gesicht, das sie so genau kannte, das sie so oft in so vielen Spiegeln betrachtet, von dem sie jeden Ausdruck, jeden hübschen Zug, jedes Lächeln kannte, dessen bleiche Farbe sie so oft schon aufgefrischt, dessen müde Linien sie verwischt, dessen leichte Falten in den Augenwinkeln, die bei hellem Licht sichtbar wurden, sie gebannt, erschien ihr plötzlich wie das einer ganz anderen Frau. Ein neues Gesicht, das der Zerstörung anheimfiel, das unrettbar krank war.

Um sich besser zu sehen, um das unerwartete Übel besser festzustellen, näherte sie sich dem Spiegel, so daß sie ihn mit der Stirn fast berührte, und ihr Atem, der auf dem Glas seinen Hauch hinterließ, das fahle Angesicht, das sie betrachtete, beinah unsichtbar machte. Sie mußte ein Taschentuch nehmen, um den angelaufenen Spiegel wieder abzuwischen, und in seltsamer Bewegung untersuchte sie lange und geduldig die Veränderung in ihrem Gesicht. Mit leichtem Finger spannte sie die Haut der Wange, strich sie auf der Stirn glatt, schob die Haare beiseite und öffnete die Lider, um das Weiß des Augapfels zu sehen. Dann öffnete sie die Lippen, betrachtete ihre Zähne, an denen hier und da etwas Gold blitzte, ängstigte sich über das weiße Zahnfleisch und die gelbe Hautfarbe um die Augen und an den Schläfen.

Sie war so vertieft in die Betrachtung ihrer vergehenden Schönheit, daß sie nicht hörte, wie die Thür aufging, und zu Tode erschrak, als ihre Jungfer hinter ihr sprach:

– Frau Gräfin haben noch nicht Thee getrunken.

Die Gräfin wandte sich überrascht, verlegen um, und das Mädchen, das ihre Gedanken erriet, sagte:

– Frau Gräfin haben zu viel geweint. Nichts ist schlechter für die Haut als Thränen, da wird das Blut zu Wasser.

Wie die Gräfin traurig meinte:

»Oder das Alter,« rief das Mädchen:

– Aber, aber, – bei Frau Gräfin doch nicht! Nach ein paar Tagen Ruhe wird das schon vorbei sein. Frau Gräfin müssen nur spazieren gehen und nicht weinen.

Sobald die Gräfin angezogen war, ging sie in den Park. Zum ersten Mal, seit ihre Mutter gestorben, betrat sie den kleinen Obstgarten, wo sie früher so gern die Blumen gepflegt und gepflückt, dann ging sie an den Bach und längs des Wassers spazieren bis zum Frühstück.

Als sie sich ihrem Mann gegenüber an den Tisch setzte, neben ihre Tochter, fragte sie, um ihre Ansicht zu hören:

– Ich fühle mich heute besser, ich glaube, ich bin weniger bleich.

Der Graf antwortete: – O, Du siehst noch recht schlecht aus.

Ihr Herz krampfte sich zusammen, und die Lust zu weinen überkam sie so, daß ihr Thränen in die Augen traten.

Bis zum Abend und auch noch den folgenden Morgen und die nächsten Tage fühlte sie sich alle Augenblicke dem Schluchzen nahe, fühlte, daß Thränen ihr in den Augen standen, sei es, daß sie an ihre Mutter, sei es, daß sie an sich selbst gedacht. Aber damit sie nicht herunterfließen sollten und ihre Wangen netzen, hielt sie sie zurück und durch übermenschliche Willensanstrengung suchte sie ihre Gedanken auf etwas Fernliegendes abzulenken, überwand sich, zwang sich, getröstet zu sein, sich zu zerstreuen, nicht mehr an die traurigen Sachen zu denken, damit ihr Teint wieder gut würde.

Vor allem wollte sie nicht nach Paris zurückkehren und Olivier Bertin wiedersehen, ehe sie nicht ihr früheres Aussehen wiedergewonnen. Sie sah ein, daß sie zu mager geworden, daß das Gesicht von Frauen in ihrem Alter voll sein müsse, um noch gut auszusehen, und nun suchte sie sich durch Spazierengehen auf der Straße und im Walde Appetit zu machen, und obwohl sie müde, doch ohne hungrig zu sein, heimkehrte, zwang sie sich zu essen.

Der Graf, der fort wollte, begriff nicht recht ihre Weigerung mitzukommen. Als er nun sah, daß ihr Wille nicht zu brechen war, erklärte er, er würde allein nach Paris zurückkehren, und stellte es seiner Frau anheim nachzufolgen, wann sie wolle.

Am folgenden Tag bekam sie die Depesche, die Oliviers Ankunft anzeigte.

Sie hatte vor dem Augenblick, wo er sie wiedersähe, solche Angst, daß sie Lust hatte, zu entfliehen. Sie hätte gern noch acht oder vierzehn Tage gewartet. Binnen acht Tagen kann sich das Aussehen, wenn man sich pflegt, ganz verändern, da Frauen, auch wenn sie noch jung und gesund sind, doch manchmal von einem Tag zum andern anders aussehen. Aber der Gedanke daran, im vollen Sonnenlicht, im Freien vor Olivier in der hellen Augustsonne dazustehen, neben dem jungen frischen Annchen, war ihr so unerträglich, daß sie sich entschloß, garnicht an den Bahnhof zu gehen und den Maler im gedämpften Licht des Salons zu erwarten.

Sie war auf ihr Zimmer gegangen und sann nach. Ab und zu kam ein warmer Windhauch durchs Fenster, daß sich die Vorhänge bewegten. Die Grillen zirpten. Sie hatte sich noch nie so traurig gefühlt. Es war nicht mehr der gewaltige Schmerz, der ihr Herz zerbrochen und zerrissen, der sie zu Boden geworfen vor dem leblosen Körper ihrer geliebten alten Mutter. Dieser Schmerz, den sie für unheilbar gehalten, hatte sich in ein paar Tagen so besänftigt, daß es nur noch die Erinnerung war, unter der sie litt. Aber sie fühlte sich jetzt von tiefer Melancholie umfangen, die nie wieder von ihr weichen würde.

Sie hatte Lust zu weinen, eine unwiderstehliche Lust – und wollte doch nicht. Jedesmal, wenn sie fühlte, daß ihr die Lider naß wurden, wischte sie sie schnell ab, stand auf, ging hin und her, sah in den Park hinaus, wo über den großen Bäumen am blauen Himmel die Raben langsam ihre schwarzen Kreise zogen.

Dann ging sie an den Spiegel, betrachtete sich, wischte eine Thränenbahn ab, indem sie mit der Puderquaste vom Augenwinkel herabfuhr, sah nach der Uhr und suchte sich klar zu machen, bis zu welcher Stelle der Straße er wohl jetzt gekommen sein könnte.

Wie alle Frauen, die eingebildete oder wirkliche Seelenschmerzen haben, hing sie sich nun an ihn mit verzweifelter Zärtlichkeit. Bedeutete er für sie nicht alles, alles, mehr als das Leben selbst. Alles, was ein Wesen für uns wird, wenn man einzig nur dies liebt, und sich alt werden fühlt.

Plötzlich hörte sie in der Ferne Peitschenknall, lief ans Fenster und sah den Phaëton, der um den Rasenplatz in flinkem Trab der beiden Pferde bog. Olivier saß neben Annchen und winkte mit dem Taschentuch, als er die Gräfin am Fenster erblickte, und sie antwortete grüßend mit beiden Händen.

Dann ging sie klopfenden Herzens hinab, doch glückselig, jetzt ganz erregt von der Freude, ihn so nahe zu fühlen, ihn sprechen zu können, ihn zu sehen.

Im Vorsaal, vor der Thür des Salons, trafen sie sich. Er öffnete beide Arme mit unwiderstehlicher Bewegung und fragte im Tone wirklicher Leidenschaft:

– O, meine arme Gräfin, darf ich Sie umarmen?

Sie schloß die Augen, bot ihm beide Wangen, preßte sich an ihn, und, während er die Lippen auf ihr ruhen ließ, flüsterte sie ihm ins Ohr: »Ich liebe Dich.«

Dann sah Olivier, ohne die Hand, die er drückte, loszulassen sie an und sagte:

– Aber dies traurige Gesicht!

Sie verlor beinah die Besinnung. Er fuhr fort:

– Ja, ein bißchen bleich, aber das macht nichts.

Sie stammelte, um ihm zu danken:

– Ach, lieber Freund, lieber Freund, – sie fand keine anderen Worte.

Aber er hatte sich umgedreht, suchte Annchen hinter sich, die verschwunden war, und rief dann plötzlich:

– Ein seltsames Gefühl, Ihre Tochter in Trauer zu sehen!

– Warum? – fragte die Gräfin.

Mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit rief er:

– Wieso? Warum? Das ist ja Ihr Bild, das ich gemalt habe, mein Bild, genau so, wie Sie waren, als ich Sie bei der Herzogin damals zum ersten Mal sah. Wissen Sie noch die Thür, durch die Sie unter dem Feuer meiner Blicke hindurch gingen, wie ein Kriegsschiff unter den Kanonen eines Forts durchfährt? Ich sage Ihnen, wie ich vorhin am Bahnhof die Kleine auf dem Bahnsteig stehen sah, ganz in Schwarz, das blonde Haar wie Sonnenschein das Gesicht umrahmend, war ich ordentlich erschrocken, den Thränen nahe. Ich kann Ihnen sagen, das ist zum verrückt werden, wenn man Sie, wie ich, gekannt hat. Ich, der Sie genauer angesehen hat, als irgend einer auf der Welt und der Sie gemalt hat. Gräfin, ich habe wahrhaftig gedacht, Sie hätten sie ganz allein auf die Bahn geschickt, um in mir diesen Eindruck hervorzurufen. Mein Gott, mein Gott, war ich erstaunt! Ich sage Ihnen, das war zum verrückt werden.

Er rief: – Annchen! Annchen!

Die Stimme des jungen Mädchens antwortete von draußen, wo sie den Pferden Zucker gab:

– Hier! Hier!

– Komm doch!

Sie kam herbei.

– Stell Dich einmal neben Deine Mutter.

Sie stellte sich hin, und er verglich sie. Mechanisch, ohne davon überzeugt zu sein, wiederholte er fortwährend: »Ja, es ist fabelhaft, fabelhaft!« – Denn sie sahen sich nun, Seite an Seite, weniger ähnlich, als wie sie Paris verlassen hatten. Das junge Mädchen hatte in dem schwarzen Kleid etwas ganz Neues, Frisches bekommen, während die Mutter längst nicht mehr das glänzende Haar besaß und den Teint, mit dem sie einst den Maler entzückt, als er sie zuerst gesehen.

Dann traten die Gräfin und er in den Salon. Er schien glückselig.

– O, das war eine gute Idee, daß ich gekommen bin. – Er unterbrach sich. – Nein, Ihr Mann hat sie für mich gehabt. Er hat mich abgeschickt, um Sie wieder zu holen, und wissen Sie, was ich Ihnen vorschlage? Nein, Sie wissen es nicht, nicht wahr? Nun, ich schlage Ihnen vor, gerade bei der Hitze hierzubleiben. Paris ist fürchterlich jetzt, – auf dem Lande aber ist es wunderschön, nein, – ist es hier schön!

Mit dem Abend wurde es frisch im Park, aus der Erde stiegen Dünste auf und umschleierten leicht den Horizont. Die drei Kühe standen auf dem Rasen, den Kopf gesenkt, und weideten gierig, und vier Pfauen flogen mit lautem Flügelschlag auf eine Ceder, wo sie gewöhnlich unter den Fenstern des Schlosses die Nacht zubrachten. In der Ferne hörte man Hundegebell, und die stille Abendluft trug menschliche Stimmen herüber. Ein paar Sätze vernahm man vom Felde her, von einem Acker zum anderen gesprochen, und den kurzen gutturalen Ruf, mit dem man das Vieh antreibt.

Der Maler in bloßem Kopf, mit leuchtenden Augen, zog tief die Luft ein, und wie die Gräfin ihn ansah, sagte er: – So ist das Glück.

Sie trat zu ihm.

– Es dauert nie.

– Wir müssen es erfassen, wenn es uns naht.

Sie antwortete lächelnd:

– Bisher liebten Sie das Landleben doch nicht.

– Ich liebe es heute, weil Sie da sind. Ich könnte nirgends leben, wo Sie nicht sind. Wenn man jung ist, kann man auch in der Ferne verliebt sein, durch Briefe, Gedanken, durch reine Begeisterung, vielleicht weil man das Leben vor sich fühlt, vielleicht auch, weil man mehr Leidenschaft hat als Zuneigung. In meinem Alter dagegen ist die Liebe eine süße Schwachheit, der Trost der Seele, die flügellahm sich nicht mehr zu idealen Träumen aufschwingen kann. Und dann fühle ich wohl, daß ich keine Zeit mehr zu verlieren habe, um noch zu genießen, was mir bleibt.

– Alt, oh! – sagte sie und nahm seine Hand.

Er fuhr fort:

– Jawohl, jawohl, ich bin alt, alles beweist es mir. Mein Haar, mein Charakter, der sich geändert hat, die Traurigkeit, die über mich kommt. Teufel! das habe ich bisher nicht gekannt, Traurigkeit! Wenn einer mir gesagt hätte, als ich dreißig Jahr alt war, daß ich eines Tages ohne Grund traurig sein würde, ich hätte es weiß Gott nicht geglaubt. Das ist ein Beweis, daß auch mein Herz alt geworden ist.

Sie antwortete aus voller Überzeugung: – O, mein Herz ist noch ganz jung, das hat sich nicht verändert. Ja, es ist vielleicht jünger geworden. Es war zwanzig und jetzt ist es nur noch sechzehn.

Am offenen Fenster blieben sie so lange stehen, beim Hauch des Abends, eng nebeneinander, enger als sie es je gewesen, in dieser Stunde der Zärtlichkeit, in Dämmerung gehüllt, wie der Tag, der zur Rüste ging.

Der Diener trat ein und meldete:

– Es ist angerichtet.

Sie fragte: – Haben Sie es meiner Tochter gesagt?

– Die Komteß ist schon im Eßzimmer.

Sie setzten sich alle drei zu Tisch. Die Läden waren geschlossen, zwei große Armleuchter mit je sechs Lichtern bestrahlten Annchens Gesicht, daß ihr Haar wie Gold glänzte. Bertin lächelte und blickte sie immerfort an.

– Nein, ist sie hübsch in Schwarz, – sagte er.

Und er wendete sich zur Gräfin, das junge Mädchen bewundernd, als danke er der Mutter für den Anblick, den sie ihm verschafft.

Als sie wieder im Salon waren, war der Mond über den Bäumen des Parkes aufgegangen. Ihre dunkle Masse sah aus, wie eine große Insel, und das Feld dahinter glich einem Meer, das unter den Dunstschleiern, die über die Flächen wogten, verborgen lag.

– Oh, Mama, wir wollen spazieren gehen, – sagte Annchen.

Die Gräfin war einverstanden.

– Ich nehme Julio mit.

– Ja, wenn Du willst.

Sie gingen. Das junge Mädchen sprang voraus und spielte mit dem Hund. Als sie am Rasen vorüberkamen, hörten sie von weitem die Kühe schnauben, die erwacht waren, weil sie ihren Feind witterten und nun den Kopf hoben und ihm nachblickten. Weiter drüben unter den Bäumen warf der Mond durch die Zweige einen feinen Strahlenregen auf die Erde hernieder über die Blätter und auf den Weg, wo er sich in kleinen gelben Lichtflecken abzeichnete. Annchen und Julio liefen dahin, sie schienen in dieser klaren Nacht lustig zu sein und hüpften umher.

In den Lichtungen, auf die das Mondlicht wie auf eine Wasserfläche fiel, erschien das junge Mädchen wie ein Gespenst, und der Maler rief sie zurück, ganz betroffen von dieser schwarzen Erscheinung, deren helles Antlitz leuchtete. Wenn sie dann wieder fortgelaufen war, drückte er der Gräfin die Hand und, sobald sie tiefer in den Schatten traten, küßte er sie, als ob jedes Mal Annchens Anblick die Glut seines Herzens neu entfacht hätte.

Endlich kamen sie an den Rand der Ebene, wo sich in der Ferne hier und da die Baumgruppen und die Pachthöfe abzeichneten. Weit dehnte sich der Horizont aus durch das milchige Licht, das über die Felder gegossen war. Es war still. Hoch am Himmel standen ein paar kleine schmale Wolken wie aus Silber gearbeitet. Wenn man ein paar Augenblicke unbeweglich stand, hörte man in diesem nächtlichen Schweigen ein unbestimmtes, fortwährendes Rauschen des Lebens, tausend feine Töne, deren leiser Zusammenklang einem zuerst wie vollkommene Stille erschien.

In einer benachbarten Wiese klang der Doppelschlag einer Wachtel. Julio spitzte die Ohren und stürmte dem Vogelschrei nach davon. Annchen folgte ihm, leichtfüßig wie er, vornübergebeugt mit angehaltenem Atem.

– Ach, – sagte die Gräfin, die mit dem Maler allein geblieben war, – warum gehen Momente, wie dieser, so schnell vorbei? Nichts kann man festhalten, nichts fesseln! Man hat nicht einmal Zeit, auszukosten was schön ist, schon ist es zu Ende.

Olivier küßte ihre Hand und sagte lächelnd:

– Ich bin heute abend nicht philosophisch aufgelegt, ich genieße die Stunde.

Sie flüsterte: – Sie lieben mich nicht so, wie ich Sie.

– O, das wollen wir doch sehen.

Sie unterbrach ihn:

– Nein. Sie lieben in mir, wie Sie es vor Tisch sehr gut ausgedrückt haben, eine Frau, die alles erfüllt, was Ihr Herz braucht, eine Frau, die Ihnen nie ein Leid zugefügt und Ihnen vielleicht ein bißchen Glück gegeben hat. Das weiß ich, das fühle ich. Ja, ich habe das Bewußtsein, ich bin glückselig darüber, daß ich Ihnen gut, nützlich und hilfreich gewesen bin. Sie haben alles, was Sie an mir Angenehmes finden, geliebt und lieben es noch. Meine Aufmerksamkeiten für Sie, meine Bewunderung, mein Wunsch Ihnen zu gefallen, meine Leidenschaft, und daß ich Ihnen das Tiefste meiner Seele geschenkt habe. Aber mich lieben Sie nicht. Verstehen Sie? Ach, das fühle ich, wie man einen kalten Luftzug spürt. Sie lieben in mir tausend Dinge. Meine Schönheit, die von mir geht, meine Ergebenheit, den Geist, den man mir nachsagt, alles, was man in der Gesellschaft von mir denkt, was ich von Ihnen denke. Aber nicht mich, mich, nichts als mein »Ich«. Verstehen Sie?

Er lächelte freundschaftlich:

– Nein, das verstehe ich nicht recht. Sie machen mir Vorwürfe, auf die ich gar nicht gefaßt war.

Sie rief: – Ach mein Gott, ich möchte Ihnen ja nur klar machen, wie ich Sie liebe. Ich suche es und finde es nicht. Wenn ich an Sie denke, und ich denke immer an Sie, fühle ich bis in die Tiefe meines Herzens, meiner Seele den Wunsch, Ihnen zu gehören, ein unwiderstehliches Bedürfnis, Ihnen noch mehr zu geben von mir. Ich möchte mich Ihnen ganz opfern, denn wenn man liebt, giebt es nichts Schöneres als zu schenken, immer wieder zu schenken, alles zu verschenken, sein Leben, sein Denken, seinen Leib, was man hat, und zu empfinden, daß man giebt, und alles zu wagen, um noch mehr zu geben. Ich liebe Sie so, daß ich durch Sie leiden möchte, daß ich die Qualen der Eifersucht, all den Kummer gern leide, den ich empfinde, wenn ich fühle, daß Sie nicht mehr zärtlich gegen mich sind. Ich liebe in Ihnen ein Wesen, das nur ich entdeckt habe, nicht Ihr »Ich«, das der Welt gehört, das man bewundert, das man kennt, – nein, ein Wesen, das mir gehört, das sich nicht mehr ändern kann, das nicht altern kann, das ich immer lieben muß, denn meine Augen sehn nur dieses Wesen. Aber das kann man nicht ausdrücken, dafür giebt es keine Worte.

Er sagte ein paar Mal leise:

– Liebe, liebe Any.

Julio kehrte in langen Sprüngen zurück. Er hatte die Wachtel nicht aufgespürt, die geschwiegen, sobald er sich genähert, und Annchen kam ganz außer Atem hinterdrein.

– Ich kann nicht mehr, – rief sie, – Herr Maler, ich muß mich an Ihnen festhalten.

Sie lehnte sich auf den freien Arm Oliviers. Und indem er so zwischen den beiden Frauen ging, traten sie unter die dunklen Bäume zurück. Sie sprachen nicht mehr. Er schritt dahin ganz in Beschlag genommen von beiden, von einem weiblichen Fluidum, das bei ihrer Berührung in ihn überströmte. Er suchte sie nicht zu sehn, denn er fühlte sie an seiner Seite, er schloß sogar die Augen, um ihre Nähe besser zu empfinden. Sie führten und leiteten ihn, und er ging seines Wegs ganz erfüllt von ihnen, von der zur Linken wie zur Rechten, ohne sich klar zu sein, welche links, welche rechts war, welches die Mutter, welches die Tochter. Mit unbewußter, raffinierter Sinnlichkeit überließ er sich diesem Zauber. Er suchte sie sogar in seinem Herzen zu vermengen, daß er sie in Gedanken nicht mehr unterschied, und er war glückselig über diese Täuschung. War es nicht eine einzige Frau, diese Mutter und diese Tochter, die sich so ähnlich waren, und war die Tochter nicht nur auf die Erde gekommen, um seine Liebe zur Mutter zu verjüngen?

Als er die Augen öffnete, wie sie ins Schloß traten, war es ihm, als hätte er die schönsten Augenblicke seines Lebens durchkostet, als hätte er die seltsamste, unerklärlichste, tiefste Bewegung durchgemacht, die über einen Mann kommen kann, den der Zauber von zwei Frauen zugleich berauscht.

– O, dieser wundervolle Abend, – sagte er, als er beim Licht der Lampen zwischen ihnen stand.

Annchen rief: – Ich bin garnicht müde heute, wenn es schön ist, gehe ich die ganze Nacht spazieren.

Die Gräfin sah nach der Uhr.

– O, es ist halb zwölf, Du mußt zu Bett, mein Kind.

Sie trennten sich, und jeder suchte sein Zimmer auf. Aber nur das junge Mädchen, das nicht hatte zu Bett gehen wollen, schlief schnell ein.

Am andern Morgen sagte die Jungfer, als sie zur gewöhnlichen Stunde die Vorhänge und Läden geöffnet, den Thee gebracht und ihre noch schlaftrunkene Herrin ansah:

– Frau Gräfin sehen schon besser aus heute.

– Wirklich?

– Jawohl. Das Gesicht von Frau Gräfin ist viel mehr ausgeruht.

Die Gräfin wußte wohl, ohne sich in den Spiegel gesehen zu haben, daß dem so war. Sie fühlte ihr Herz leicht, es klopfte nicht, sie fühlte sich wieder aufleben. Das Blut pulste ihr nicht schnell durch die Adern, heiß, fiebrig, Unruhe und Entnervung in ihren Körper tragend, sondern ein laues Wohlgefühl und eine glückliche Sicherheit waren über sie gekommen.

Als das Mädchen hinausgegangen war, beguckte sie sich im Spiegel. Sie war etwas erstaunt, denn sie fühlte sich so wohl, daß sie meinte, um Jahre jünger geworden zu sein in einer einzigen Nacht. Dann sah sie das Kindische dieser Hoffnung ein, und nachdem sie sich noch einmal betrachtet, begnügte sie sich damit, festzustellen, daß nur ihr Teint klarer war, ihre Augen weniger müde, und die Lippen lebhafter als am Morgen vorher. Da sie zufrieden war, konnte sie nicht traurig werden, und sie dachte lächelnd: »Ja, in ein paar Tagen gehts mir ganz gut. Der Schlag traf mich zu schwer, als daß ich mich so schnell hätte erholen können.«

Aber sie blieb lange, sehr lange vor dem Toilettentisch sitzen, wo auf einem spitzenbesetzten Mousselintuch vor einem schön geschliffenen Kristallspiegel in koketter Anordnung alle kleinen Toilettengegenstände aus Elfenbein mit Namenszug und Krone lagen. Sie waren ohne Zahl, reizend, alle verschieden, zu geheimem und delikatem Gebrauch, die einen in Stahl, fein, schneidend, in seltsamen Formen wie chirurgische Instrumente, andere rund, weich, mit Federn besetzt oder mit seltenem Leder bespannt, um auf die Haut die duftenden Puder, die Salben und Öle aufzutragen.

Sie drehte sie lange in den geschickten Fingern, glitt mit einem Streicheln, das süßer war denn ein Kuß, von den Lippen bis zu den Schläfen, indem sie die Stellen, die ihr nicht gefielen, wieder in Ordnung brachte, unter den Augen hinstrich und die Augenbrauen glättete. Als sie endlich in den Salon hinunterging, war sie ihrer Sache gewiß, daß der erste Anblick nicht zu unvorteilhaft sein würde.

– Wo ist Herr Bertin? fragte sie den Diener, den sie im Vorsaal traf.

Der Mann antwortete:

– Herr Bertin ist im Garten und spielt Tennis mit der jungen Gräfin.

Von weitem hörte sie, wie sie die Points ansagten. Abwechelnd rief die tiefe Stimme des Malers oder die feine des jungen Mädchens: »Fünfzehn, dreißig, vierzig, advantage, even, advantage, set

Der Obstgarten, in dem ein Tennisplatz hergerichtet worden, war eine große viereckige Wiese mit Apfelbäumen bestanden, vom Park, dem Gemüsegarten und den Wirtschaftsgebäuden des Gutes umschlossen. Längs des Grabens, der ihn auf drei Seiten umgab wie ein Festungswerk, waren Bäume gepflanzt, lange Beete mit den verschiedensten Blumenbeständen, seltenen oder Feld- und Wiesenblumen, eine Menge Rosen, Nelken, Heliotrop, Fuchsien, Reseden und vielen anderen, die dufteten wie Honigseim, wie Bertin sagte. Bienen schwirrten aus den Bienenkörben, die längs der Mauer an den Obstspalieren des Gemüsegartens standen, summend hin und her.

Mitten in diesem Obstgarten hatte man ein paar Bäume niedergeschlagen, um den Platz für das Tennis frei zu machen. Ein Netz war zwischen den beiden Hälften des Spielplatzes gespannt.

Annchen stand auf der einen Seite, den schwarzen Rock in die Höhe gesteckt, barhaupt, und jedesmal, wenn sie vorsprang, um den Ball zurückzugeben, sah man ihre Knöchel und die halbe Wade. Sie lief vor, ging zurück, sprang hin und her mit glänzenden Augen und roten Wangen, durch das sichere, ruhige Spiel ihres Gegners ermüdet und außer Atem.

Er trug eine weiße Flanellhose über dem gleichfarbigen Hemd mit einem Gürtel geschlossen und eine gleichfalls weiße Mütze mit Schirm. So stand er da, etwas wohlbeleibt, erwartete ruhig den Ball, berechnete genau sein Auftreffen, fing ihn auf und schlug ihn zurück, ohne zu laufen, ohne sich anzustrengen, mit eleganter Gelassenheit, mit der gespannten Aufmerksamkeit und der berufsmäßigen Geschicklichkeit, die er allem Sport entgegenbrachte.

Annchen sah ihre Mutter und rief:

– Guten Morgen, Mama! Bitte, eine Minute, bis wir die Partie fertig haben.

Dieser kurze Augenblick genügte, daß der Ball, der scharf zurückgeschleudert, tief über den Boden hinschoß, außerhalb auftraf und das Spiel zu Ende war.

Während Bertin »Gewonnen!« rief, behauptete das junge Mädchen, er habe nur den Augenblick benutzt, wo sie nicht aufgepaßt. Julio, abgerichtet, die Bälle zu apportieren, wie ein Rebhuhn das ins Gebüsch gefallen, sprang, als der Ball im Gras hinrollte, hinter ihm drein, apportierte ihn geschickt mit dem Maul und brachte ihn wedelnd an.

Der Maler begrüßte nun die Gräfin, aber da er eifrig beim Spiel war und, durch den Kampf erregt, sich froh und frisch fühlte, warf er auf das ihm zu Ehren so sorgsam behandelte Gesicht nur einen kurzen zerstreuten Blick und fragte: – Erlauben Sie, liebe Gräfin, ich fürchte mich zu erkälten und wieder das Reißen zu bekommen.

– Ich bitte, – sagte sie.

Sie setzte sich auf einen Haufen, den Spielplatz frei zu machen, frisch gemähtes Heu und sah ihnen nun plötzlich traurig gestimmt zu.

Ihre Tochter ärgerte sich, immer zu verlieren, erregte sich und rief manchmal ein »Oh« und ein »Hurrah«, sprang mit plötzlichem Satz von einem Ende des Platzes zum andern, und dabei fielen ihr die Haare ins Gesicht, gingen auf und hingen ihr über die Schultern herab. Sie nahm sie, klemmte den Schläger zwischen die Kniee und steckte sie mit ungeduldiger Bewegung mit ein paar Nadeln aufs Geratewohl in ihrer Haarflut fest.

Und Bertin rief von weitem der Gräfin zu:

– Ist sie nicht hübsch so, und frisch wie der junge Tag!

Ja, sie war frisch, sie konnte laufen, heiß werden, rot; es schadete nichts, wenn ihr das Haar aufging, sie konnte alles thun und wagen, denn alles stand ihr gut.

Als sie nun mit Eifer wieder ans Spiel gingen, wurde die Gräfin immer melancholischer. Sie überlegte, daß Olivier das Ballspielen, diese kindische Bewegung, dieses Vergnügen junger Katzen, die einem wehenden Papier nachspringen, dem süßen Gefühl vorzog, an ihrer Seite zu sitzen, an diesem wonnigen Morgen sie liebevoll an sich zu drücken.

Als in der Ferne die Glocke zum Frühstück klang, war es ihr wie eine Erlösung, als fiele ihr eine Last vom Herzen. Wie sie dann nach dem Haus zurückkehrten und er ihr den Arm gab, sagte er:

– Das hat mir einen kindischen Spaß gemacht. Es ist doch wundervoll, jung zu sein, oder wenigstens zu glauben, daß man's ist. Ja, ja, ja, nur das ist schön! Wenn man nicht mehr laufen mag, dann ist's alle.

Als sie vom Tisch aufstanden, schlug die Gräfin, die Tags zuvor zum ersten Male das Grab ihrer Mutter nicht besucht, vor, den Kirchhof zu besuchen; und sie gingen alle drei ins Dorf. Sie mußten durch den Wald, den ein Bach durchfloß, »der Laubfrosch« genannt, wahrscheinlich wegen der kleinen Frösche, die ihn bevölkerten. Dann mußten sie ein Stück über das freie Feld, ehe sie zur Kirche gelangten, die von einer Anzahl Häusern umgeben war, wo der Kolonialwarenhändler, der Bäcker, der Fleischer, der Weinhändler und ein paar andere bescheidene Kaufleute, die die Gegend mit ihren Produkten versorgten, wohnten.

Der Gang war still, es wurde wenig gesprochen. Sie dachten alle an die Tote. Am Grab knieten die beiden Damen hin und beteten lange. Die Gräfin blieb niedergebeugt und unbeweglich, das Taschentuch vor den Augen, denn sie fürchtete sich zu weinen, fürchtete, die Thränen könnten ihre Wangen hinablaufen. Sie betete nicht, wie sie es bis dahin täglich gethan, in einer Art Anrufung ihrer Mutter, die dort unter der Marmorplatte des Grabes lag, mit verzweifelter Inbrunst so lange, bis sie meinte an der großen Verzweiflung ihres Schmerzes zu fühlen, daß die Tote sie hörte, sondern sie stammelte nur eifrig ein Vaterunser und Ave Maria. An diesem Tag hatte sie nicht Kraft und Spannung genug zu dieser grausamen einseitigen Zwiesprache mit dem, was von diesem Wesen unsterblich die Grube umschwebte, dessen leibliche Reste sie umschloß. Andere Gedanken waren in ihr Herz gedrungen, hatten sie bewegt, gequält und zerstreut, und ihr andächtiges Gebet stieg voll unausgesprochener Wünsche zum Himmel auf. Sie bat Gott, Gott den unerforschlichen, der all die armen Kreaturen auf diese Welt gesetzt, er möge mit ihr eben so viel Mitleid haben wie mit der, die er zu sich gerufen.

Sie hätte nicht sagen können, um was sie ihn bat, so unbestimmt und versteckt waren noch ihre Wünsche, aber sie fühlte, daß sie der göttlichen Hilfe bedürfe, eines übernatürlichen Schutzes gegen nahende Gefahr und unausbleibliches Leid.

Annchen hatte die Gebete hergesagt mit geschlossenen Augen und träumte nun, denn sie wollte nicht vor der Mutter aufstehen.

Olivier Bertin betrachtete sie in dem Gedanken, daß er vor sich ein wundervolles Bild sehe und nur bedauere, nicht eine Skizze davon machen zu können.

Als sie zurückkehrten, sprachen sie über das Leben im Tone einer weichen, weltfremden Philosophie, bittere und poetische Ideen anführend, in der Art wie so oft zwischen Männern und Frauen gesprochen wird, denen das Leben ein wenig weh gethan und die sich finden in gemeinsamem Leid.

Annchen, die für solche Betrachtungen noch nicht reif war, blieb alle Augenblicke zurück, um eine Feldblume am Wege zu pflücken. Aber Olivier, der sie bei sich behalten wollte, den es nervös machte, daß sie fortwährend fortlief, ließ sie nicht aus den Augen. Es erregte ihn, daß die Farbenpracht der Pflanzen ihr mehr Spaß machte als seine Worte. Es war ihm ein unerklärliches, unangenehmes Gefühl, daß er sie nicht fesseln, sie nicht in seinen Bann ziehen konnte, wie ihre Mutter, und es überkam ihn die Lust, die Hand nach ihr auszustrecken, sie zu fassen, sie zurückzuhalten, ihr zu verbieten, fortzulaufen. Er fühlte in ihr zu viel unruhige Jugend, Gleichgiltigkeit, Freiheit, Freiheit wie sie der Vogel, wie sie der junge Hund empfindet, der nicht gehorcht, der nicht kommt, wenn man ihn ruft, der Unabhängigkeitsgefühl in den Adern hat, jenen Naturtrieb nach Freiheit, den Drohungen und Peitsche noch nicht überwunden.

Um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, sprach er von heiteren Dingen, manchmal fragte er sie etwas, suchte in ihr den Wunsch zu erwecken, zuzuhören, ihre weibliche Neugierde zu erregen. Aber es war, als bliese heute der launische Wind in Annchens Kopf, wie er über die wogenden Ähren strich, als trüge und zerstreute er ihre Aufmerksamkeit in den weiten Raum. Denn kaum hatte sie die gleichgiltige Antwort, die er von ihr erwartete, mit zerstreutem Blick gegeben, als sie schon wieder fortlief und Blumen suchte. Das brachte ihn zur Verzweiflung, eine kindische Ungeduld packte ihn, und wie sie ihre Mutter bat, ihr den ersten Blumenstrauß zu halten, damit sie noch einen zweiten suchen könne, nahm er sie beim Arm und hielt sie fest, damit sie nicht wieder fort sollte. Lächelnd wehrte sie sich und zog mit aller Kraft, um sich los zu machen. Da gebrauchte er, von einem männlichen Instinkt getrieben, das Hilfsmittel der Schwachen: ihre Aufmerksamkeit konnte er nicht fesseln so fing er sie damit, daß er ihre Koketterie auf die Probe stellte.

– Sag mal, – sagte er, – was ist denn Deine Lieblingsblume? Ich lasse Dir eine Brosche daraus machen.

Erstaunt hielt sie inne: – Wieso eine Brosche?

– Nun aus Steinen von derselben Farbe, wenn's der Mohn ist, aus Rubinen; aus Saphiren, wenn Du die Kornblumen liebst, und ein kleines Blatt kommt dazu aus Smaragd.

Annchens Gesicht strahlte von dankbarer Freude, wie die Züge der Frauen, die etwas versprochen oder geschenkt bekommen.

– O, Kornblumen, das wäre reizend, – sagte sie.

– Also gut, Kornblumen. Sobald wir wieder in Paris sind, wird bestellt.

Jetzt lief sie nicht mehr fort. An ihn gefesselt durch den Gedanken an die Brosche, die sie sich schon in ihrer Phantasie vorstellte, fragte sie:

– Dauert es sehr lange, so was zu machen?

Er lachte, er hatte sie gefangen.

– Das weiß ich nicht, das hängt von der Schwierigkeit ab. Wir müssen den Juwelier ein bißchen treiben.

Plötzlich kam ihr ein trauriger Gedanke:

– Aber ich kann sie ja nicht tragen, da wir doch in Trauer sind.

Er hatte den Arm des jungen Mädchens genommen und drückte ihn an sich:

– Nun, dann hebst Du sie hübsch so lange auf, bis die Trauer zu Ende ist. Du kannst sie doch immer angucken so lange.

Wie am Abend vorher schritt er zwischen ihnen, von ihnen gestreift, zwischen ihren Schultern, und abwechselnd, um zu sehn, wie sie die gleichen Augen mit den schwarzen Pupillen auf ihn richteten, sprach er mit ihnen, indem er sich abwechselnd einmal zu dieser, einmal zu jener wandte. Nun wo die Sonne hell schien, verwechselte er weniger die Gräfin mit Annchen. Aber mehr und mehr ward das junge Mädchen das Bild, das er von früher noch von der Mutter im Herzen trug. Er hatte Lust, sie eine nach der andern zu küssen. Die eine, um auf ihrer Wange und ihrem Nacken ein wenig von jener rosigen blonden Frische wiederzufinden, die er einst geliebt und die er heute, wie durch ein Wunder, erneut wieder vor sich sah. Die andere, weil er sie noch immer liebte, und weil von ihr der mächtige Reiz der alten Gewohnheit ausging.

In diesem Augenblick merkte er sogar, daß seine Sehnsucht nach ihr, die seit langem nachgelassen, und seine Zuneigung wieder aufflammte beim Anblick ihrer wiedererstandenen Jugend.

Annchen lief wieder davon, um Blumen zu suchen. Olivier rief sie nicht zurück, als ob ihn die Berührung ihres Armes und die Freude, die er ihr gemacht, beruhigt. Aber er folgte all ihren Bewegungen mit den Blicken, mit der Freude, die man empfindet, etwas zu sehen, das unsern Augen wohlthut. Wenn sie zurückkam, die Gräser in der Hand, atmete er tiefer, im unbewußten Wunsche, irgend etwas von ihr in sich aufzunehmen, einen Hauch ihres Atems, die Wärme ihrer Haut in der durch ihr Laufen erregten Luft. Glückselig sah er sie an, wie man die Morgenröte betrachtet, wie man einer Musik lauscht. Es that ihm wohl, wenn sie sich niederbückte, wenn sie sich aufrichtete, wenn sie beide Arme hob, um ihr Haar zu ordnen, und von Stunde zu Stunde mehr und mehr wurde in ihm das Bild vergangener Zeiten wach. Sie hatte eine Art zu sprechen, nett zu thun, Bewegungen, die ihm immerfort die Wonne vergangener Zeiten ins Gedächtnis zurückführten. Durch sie wurde die Erinnerung, von der er keine bestimmte Vorstellung mehr hatte, wie ein noch heute währender Traum. Zeit, Daten, das Alter seines Herzens verschwamm im Nebel, und indem vergangene Leidenschaften wieder aufflammten, mischte sich, ohne daß er es selbst merkte, das Gestern mit dem Heute, die Erinnerung mit der Hoffnung.

Er fragte sich, indem er in seinem Gedächtnis suchte, ob die Gräfin zur Zeit ihrer größten Blüte einen solch schmiegsamen, unwiderstehlichen, kapriziösen Liebreiz gehabt, diese Grazie eines jungen Fohlens, das hüpft und springt. Nein, sie war mehr entwickelt und weniger wild gewesen, ein Stadtkind, dann eine Stadtdame, die nie die Landluft eingeatmet, nie auf der Wiese getollt; sie war hübsch geworden im Dunkel der Häuser und nicht im freien Sonnenlicht.

Als sie ins Schloß zurückgekehrt waren, begann die Gräfin, an ihrem kleinen Schreibtisch in der Fensternische Briefe zu schreiben. Annchen begab sich auf ihr Zimmer, und der Maler ging mit langsamen Schritten, eine Cigarre im Munde, die Hände auf dem Rücken verschränkt, auf den Park-Wegen spazieren. Aber er entfernte sich nicht so weit, daß er die weiße Fassade und das hohe Dach ganz aus den Augen verloren hätte. Sobald das Haus hinter den Baumgruppen und den Sträuchern einmal verschwand, ward es dunkel in seiner Seele, wie wenn eine Wolke über die Sonne tritt, und wenn das Haus dann wieder durch das Laub schimmerte, blieb er einen Augenblick stehen, um nach den hohen Fenstern hinüberzuschauen. Dann ging er wieder weiter.

Er fühlte sich erregt und zufrieden. Womit zufrieden? Mit allem.

Die Luft schien ihm rein, das Leben schön und heiter an diesem Tag. Er war wieder frisch wie ein Knabe, wäre am liebsten herumgelaufen, hätte die gelben Zitronenfalter gefangen, die über den Rasen schwebten, als hingen sie an einer Gummischnur. Er trällerte eine Melodie aus einer Oper. Mehrmals hintereinander fiel ihm das berühmte Lied ein: »Laß mich Dein holdes Antlitz schauen«, und er fand darin einen tiefen Ausdruck, der ihm bis jetzt noch nicht klar geworden. Plötzlich fragte er sich, wie es nur möglich sei, daß er sich mit einem Male so geändert. Gestern noch in Paris erregte ihn alles, ekelte, ärgerte ihn. Heute war er ruhig, zufrieden, als hätte eine freundliche Gottheit seine Seele gänzlich umgewandelt. Diese Gottheit, dachte er, hätte meinen Leib auch ein bißchen auffrischen und mich wieder jung machen können.

Plötzlich sah er Julio im Gebüsch umherjagen. Er rief ihn, und als er des Hundes feinen, mit langen Behängen gezierten Kopf in den Händen hielt, setzte er sich ins Gras, ihn zu streicheln, lobte ihn, nahm ihn auf die Kniee, ward ganz zärtlich gegen ihn und küßte ihn, wie Frauen, deren Herz alle Augenblicke übergeht.

Nach Tisch blieben sie, statt wie am Abend vorher auszugehen, gemütlich im Salon.

Plötzlich sagte die Gräfin:

– Wir werden aber doch wohl abreisen müssen!

Olivier rief:

– O! Sprechen Sie davon noch nicht. Als ich nicht da war, wollten Sie Roncières nicht verlassen; nun komme ich, und nun wollen Sie sofort weg.

– Lieber Freund, – sagte sie, wir können doch hier nicht alle drei ewig bleiben.

– Ewig soll's ja nicht sein, aber ein paar Tage. Ich bin doch oft wochenlang hier bei Ihnen gewesen.

– Ja, aber unter anderen Umständen. Als alle Welt hier verkehrte.

Da schmeichelte Annchen:

– O, Mama, nur noch ein paar Tage, zwei oder drei. Er lehrt mich so gut Tennis spielen; ich bin wütend, wenn ich verliere, und freue mich so, wenn ich Fortschritte mache.

Noch am Morgen hatte die Gräfin die Absicht gehabt, den Aufenthalt ihres Freundes bis zum Sonntag dauern zu lassen, und nun wollte sie plötzlich fort, sie wußte nicht warum. Dieser Tag, von dem sie sich so viel versprochen, hatte eine tiefe Traurigkeit in ihrer Seele zurückgelassen, unbestimmt, zäh und ohne Ursache, wie ein Vorgefühl.

Als sie sich allein in ihr Zimmer zurückgezogen hatte, grübelte sie, woher der neue Anfall von Schwermut kommen konnte. Hatte sie eine jener unerklärbaren Stimmungen gehabt, die so flüchtig sind, daß man sich kaum ihrer erinnert, aber die doch in tiefsten Herzenstiefen nachzittern? Vielleicht. Aber welche? Sie erinnerte sich wohl ein paar unangenehmer Augenblicke in dem tausendfachen Gefühlswechsel, der in ihrer Seele vor sich ging, in dem sie jede Minute anders empfand. Aber deswegen konnte sie nicht den Mut verlieren. Ich will zu viel, dachte sie, ich habe nicht das Recht, mich so zu quälen.

Sie öffnete das Fenster, um die frische Nachtluft einzuatmen, und aufgelehnt blieb sie und sah nach dem Mond.

Sie hörte ein leises Geräusch und senkte den Kopf. Olivier ging vor dem Schloß spazieren. – »Warum hat er denn gesagt, daß er auf sein Zimmer wollte,« dachte sie. »Warum hat er mir nicht gesagt, daß er noch einmal fortging, warum mich nicht aufgefordert, mitzugehen? Er weiß wohl, daß mich das glücklich gemacht hätte. Woran denkt er nur?«

Der Gedanke, daß er sie zu seinem nächtlichen Spaziergang nicht hatte haben wollen, daß er lieber an diesem schönen Abend allein ging, seine Cigarre rauchend, denn sie sah den feurigen Punkt in der Luft, allein, wo er ihr die Freude hätte machen können, ihn begleiten zu können. Der Gedanke, daß er nicht unausgesetzt ihrer bedürfte, sich nicht unausgesetzt nach ihr sehnte, träufelte ihr neue Bitterkeit ins Herz. Sie wollte schon das Fenster schließen, um ihn nicht mehr zu sehen, nicht mehr in die Versuchung zu kommen, ihn zu rufen, als er aufblickte und sie bemerkte. Er rief:

– Sieh mal an, Gräfin, Sie träumen in der Sternennacht!

Sie antwortete:

– Ja. Wie's scheint, Sie auch!

– O, ich rauche nur meine Cigarre!

Sie konnte nicht wiederstehen zu fragen:

– Warum haben Sie mich nicht aufgefordert mitzugehen?

– Ich wollte nur meinen Tabak schmauchen, – übrigens gehe ich jetzt zu Bett.

– Dann also, gute Nacht, mein Freund!

– Gute Nacht, Gräfin!

Sie kehrte zu ihrem Stuhl zurück, setzte sich und fing an zu weinen. Und die Jungfer, die sie gerufen, um sie auszuziehen, sagte mitleidig, als sie ihre roten Augen sah:

– O, Frau Gräfin werden aber morgen wieder schlecht aussehen!

Die Gräfin schlief schlecht, fiebrig, von Träumen gequält. Sobald sie erwachte, öffnete sie, ehe sie klingelte, selbst das Fenster und die Vorhänge, um in den Spiegel zu blicken. Sie hatte schlaffe Züge, geschwollene Lider, gelben Teint, und war darüber so traurig, daß sie am liebsten hätte sagen lassen, sie sei unwohl, zu Bett geblieben wäre und bis zum Abend sich nicht hätte sehen lassen. Plötzlich überkam sie die Lust, abzureisen. Sie konnte nicht mehr anders, sofort wollte sie abreisen, mit dem ersten Zug. Sie wollte dieses strahlend helle Land, wo man zu viel sah, das die unaustilgbaren Spuren des Kummers und des Alters verriet, verlassen. In Paris lebt man im Halbdunkel der Wohnungen, wo das Licht durch schwere Vorhänge sogar mitten am Tag nur gedämpft einfällt. Dort würde sie sich wiederfinden, würde wieder schön werden, bleich, wie man es sein muß bei dem matten zarten Licht. Da sah sie plötzlich Annchens Gesicht vor sich, frisch und rot, mit wirrem Haar, wie sie Tennis spielte. Jetzt wußte sie, welche unbekannte Unruhe sich ihrer Seele bemächtigt. Sie war nicht eifersüchtig auf die Schönheit ihrer Tochter, das gewiß nicht, aber sie fühlte und gestand es sich zum ersten Mal ein, daß sie sich nie im hellen Sonnenlicht mit ihr zeigen dürfe.

Sie klingelte und gab, ehe sie ihren Thee trank, den Befehl zur Abreise, schrieb Depeschen und bestellte selbst telegraphisch für den Abend das Diner, schloß ihre Abrechnung von Roncières ab, gab noch die letzten Befehle, ordnete alles in kaum einer Stunde, in fieberhaft steigernder Unruhe.

Als sie herunterkam, befragten sie Olivier und Annchen, die von dem Entschluß gehört, erstaunt darüber. Da sie dann sahen, daß sie keinen vernünftigen Grund zu dieser plötzlichen Abreise erfuhren, brummten sie ein wenig und bezeigten ihre Unzufriedenheit, bis sie sich am Bahnhof in Paris trennten.

Die Gräfin gab dem Maler die Hand und fragte:

– Wollen Sie morgen bei uns essen?

Er antwortete etwas schmollend:

– Gewiß, ich will kommen. Aber das war nicht hübsch, wie Sie das gemacht haben. Es war so nett, wir drei zusammen.

 


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