Guy de Maupassant
Hans und Peter
Guy de Maupassant

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VIII

Als Hans in seine Wohnung zurückgekehrt war, warf er sich auf das Sofa; denn derselbe Kummer und die Sorgen, die seinem Bruder die Lust eingaben, zu entfliehen wie ein gehetztes Tier, wirkten anders auf seine ruhige Natur und machten ihn wie zerschlagen, daß er nicht mehr aufrecht stehen konnte. Er fühlte sich so müde, daß er kaum einer Bewegung fähig zu sein meinte. Er war unfähig zu seinem Bett zu gehen, war schlaff an Körper und Geist, ganz verzweifelt und gebrochen. Die Reinheit seiner Sohnesliebe war nicht getroffen wie bei Peter, jene geheime Würde, die stolze Herzen umgiebt. Aber er war niedergeschmettert durch einen Schicksalsschlag, der zu gleicher Zeit seine liebsten Interessen bedrohte. Als sich seine Seele endlich beruhigt hatte, als seine Gedanken wieder klar geworden waren, wie wild bewegtes Wasser sich glättet, faßte er die Lage ins Auge, wie sie ihm eben enthüllt war. Wenn er das Geheimnis seiner Geburt auf irgend eine andere Weise erfahren hätte, wäre er gewiß empört und tief traurig gewesen. Aber nach dem Streit mit seinem Bruder, nach dieser heftigen brutalen Auseinandersetzung, die seine Nerven erschüttert hatte, war er durch die tiefe Bewegung seiner Mutter bei ihrem Geständnis energielos geworden, so daß er nicht mehr empört sein konnte. Der Stoß, den seine Empfindsamkeit bekommen, war stark genug, um in unwiderstehlicher Liebe alle Vorurteile und alle Regungen der natürlichen Moral fortzufegen. Er war auch nicht der Mann, Widerstand zu leisten. Er liebte keinen Kampf, gegen niemand, am wenigsten gegen sich selbst. Er ergab sich also in das Schicksal. Und aus instinktiver Neigung, aus unendlichem Ruhebedürfnis, weil er ein ruhiges, stilles Leben liebte, erregte ihn sofort alles, was um ihn her vorgehen sollte und ihn traf. Er fühlte, daß es unvermeidlich war, und um es zu bannen, entschloß er sich zu übermenschlicher Anspannung von Energie und Thätigkeit. Sofort, gleich am anderen Morgen mußte das schwere Werk in Angriff genommen werden. Denn auch er hatte für Augenblicke das zwingende Bedürfnis eines sofort zu fassenden Entschlusses, worin die ganze Kraft der Schwachen besteht, die unfähig sind, mit Zähigkeit ihren Willen durchzusetzen. Seine juristische Schulung, die gewohnt war, sich mit komplizierten Sachen zu beschäftigen und sie zu klären, mit Fragen intimer Art, mit zerrütteten Familienverhältnissen, zog sofort alle Schlüsse, die sich aus dem momentanen Seelenzustand seines Bruders ergeben konnten. Er faßte diese Folgen ins Auge, unwillkürlich, beinah in berufsmäßiger Weise, als ob er nach einer Familienkatastrophe die zukünftige Stellung seiner Klienten zu einander zu ordnen gehabt hätte. Eine fortdauernde nahe Beziehung zu Peter war unbedingt unmöglich. Er konnte ihm leicht aus dem Wege gehen, indem er zu Haus blieb. Aber es war beinah undenkbar, daß die Mutter unter demselben Dache mit ihren ältesten Sohn wohnen bleiben durfte.

Und lange saß er unbeweglich auf den Kissen, überlegte, fand Lösungen, ließ sie wieder fallen und kam zu keinem Entschluß, der ihn befriedigte.

Aber plötzlich traf ihn ein Gedanke, wie ein Donnerschlag. Durfte ein anständiger Mensch ein Vermögen, zu dem er auf die Weise, wie er, gekommen, wirklich behalten?

Zuerst antwortete er sich ›nein‹ und beschloß, es den Armen zu geben. Das war hart, aber es ging nicht anders. Er wollte seine Möbel verkaufen, arbeiten wie ein anderer, wie alle, die einen Beruf beginnen. Dieser männliche, schmerzliche Entschluß stachelte seinen Mut an. Er erhob sich und preßte die Stirn gegen die Scheiben. Er war arm gewesen, er würde wieder arm werden, und er starb ja nicht daran. Seine Augen fielen auf die Gaslaterne, die ihm gegenüber auf der anderen Seite der Straße brannte. Als da plötzlich eilig ein Frauenzimmer den Bürgersteig hinabging, dachte er mit einem Male an Frau Rosémilly. Und jene tiefe Erschütterung kam über ihn, die die Folge eines grausamen Gedankens zu sein pflegt. Auf einmal wurden ihm alle unglücklichen Folgen seines Entschlusses klar. Er mußte darauf verzichten, diese Frau zu heiraten, mußte verzichten auf das Glück, auf alles. Konnte er überhaupt so handeln, nun wo er sich gegen sie verpflichtet hatte? Sie hatte ihn erhört, da sie wußte, daß er reich war. Wenn er arm war, würde sie ihn trotzdem nehmen. Aber hatte er das Recht, ihr dieses Opfer zuzumuten? Wäre es nicht besser gewesen, das Geld zu behalten, so zu sagen als ein Depot, das er später den Armen zurückerstatten würde?

Und in seiner Seele, in der der Egoismus sich unter der Maske der Anständigkeit verbarg, stritten und kämpften alle verschiedenen Interessen gegeneinander. Die ersten Zweifel machten klugen Erwägungen Platz, erschienen dann abermals, um aufs neue zu verbleichen.

Er setzte sich wieder hin und suchte einen neuen Beweggrund, einen zwingenden Vorwand, um seine Zweifel zu bannen und seine angeborene Ehrlichkeit zu überzeugen. Er hatte sich schon zwanzigmal die Frage gestellt: »Da ich nun einmal der Sohn dieses Mannes bin, da ich es weiß und mich damit abfinde, ist es nicht ganz natürlich, daß ich auch seine Erbschaft annehme?« Aber dieses Argument konnte das ›nein‹, das im stillen sein Gewissen sprach, nicht übertäuben.

Plötzlich dachte er: »Da ich nicht der Sohn dessen bin, den ich für meinen Vater gehalten habe, kann ich nichts mehr von ihm annehmen, weder bei Lebzeiten noch nach seinem Tode. Das wäre weder anständig noch billig. Das hieße meinem Bruder bestehlen.«

Diese neue Art, die Sache anzusehen, erleichterte ihn, beruhigte sein Gewissen. Und er kehrte ans Fenster zurück.

»Ja,« sagte er sich, »ich muß auf die Erbschaft von Rolandscher Seite verzichten, die ich Peter ganz allein überlasse, da ich nicht der Sohn seines Vaters bin. Das ist ganz richtig. Ist es nun nicht ebenso richtig, daß ich das Geld meines Vaters behalte?«

Da er klar erkannt, daß er Rolands Geld nicht annehmen durfte und sich entschlossen hatte, vollkommen darauf zu verzichten, so kam er mit sich überein, das Vermögen Maréchals zu behalten, denn wenn er alle beide zurückgewiesen hätte, wäre er ein Bettler gewesen.

Nachdem diese zarte Angelegenheit einmal geordnet war, kam er wieder auf die Frage zurück, ob Peter bei der Familie bleiben durfte. Wie sollte er ihn fortbringen? Er verzweifelte schon daran, eine praktische Lösung zu finden, als die Pfeife eines Dampfers, der in den Hafen einlief, ihm die Antwort zuzurufen schien und ihn auf eine Idee brachte.

Da streckte er sich angezogen, wie er war, auf sein Bett und träumte bis Tagesanbruch.

Gegen neun Uhr ging er aus, um sich zu überzeugen, ob sein Entschluß ausgeführt werden könnte. Dann, nachdem er noch einige Erkundigungen eingezogen und ein paar Besuche gemacht, ging er zum Haus seiner Eltern. Die Mutter erwartete ihn. Sie hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen.

– Wenn Du nicht gekommen wärest, hätte ich niemals gewagt, hinunter zu gehen.

Da hörte man Rolands Stimme auf der Treppe:

– Himmeldonnerwetter! Heute giebts wohl nichts zu essen.

Niemand antwortete, und er brüllte:

– Josephine! Gott verdamm mich, was machen Sie denn?

Die Stimme des Mädchens klang aus der tiefsten Tiefe des Hauses:

– Da bin ich ja. Was wollen Sie denn?

– Wo ist die Gnädige?

– Die ist oben mit Herrn Hans.

Nun rief er, indem er zur oberen Etage hinaufblickte:

– Luise!

Frau Roland öffnete halb die Thür und antwortete:

– Was ist denn, mein Freund?

– Nun, wird denn heute nicht gegessen? Sackerment!

– Gleich, mein Freund. Wir kommen.

Und sie ging, von Hans gefolgt, hinab.

Als Roland den jungen Mann sah, rief er:

– Da bist Du schon wieder! Du langweilst Dich wohl in Deiner Wohnung?

– Nein, Vater, aber ich hatte heute früh mit Mutter zu sprechen.

Hans ging ihm entgegen mit ausgestreckter Hand. Und als er den väterlichen Händedruck des Greises sich über seine Finger schließen fühlte, ergriff ihn eine seltsame plötzliche Rührung wie bei einer Trennung und einem Lebewohl auf ewig.

Frau Roland fragte:

– Ist Peter nicht gekommen?

Ihr Mann zuckte die Achseln:

– Nein. Das schadet nichts, der kommt immer zu spät. Wir wollen uns nur ohne ihn setzen.

Aber sie wendete sich zu Hans:

– Du solltest ihn holen, mein Junge. Es kränkt ihn, wenn man nicht auf ihn wartet.

– Gut, Mama!

Und der junge Mann ging hinaus.

Er stieg die Treppe hinauf mit dem fieberhaften Entschluß eines Ängstlichen, der sich mit einem anderen schlagen soll.

Als er an der Thür geklopft, antwortete Peter:

– Herein.

Er trat ein.

Der andere schrieb, über die Tischplatte gebeugt.

– Guten Morgen! – sagte Hans.

Peter stand auf:

– Guten Morgen.

Sie reichten sich die Hand, als ob nichts geschehen wäre.

– Kommst Du nicht zum Frühstück?

– Jawohl. Aber ich habe viel zu thun.

Die Stimme des ältesten zitterte, und sein ängstliches Auge schien den jüngeren Bruder zu fragen, was er thun sollte.

– Man erwartet Dich.

– Ah so. Ist denn . . . . ist denn die Mutter unten?

– Ja. Sie schickt mich sogar, um Dich zu holen.

– Ah so. Ich komme.

Vor der Eßzimmerthür zögerte er zuerst, einzutreten. Dann öffnete er sie mit einem Ruck und sah Vater und Mutter einander gegenüber am Tisch sitzen.

Er näherte sich der Mutter, ohne die Augen aufzuschlagen, ohne ein Wort zu reden, beugte sich nieder und reichte ihr die Stirn zum Kuß, wie er seit langer Zeit that, statt sie wie früher auf beide Wangen zu küssen.

Er erriet, daß ihr Mund sich ihm näherte, aber er fühlte nicht die Lippen auf seiner Haut. Und er richtete sich nach dieser Scheinzärtlichkeit mit klopfendem Herzen auf.

Und er fragte sich: was mögen sie sich gesagt haben, nachdem ich fort war.

Hans sagte immer zärtlich: »Mutter« und »liebe Mama«, bemühte sich um sie, reichte ihr die Speisen hin, goß ihr zu trinken ein. Da begriff Peter, daß sie miteinander geweint hatten. Aber ihre Gedanken konnte er nicht erraten. Hielt Hans seine Mutter für schuldig oder seinen Bruder für einen Schuft?

Und wieder bedrängten ihn alle Vorwürfe, die er sich gemacht, das Entsetzliche gesagt zu haben, sie schnürten ihm die Kehle zusammen, schlossen ihm den Mund und hinderten ihn, zu essen und zu sprechen.

Ein unwiderstehliches Bedürfnis zu entfliehen überkam ihn, dieses Haus zu verlassen, das nicht mehr seines war, diese Leute, die an ihm nur durch die Bande der Gewohnheit hingen. Am liebsten wäre er sofort weg, ganz gleich wohin. Denn er fühlte, es war aus, er konnte nicht mehr bei ihnen bleiben. Immer würde er sie quälen, schon allein durch seine Gegenwart, immer würden sie ihm zu unstillbaren Qualen werden.

Hans erzählte und schwatzte mit Roland. Peter achtete nicht darauf und hörte nichts. Und doch glaubte er, in der Stimme seines Bruders eine Absicht zu vernehmen und merkte auf den Sinn seiner Worte.

Hans sagte:

– Es wird, wie's scheint, ihr schönstes Schiff werden. Man redet von sechstausendfünfhundert Tonnen Gehalt. Nächsten Monat macht es seine erste Reise.

Roland wunderte sich:

– Schon? Ich dachte, es würde diesen Sommer nicht fertig zum Auslaufen.

– Bitte sehr, man hat die Arbeiten möglichst beschleunigt, damit die erste Fahrt vor Herbst stattfinden kann. Ich bin heute früh auf dem Kontor der Gesellschaft gewesen und habe mit einem der Direktoren gesprochen.

– O, mit welchem denn?

– Mit Herrn Marchand! Der spezielle Freund des Vorsitzenden des Aufsichtsrates?

– Ach, kennst Du ihn denn?

– Ja. Und dann wollte ich ihn um eine Gefälligkeit bitten.

– O, dann mußt Du es mir aber auswirken, daß ich die »Lothringen«, wenn sie in den Hafen kommt, genau besichtigen darf. Nichtwahr?

– Gewiß. Das ist sehr leicht.

Hans schien zu zögern, innezuhalten, die Worte zu suchen zu einem Übergang, den er nicht fand. Und er sagte:

– Übrigens lebt man auf den großen transatlantischen Dampfern sehr angenehm. Die Hälfte des Jahres ist man in zwei wundervollen Städten, New-York und Havre; die übrige Zeit auf der See mit sehr netten Leuten. Man kann sogar auf den Schiffen sehr angenehme Bekanntschaften machen, die für später nützlich sind. Ja wirklich, sehr nützlich. Ich meine unter den Passagieren. Denke Dir nur, der Kapitän kann, wenn er Kohlenersparnisse macht, durch die Prämie auf fünfundzwanzigtausend Franken jährlich kommen, wenn nicht mehr.

Roland sagte: – Verflucht! – und pfiff, um seine Hochachtung vor der Summe und vor dem Kapitän auszudrücken.

Hans fuhr fort:

– Der Proviantmeister kann es bis zu zehntausend Franken bringen. Und der Arzt hat fünftausend Franken festes Gehalt, Wohnung, Beköstigung, Licht, Heizung, Bedienung und so weiter frei. Das heißt also mindestens zehntausend Franken. Das ist doch sehr schön.

Peter hatte aufgeblickt. Seine Augen begegneten denen seines Bruders, und er verstand ihn.

Da fragte er nach kleiner Pause:

– Ist es sehr schwierig, eine Arztstelle auf einem transatlantischen Dampfer zu bekommen?

– Ja und nein. Es hängt von den Umständen und der Protektion ab.

Ein langes Schweigen trat ein. Dann fragte der Doktor wieder:

– Die »Lothringen« geht nächsten Monat ab?

– Jawohl. Am siebenten.

Und sie schwiegen.

Peter dachte nach. Das wäre etwas, wenn er sich als Arzt auf diesem Dampfer einschiffen könnte. Später konnte man ja sehen; vielleicht würde er etwas anderes suchen. Aber inzwischen konnte er doch, ohne etwas von seiner Familie anzunehmen, seinen Lebensunterhalt verdienen. Zwei Tage vorher hatte er seine Uhr verkaufen müssen, denn jetzt konnte er seine Mutter um nichts bitten. Und er hatte keine Hilfsmittel als dies, keine Möglichkeit, ein anderes Brot zu essen, als das Brot des Hauses, in dem er nicht wohnen konnte. Er war nicht imstande, in einem anderen Bett, unter einem anderen Dach zu übernachten. Und da sagte er etwas zögernd:

– Wenn man mich nähme, würde ich gern mit dem Dampfer fahren.

Hans fragte:

– Warum sollte man nicht?

– Weil ich bei der transatlantischen Gesellschaft niemand kenne.

Roland war starr:

– Und was soll aus all den schönen Plänen werden?

Peter brummte:

– Es giebt Augenblicke, wo man alles opfern und auf die schönsten Hoffnungen verzichten muß. Übrigens ist ja das nur der Anfang, das Mittel, ein paar tausend Franken zu verdienen, um mich dann niederzulassen.

Sein Vater war gleich überzeugt:

– Das ist allerdings richtig. In zwei Jahren kannst Du sechs- oder siebentausend Franken beiseite legen. Wenn Du das gut benutzt, kommst Du zu etwas. Was denkst Du davon, Luise?

Sie antwortete leise, fast unhörbar:

– Ich denke, Peter hat recht.

Roland rief:

– Aber ich will doch mit Herrn Poulin darüber sprechen. Den kenne ich sehr gut. Er ist Handelsrichter und hat mit den Geschäften der Gesellschaft zu thun. Dann kenne ich ja auch Herrn Lenient, den Schiffsrheder. Der ist sehr intim mit einem der Vicepräsidenten.

Hans fragte seinen Bruder:

– Soll ich mal bei Herrn Marchand anklopfen?

– Ja. Meinetwegen.

Peter fuhr fort, nachdem er ein paar Augenblicke nachgedacht:

– Vielleicht wäre es doch das allerbeste, den Professoren von der Universität zu schreiben, bei denen ich sehr gut stand. Auf solche Schiffe kommen oft sehr mittelmäßige Ärzte. Ein paar Empfehlungsbriefe von den Herren Mas-Roussel Rémusot, Flache und Borriquel würden in fünf Minuten mehr fertig bringen, als alle zweifelhaften Empfehlungen. Es wäre ganz genügend, wenn Du diese Briefe dem Aufsichtsrat durch Deinen Freund Marchand vorlegen ließest.

Hans billigte es ganz:

– Das ist eine ausgezeichnete Idee, ausgezeichnet.

Und er lächelte beruhigt, fast zufrieden, des Erfolges gewiß. Er konnte nicht lange traurig sein.

– Du wirst ihnen sofort heute schreiben, – sagte er.

– Nachher sofort. Ich gehe schon. Ich trinke keinen Kaffee heute, ich bin zu nervös.

Er erhob sich und ging hinaus.

Da wendete sich Hans zu seiner Mutter:

– Und was machst Du, Mama?

– Nichts. Ich weiß nicht.

– Willst Du mit mir zu Frau Rosémilly kommen?

– Nun ja; ja natürlich.

– Weißt Du, ich muß unbedingt heute hin.

– Ja, ja, das ist wahr.

– Warum unbedingt? – fragte Roland, der übrigens daran gewöhnt war, nie zu kapieren, was man in seiner Gegenwart sagte.

– Weil ich versprochen habe, hinzugehen.

– Gut. Ausgezeichnet! Das ist was anderes.

Und er begann seine Pfeife zu stopfen, während Mutter und Sohn die Treppe hinauf gingen, ihre Hüte zu holen.

Als sie auf der Straße standen, fragte Hans:

– Mama, soll ich Dir den Arm geben?

Er bot ihr nie den Arm, sie gingen immer einfach nebeneinander her. Aber heute nahm sie ihn und stützte sich darauf.

Einige Zeit sprachen sie nicht mehr, dann sagte er:

– Du siehst, Peter ist ganz einverstanden, fortzugehen.

Sie flüsterte:

– Der arme Junge.

– Warum denn armer Junge? Der wird auf der »Lothringen« garnicht unglücklich sein.

– Ja, das weiß ich wohl, aber ich überlege mir doch alles mögliche.

Den Kopf gesenkt, ging sie in gleichen Schritten neben ihrem Sohn hin und dachte nach. Dann sagte sie in jenem seltsamen Ton, den man manchmal annimmt, um einen langen und im stillen geführten Gedankengang abzuschließen:

– Das Leben ist häßlich. Wenn es uns manchmal etwas Glück bietet, ist es Sünde, sich dem hinzugeben, und man muß es später teuer bezahlen.

Er sagte ganz leise:

– Rede doch nicht mehr darüber, Mama.

– Ist das möglich? Ich muß immer daran denken.

– Du wirst schon vergessen.

Sie schwiegen wieder. Dann sagte sie mit tiefem Bedauern:

– Ach, wie glücklich hätte ich sein können, wenn ich einen anderen Mann geheiratet hätte.

Jetzt ward sie wütend über Roland und schob seiner Häßlichkeit, seiner Dummheit, seiner Ungeschicklichkeit, seiner Schwerfälligkeit, seinem gemeinen Äußern alle Schuld an ihrem Fehltritt und ihrem Unglück zu. Deswegen, wegen der Gewöhnlichkeit dieses Mannes hatte sie ihn betrügen müssen, hatte sie einen Sohn in Verzweiflung gestürzt und dem andern die schmachvollste Beichte ablegen müssen, unter der ein Mutterherz nur bluten kann.

Sie flüsterte: – Es ist so furchtbar für ein junges Mädchen, einen Mann wie meinen heiraten zu müssen.

Hans antwortete nicht.

Er dachte an den, dessen Sohn er bisher zu sein geglaubt hatte. Und vielleicht hatten die unbestimmte Vorstellung von der Mittelmäßigkeit seines Vaters, die fortwährenden ironischen Bemerkungen seines Bruders, die verächtliche Gleichgültigkeit anderer, die bis zu des Dienstmädchens Verachtung für Roland ging, seine Seele für das fürchterliche Geständnis seiner Mutter vorbereitet. Es war für ihn nun nicht mehr so schlimm, der Sohn eines anderen zu sein. Und wenn er bei dem großen Ansturm der Gefühle am Tage vorher doch nicht so empört, so wütend und außer sich gewesen, wie Frau Roland es befürchtet, so lag es vielleicht daran, daß er seit langer Zeit unbewußt darunter litt, Sohn dieses schwerfälligen alten Philisters zu heißen.

Sie waren an Frau Rosémillys Haus gekommen.

Sie wohnte auf der Straße Saint-Adresse im zweiten Stock eines schönen Hauses, das ihr gehörte. Von ihren Fenstern aus überblickte man die große Rhede von Havre.

Als sie Frau Roland sah, die zuerst eintrat, öffnete sie, statt ihr wie sonst die Hand entgegen zu strecken, die Arme und schloß sie an ihre Brust, denn sie erriet, weshalb sie kam.

Die Möbel im Salon waren immer mit Überzügen bedeckt. An den geblümten, tapezierten Wänden hingen vier Bilder, die ihr erster Mann, der Kapitän, einst gekauft hatte. Sie stellten sentimentale Scenen aus dem Seeleben dar. Auf dem ersten erblickte man die Frau eines Fischers, die am Meeresstrand stand und mit dem Taschentuch winkte, während am Horizont das Segel verschwand, das ihren Mann davontrug. Auf dem zweiten kniete dieselbe Frau an derselben Küste, rang die Hände, während in der Ferne unter dem Zucken der Blitze auf einem Meer von ganz unnatürlichen Wellen das untergehende Schiff des Gatten zu sehen war.

Die beiden anderen Bilder stellten ähnliche Scenen dar, nur in einer höheren Gesellschaftsklasse.

Eine junge, blonde Frau lehnte sich auf den Bord eines großen Dampfers, der davonfuhr, und blickte, Thränen im Auge, mit einem Seufzer nach der schon fernen Küste zurück.

Wen hat sie dort zurück gelassen?

Dann gewahrte man dieselbe junge Frau an einem offenen Fenster, das auf das Meer hinaus ging, ohnmächtig in einem Sessel, ein Brief war von ihrem Schoß auf den Teppich hinabgeglitten.

Er ist also tot. O Jammer!

Gewöhnlich waren die Besucher durch die banale Traurigkeit der leicht zu verstehenden poetischen Darstellungen ganz bewegt und gerührt. Ohne weitere Auseinandersetzung und Fragen begriffen sie gleich, was es bedeuten sollte. Man beklagte die beiden Frauen, obgleich man bei der Vornehmen nicht recht wußte, worüber sie eigentlich traurig war. Aber diese Ungewißheit gerade verführte zu Träumen. Sie hatte wahrscheinlich ihren Bräutigam verloren. Wenn man eintrat, blieb das Auge unwillkürlich auf diesen vier Bildern haften und wurde von ihnen festgehalten wie durch Zaubermacht. Und wenn man einmal wo anders hinsah, kehrten die Blicke immer wieder dahin zurück, um die vier Ausdrucksarten der beiden Frauen, die sich wie Schwestern ähnlich sahen, zu betrachten. Vor allen Dingen ruhte das Auge auf der feinen, sauberen und geleckten Zeichnung, die an Modekupfer erinnerte, und auf dem glänzenden Rahmen. Das gab den Eindruck der Reinlichkeit und der Ordnung, der durch die übrige Einrichtung noch gehoben wurde.

Die Stühle blieben genau so stehen, wie sie einmal gestellt worden, der Reihe nach an der Wand oder im Kreise um den runden Mitteltisch. Die beiden weißen, tadellosen Vorhänge waren so regelmäßig und glatt gefaltet, daß einen die Lust ankam, sie ein wenig zu zerknautschen. Und niemals lag auch nur ein Stäubchen auf der Glasglocke, in der die goldene Empire-Kaminuhr, eine Weltkugel vom knieenden Atlas getragen, gelb und rund wie ein Kürbis erschien.

Die beiden Frauen verschoben beim Sitzen etwas die gewohnte Stellung der Stühle.

– Sie sind heute nicht spazieren gegangen? – fragte Frau Roland.

– Nein, ich bin etwas müde heute.

Und als wollte sie Hans und seiner Mutter danken, betonte sie noch einmal, welche Freude ihr der Ausflug und der Fischfang gemacht.

– Wissen Sie, – sagte sie, – daß ich heute früh meine Krebse gegessen habe. Sie waren wundervoll. Wenn Sie wollen, können wir so eine Partie noch einmal machen.

Der junge Mann unterbrach sie:

– Wenn wir nun, statt eine zweite zu unternehmen, die erste beendigten.

– Wieso denn? Ich denke doch, sie ist aus.

– O ich habe meinerseits in diesen Felsen von Saint-Jouin etwas gefischt, was ich auch gern heimbringen möchte.

Sie nahm ein naiv-listiges Gesicht an:

– Sie? Was haben Sie denn gefangen?

– Eine Frau. Und Mama und ich kommen zu fragen, ob sie heute früh nicht anderer Ansicht geworden ist.

Sie begann zu lächeln:

– Nein, mein Herr, ich ändere nie meine Ansichten.

Da hielt er ihr die Hand hin. Sie schlug schnell und entschlossen ein, und er fragte:

– Sobald als möglich, nicht wahr?

– Wann Sie wollen.

– In sechs Wochen?

– Ich kann das nicht bestimmen. Was denkt meine zukünftige Schwiegermutter darüber?

Frau Roland antwortete mit einem melancholischen Lächeln:

– Ach, ich denke garnichts. Ich danke Ihnen bloß, daß Sie Hans haben wollen, denn Sie werden ihn sehr glücklich machen.

– Ich will thun, was ich kann, Mama.

Frau Roland stand bewegt auf, und zum ersten Mal umschloß sie Frau Rosémilly mit beiden Armen und küßte sie lange wie eine Tochter. Und bei dieser neuen Zärtlichkeit schwellte eine gewaltige Bewegung das verwundete Herz der armen Frau. Sie konnte nicht sagen, was sie empfand, es war traurig und süß zu gleicher Zeit. Sie hatte einen Sohn, einen großen Sohn verloren und an seiner Stelle ward ihr eine Tochter, eine große Tochter geschenkt.

Als sie wieder einander gegenüber saßen, nahmen sie sich bei den Händen und blieben so lange sitzen, blickten sich an, lächelten einander zu, während Hans fast von ihnen vergessen schien.

Dann sprachen sie von einer Menge Dingen, die man für die bevorstehende Hochzeit besorgen mußte. Und als alles in Ordnung war, schien sich Frau Rosémilly plötzlich einer nebensächlichen Kleinigkeit zu erinnern und fragte:

– Ihr habt doch darüber mit Herrn Roland gesprochen?

Mutter und Sohn wurden zugleich rot. Und die Mutter antwortete:

– Ach, das ist nicht nötig.

Dann zögerte sie, da sie doch fühlte, daß sie es erklären mußte und sagte:

– Wir machen alles, ohne ihn zu fragen. Wir brauchen ihm nur zu sagen, was beschlossen worden ist.

Frau Rosémilly war weiter nicht erstaunt, lächelte, fand es ganz natürlich, denn der gute Mann hatte ja keine Bedeutung weiter.

Als Frau Roland mit ihrem Sohn auf der Straße stand, sagte sie:

– Wir wollen ein bißchen zu Dir gehen, ich möchte mich ausruhen.

Sie fühlte sich ohne Halt, ohne Schutz, sie fürchtete sich vor ihrem eigenen Hause.

Sie gingen zu Hans.

Sobald sie fühlte, daß die Thür sich hinter ihr geschlossen hatte, stieß sie einen lauten Seufzer aus, als ob sie jetzt hinter Schloß und Riegel in Sicherheit sei. Dann begann sie, statt sich auszuruhen, wie sie gesagt, die Schränke zu öffnen, die Wäsche zu legen, die Taschentücher und Strümpfe zu zählen. Sie legte die Sachen anders, wie es ihrem hausmütterlichen Auge besser gefiel. Und als sie alles nach ihrem Geschmack geordnet, die Handtücher aufeinander gehäuft, den Unterhosen und Hemden ihren besonderen Platz angewiesen, die ganze Wäsche in drei Hauptabteilungen geteilt, Leibwäsche, Hauswäsche und Tischwäsche, trat sie zurück, um ihr Werk zu betrachten und sagte: – Hans komm doch mal her, sieh mal, wie hübsch das ist. – Er stand auf und bewunderte, um ihr Freude zu machen.

Plötzlich näherte sie sich, als er sich wieder gesetzt hatte, mit leisen Schritten seinem Stuhl von hinten, schlang ihren rechten Arm um seinen Hals und küßte ihn, indem sie einen kleinen Gegenstand, der in weißes Papier eingewickelt war, mit der anderen Hand auf den Kamin legte.

Er fragte:

– Was ist denn das?

Als sie nicht antwortete, ahnte er es, als er die Form des Rahmens erkannte.

– Gieb mal her! – sagte er.

Aber sie that, als hörte sie nicht und kehrte zu ihren Schränken zurück. Er stand auf, nahm jene schmerzliche Reliquie, schritt durch das Zimmer und schloß sie im Schreibtisch ein. Er drehte zwei Mal den Schlüssel herum. Dann wischte sie mit den Fingerspitzen eine Thräne fort, die in den Augenwinkel getreten war und sagte mit etwas zitternder Stimme:

– Nun will ich einmal sehen, ob Dein neues Mädchen sich auch ordentlich um ihre Küche kümmert. Da sie gerade ausgegangen ist, kann ich alles genau untersuchen.

 


 << zurück weiter >>