Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreißigstes Kapitel

Wiewohl der stärkste Andrang nicht auf der Seite war, von wo aus unsere drei Flüchtlinge sich dem Tale näherten, sondern von der entgegengesetzten Mündung herein, so fingen sie doch auf ihrer zweiten Wanderung an, Reise- und Unglücksgefährten zu finden, die von Querwegen und Fußstegen auf die Straße gekommen waren und kamen. Unter solche» Umständen sind alle, die einander begegnen Bekannte. Jedesmal, wenn die Barutsche irgendeinen Fußgänger eingeholt hatte, tauschte man Fragen und Antworten gegeneinander aus. Der war wie die Unsrigen entronnen, ohne die Ankunft der Soldaten abzuwarten; jener hatte die Trommeln und Pauken gehört, der hatte sie gar gesehen und beschrieb sie, wie Furchterfüllte zu beschreiben pflegen.

»Wir sind noch glücklich,« sagten die beiden Frauen; »wir wollen dem Himmel danken. Die Habe geht wohl darauf, aber wir sind doch wenigstens gerettet.«

Aber Don Abbondio fand nicht, daß man sich so sehr Glück zu wünschen habe, ja der Andrang, der, wie er hörte, auf der anderen Seite noch stärker war, begann ihn zu beunruhigen.

»Ach, was für eine Geschichte!« raunte er den Frauen in einem Augenblick zu, als niemand in der Nähe war. »Ach, was für eine Geschichte! Begreift ihr denn nicht, daß, wenn man so viele Leute an einem Orte versammelt, es dasselbe ist, als wenn man die Soldaten mit Gewalt hinziehen wollte? Alles versteckt, alles schleppt fort! In den Häusern bleibt nichts übrig; sie werden glauben, hier oben Schätze anzutreffen. Sie kommen sicherlich. O weh mir Armen! Worauf habe ich mich eingelassen!«

»Da hinauf sollen sie kommen?« sprach Perpetua; »sie müssen ja auch ihres Weges ziehen. Und dann habe ich doch immer sagen gehört, es sei besser, wenn in Gefahren ihrer viele beisammen.«

»Viele beisammen? Viele beisammen?« erwiderte Don Abbondio. »Armes Weib! Wißt Ihr nicht, daß ein Landsknecht hundert von dem Schlage verspeist. Und wenn sie nun gar dumme Streiche machen wollten, so wäre es doch ein schöner Spaß, hier mitten drin in einer Schlacht zu sein. Ach, ich Armer! Es wäre doch nicht so schlimm gewesen, in die Berge hineinzulaufen. Was müssen wir denn auch alle an einem Orte wollen! ... Das langweilige Volk!« brummte er dann leiser; »alles miteinander, und immer zu, immer zu, immer zu; einer hinter dem anderen her wie unvernünftiges Vieh.«

»Auf die Art,« meinte Agnes, »könnten Sie auch das nämliche von uns sagen.«

»Schweigt still, still,« sagte Don Abbondio, »denn das Schwatzen führt ja doch zu nichts. Geschehene Dinge lassen sich nicht ändern; wir sind nun einmal hier und müssen hier bleiben. Der Wille der Vorsehung wird geschehen, der Himmel sei uns gnädig.«

Aber es ward noch ärger, als er am Eingange des Tales einen starken Posten Bewaffneter, teils auf der Schwelle eines Hauses, teils in die Stuben zur ebenen Erde einquartiert wahrnahm. Er blickte sie von der Seite an; es waren nicht dieselben Fratzen, die er schon einmal auf seiner anderen betrübten Reise hierher hatte sehen müssen, oder wenn deren darunter waren, hatten sie sich genug verändert; aber bei alledem ließ sich doch gar nicht sagen, wie verdrießlich ihm der Anblick war.

»Ach, ich Armer!« dachte er; »da sehe man nun, ob sie dumme Streiche machen! Es konnte ja auch nicht anders sein, ich hätte mich dessen von einem Manne seiner Art versehen müssen. Aber was will er denn machen? Will er Krieg anfangen? Will er den König spielen, er? Ach, ich Armer! In solchen Zeitläufen möchte man sich wieder in die Erde verkriechen können, und der sucht alles auf, um sich bemerkbar zu machen, um in die Augen zu fallen; es scheint, als ob er sie einladen wollte!«

»Sehen Sie wohl, Herr Pfarrer,« sagte Perpetua zu ihm, »ob hier brave Leute sind, die uns zu verteidigen wissen werden? Sie mögen nur kommen, die Soldaten, die machen sich anders als unser Bauernvolk, das zu nichts taugt als Reißaus zu nehmen.«

»Still,« antwortete Don Abbondio leise und erzürnt; »still; Ihr wißt nicht, was Ihr sprecht. Bittet den Himmel, daß die Soldaten Eile haben oder nichts davon erfahren, was hier vorgeht, und daß man den Ort wie eine Festung zurichtet. Wißt Ihr denn nicht, daß es der Soldaten Handwerk ist, Festungen einzunehmen? Sie werden nichts mehr verlangen als das. Sturmlaufen ist ihnen gerade wie zur Hochzeit gehen; denn alles, was sie vorfinden, gehört ihnen, und die Menschen lassen sie über die Klinge springen. Ach, ich Armer! Schon gut, ich werde zusehen, ob ich mich nicht irgendwie auf eine von den Klippen da in Sicherheit bringen kann. In eine Schlacht kriegen sie mich nicht mit. Oh, in eine Schlacht kriegen sie mich nicht mit!«

»Sie fürchten sich also auch davor, daß man Ihnen beisteht und Sie verteidigt ...?« hob Perpetua wieder an. Don Abbondio unterbrach sie aber barsch, wenn auch immer leise: »Still! und seht Euch wohl vor, daß Ihr nichts von den Reden ausplaudert: wehe! Erinnert Euch, daß man hier immer eine gute Miene machen und alles gutheißen muß, was man sieht.«

Bei der »Übeln Nacht« trafen sie wieder einen Posten Bewaffneter an, vor denen Don Abbondio demütig den Hut abzog, indem er innerlich zu sich sagte: »Wehe mir! Ist es doch ordentlich, als ob ich in ein Lager gekommen wäre.« – Hier hielt die Barutsche still, sie stiegen aus; Don Abbondio bezahlte in der Eile, entließ den Fuhrmann und betrat mit seinen beiden Gefährtinnen den Weg in die Höhe, ohne einen Laut von sich zu geben. Der Anblick der Örtlichkeit erweckte in seiner Einbildung, vermischt mit den gegenwärtigen Ängsten, das Angedenken an diejenigen, die er schon früher hier ausgestanden hatte. Und Agnes, die diese Orte noch niemals erblickt und sich davon in ihrem Innern ein wunderliches Bild entworfen hatte, das sich ihr ein jedesmal vorstellte, wenn sie daran dachte, was hier vorgegangen sei, kam jetzt, wo sie sie vor sich sah, so wie sie wirklich waren, gleichsam zu dem erneuten und lebendigeren Gefühl dieser schmerzlichen Erinnerungen.

»Ach, Herr Pfarrer!« rief sie aus, »wenn ich bedenke, daß meine arme Lucia diese Straße gezogen ist! ...«

»Wollt Ihr stillschweigen? Unverständige Frau!« schrie ihr Don Abbondio ins Ohr. »Sind das Dinge, die man hier zur Sprache bringt? Wißt Ihr nicht, daß wir in seinem Hause sind? Ein Glück, daß Euch jetzt niemand hört; aber wenn Ihr auf diese Weise schwatzt ...«

»Oh!« sagte Agnes, »nunmehr ist er ja ein Heiliger! ...«

»Schweigt still!« raunte ihr Don Abbondio ins Ohr. »Meint Ihr, man dürfe den Heiligen ohne Rückhalt alles sagen, was einem nur einfällt? Seid lieber darauf bedacht, ihm für das Gute zu danken, das er Euch erwiesen hat.«

»Oh, daran hatte ich schon gedacht; glauben Sie denn, daß ich nicht auch ein wenig Lebensart habe?«

»Lebensart ist, daß man dasjenige nicht sagt was mißfallen kann, besonders nicht gegen jemand, der nicht gewohnt ist, es sich sagen zu lassen. Und merkt es euch alle beide wohl, daß hier nicht der Ort ist, sich mit Klatschereien abzugeben und alles herauszusagen, was einem durch den Sinn fahren kann. Es ist das Haus eines großes Herrn, wie ihr wißt; ihr seht, was für Dienerschaft ringsumher auf den Beinen ist; es kommen Leute aller Art hierher; also vernünftig, wenn ihr könnt; wägt eure Worte ab, und vor allem sprecht wenig und nur wenn es notwendig ist, denn wenn man stillschweigt, sagt man niemals was Dummes.«

»Und Sie machen es doch viel schlimmer mit allen Ihren ...«

»Still!« rief Don Abbondio leise, zog zugleich hastig den Hut ab und machte eine tiefe Verneigung, denn indem er aufblickte, hatte er den Ungenannten wahrgenommen, der von oben herab ihnen entgegenkam. Dieser hatte Don Abbondio ebenfalls gesehen und erkannt und eilte auf ihn zu.

»Herr Pfarrer,« sagte er, als er nahe war, »ich hätte Ihnen wohl gern bei einer frohere« Gelegenheit mein Haus anbieten mögen; aber in jeder Weise freut es mich, daß ich Ihnen mit irgend etwas dienen kann.«

»Im Vertrauen auf Ihrer Gnaden große Gütigkeit,« versetzte Don Abbondio, »bin ich so dreist gewesen, unter diesen betrübten Umständen hierherzukommen und Ihnen beschwerlich zu fallen, und, so wie Ihre Gnaden sehen, habe ich mir auch das Herz gefaßt, Gesellschaft mitzubringen. Diese ist meine Haushälterin ...«

»Willkommen!« sagte der Ungenannte.

»Und diese,« fuhr Don Abbondio fort, »ist eine Frau, der Ihre Gnaden schon Gutes getan haben: die Mutter jener ... jener ...«

»Lucia,« sagte Agnes.

»Lucia!« rief der Ungenannte aus, und kehrte sich mit gesenkter Stirn zu Agnes. »Gutes, ich! Ewiger Gott! Ihr tut mir Gutes, daß Ihr hierher kommt, ... zu mir ... in dieses Haus. Seid mir willkommen. Ihr bringt den Segen herein.«

»I ja doch!« sagte Agnes; »zur Last werde ich Ihnen fallen. Auch,« fuhr sie fort, und näherte sich seinem Ohre, »habe ich Ihnen noch zu danken ...«

Der Ungenannte fiel ihr in die Rede, indem er sich auf das dringendste nach Lucia erkundigte, und sobald er alles von ihr gehört, kehrte er um, seine neuen Gäste nach dem Schlosse zu begleiten, und setzte dies ungeachtet ihres umständlichen Widerstandes durch. Agnes warf dem Pfarrer einen Blick zu, der besagen wollte: »Nun sehen Sie einmal, ob es not tat, daß Sie sich ins Mittel schlugen, um uns Ihren guten Rat zu geben?«

»Sind sie in Ihrem Kirchspiel angekommen?« fragte ihn der Ungenannte.

»Nein, gnädiger Herr, ich habe die Teufel nicht abwarten wollen,« entgegnete dieser. »Weiß der Himmel, ob ich ihren Händen lebendig entkommen wäre, um Ihrer Gnaden hier beschwerlich fallen zu können.«

»Wohlan, fassen Sie nur Mut,« hob der Ungenannte wieder an, »jetzt sind Sie in völliger Sicherheit. Hier herauf werden sie nicht kommen, und wenn sie sich ja mit uns messen wollten, so sind wir bereit, sie zu empfangen.«

»Wir wollen hoffen, daß sie nicht kommen,« sagte Don Abbondio. »Und ich höre,« fügte er hinzu und deutete mit dem Finger auf die Berge, die auf der entgegengesetzten Seite das Tal einschlossen, »ich höre, daß da drüben noch ein anderer Haufen Kriegsvolk umherstreicht, wenn nur ... wenn nur ...«

»Es ist wahr,« erwiderte der Ungenannte, »aber zweifeln Sie nicht, daß wir auch für sie bereit sind.«

»Zwischen zwei Feuern,« – sagte Don Abbondio bei sich; »recht eigentlich zwischen zwei Feuern. Wohin habe ich mich verleiten lassen! Und von zwei Vetteln! Und der scheint ordentlich hineinwaten zu wollen! Ach, was für Menschen gibt es doch auf der Welt!«

In der Feste angekommen, ließ der Herr Agnes und Perpetua in eine Stube der den Weibern angewiesenen Wohnung, die von den vier Seiten des zweiten Hofes drei einnahm, in den hinteren Teil des Gebäudes führen, der auf einem hervorragenden vereinzelten Felsen über einem Abgrunde stand. Die Männer wohnten auf der rechten und linken und auf der Seite des anderen Hofes, die nach der Ebene zu lag. Das Mittelgebäude, welches die beiden Höfe trennte, und wieder das eine mit dem anderen durch einen weiten offenen, dem Haupttore gegenüber befindlichen Gang verband, war teils mit den Lebensmitteln angefüllt, teils mußte es zur Aufbewahrung der Sachen dienen, die die Flüchtigen da oben unterbringen wollten. In dem Männerquartiere war ein kleines Gemach für die Geistlichen bestimmt, die ankommen könnten. Der Ungenannte begleitete Don Abbondio in Person dahin, der der erste war, welcher es in Besitz nahm.

Drei- bis vierundzwanzig Tage hielten sich unsere Flüchtlinge inmitten einer fortwährenden Bewegung und in großer Gesellschaft, die anfangs immer mehr anwuchs, doch ohne erhebliche Abenteuer, in der Feste auf. Es verging beinahe kein Tag, daß nicht zu den Waffen gegriffen wurde. Es kommen Landsknechte daher, auch Cappelletti haben sich gezeigt. Bei jeder Nachricht sandte der Ungenannte Kundschafter aus, nahm, wo es nottat, Leute mit sich, die er dazu immer in Bereitschaft hatte, und zog mit ihnen zum Tale hinaus, in der Richtung, von wannen die Gefahr drohen sollte. Und es nahm sich seltsam aus, eine Schar rüstiger, bis an den Hals bewaffneter Kerle in Reihe und Glied wie Soldaten von einem wehrlosen Manne angeführt zu sehen. Meistens waren es Fouragierer und verstreute Plünderer, die sich davonmachten, ehe sie überrumpelt wurden. Einmal aber erhielt der Ungenannte, indem er einigen von diesen nachsetzte, um sie zu lehren, nicht wieder in die Gegend zu kommen, Kunde, daß ein kleines Dörfchen in der Nähe überfallen worden sei und geplündert werde. Es waren Landsknechte von verschiedenen Heerhaufen, die, zurückgeblieben um Futter einzuholen, sich zusammengerottet hatten und nun unversehens über die Ortschaften herfielen, in deren Nähe das Heer übernachtete; sie beraubten die Einwohner und brandschatzten sie auch. Der Ungenannte hielt eine kurze Anrede an seine Fußknechte und ließ sie auf das Dörfchen losmarschieren.

Sie langten unvermutet darin an: die Rotte, die gesonnen gewesen, nur auf Raub auszuziehen, hielt, als sie sich eine geordnete, streitfertige Schar über den Hals kommen sah, mitten in ihrer Plünderung inne und machte sich eiligst, ohne einer auf den anderen zu warten, nach der Gegend von dannen, wo sie hergekommen waren. Er verfolgte sie eine Strecke, ließ dann Haltmachen, einige Zeit warten, ob noch etwas geschähe, und kehrte endlich um. Und wie er in das gerettete Dörfchen einzog, mit welchen Beifallsrufen und welchen Segnungen das Fähnlein der Befreier und sein Anführer da begleitet wurden, ist nicht zu sagen.

In der Feste kam unter dieser versammelten Menge verschiedenen Standes, Alters und Geschlechts und verschiedener Sitten nicht die geringste Störung von Bedeutung vor. Der Ungenannte hatte an verschiedenen Orten Wachen ausgestellt, die alle darauf achteten, jede Unordnung mit dem Diensteifer zu verhindern, den ein jeder in allem beobachtete, wovon er ihm Rechenschaft abzulegen hatte.

Auch hatte er die Geistlichen und angesehensten Männer, die sich unter den Beherbergten befanden, ersucht, umherzugehen und Aufsicht zu halten. Und sooft er konnte, machte er selbst die Runde, um sich allenthalben zu zeigen; aber auch in seiner Abwesenheit diente der Gedanke, in wessen Hause man war, dazu, den, der es etwa nötig gehabt hätte, im Zaume zu halten. Ohnedies waren es lauter geflohene und deshalb im allgemeinen zur Ruhe geneigte Leute, die Gedanken an Haus und Habe, bei einigen auch an Verwandte und Freunde, die in der Gefahr zurückgeblieben, die Nachrichten, die von außen hier eintrafen, erhielten und verstärkten diese Stimmung immer mehr, indem sie die Gemüter niederdrückten.

Es gab freilich auch sorgenfreie Köpfe, Menschen von derberer Natur und frischerem Mute, die es sich angelegen sein ließen, diese Tage in Heiterkeit zu verbringen. Sie hatten ihre Häuser verlassen, weil sie nicht stark genug gewesen, sie zu verteidigen; aber sie fanden keinen Geschmack daran, etwas zu beweinen und zu beseufzen, dem nicht abzuhelfen war, noch in der Einbildung die Verwüstung sich vorzustellen und zu betrachten, die sie schon zeitig genug mit eigenen Augen sehen würden. Familien, die sich kannten, waren miteinander gegangen und hatten sich droben angetroffen; neue Freundschaften waren gestiftet worden, und die Menge hatte sich nach Gewohnheiten und Neigung in Häuflein eingeteilt. Wer Geld hatte und bescheiden war, ging und aß im Tale zu Mittag, wo zu dem Behufe in der Geschwindigkeit Schänken und Wirtshäuser errichtet worden waren. In einigen wechselten die Bissen mit Ach! und Weh! ab, und war es nicht erlaubt, von etwas anderem als vom Unglück zu sprechen; in anderen rief man sich das Unglück nicht anders ins Gedächtnis, als um zu sagen, daß man nicht daran denken müsse. An den, der sich die Ausgabe nicht machen konnte oder wollte, wurde im Schlosse Brot, Suppe und Wein ausgeteilt, außer einigen Tafeln, die alle Tage für diejenigen gedeckt waren, die der Hausherr ausdrücklich dazu eingeladen hatte, und unsere Bekannten gehörten zu dieser Zahl.

Um nicht ihr Brot mit Sünden zu essen, hatten Agnes und Perpetua gewollt, daß man ihnen die Bedienung mit übertrüge, die eine so große Wirtschaft erforderte, und darin verbrachten sie einen guten Teil des Tages, den übrigen in Plaudereien mit gewissen Freundinnen, die sie sich gemacht hatten, und mit dem armen Don Abbondio. Dieser hatte zwar nichts zu tun, langweilte sich aber doch nicht, die Furcht leistete ihm Gesellschaft. Die eigentliche Furcht vor einem Angriff, glaube ich, mochte ihm nun wohl vergangen sein, oder wenn er sie dennoch hatte, so machte sie ihm die geringste Sorge; denn ein jedesmal, daß er darüber nachdachte, mußte er einsehen, wie wenig sie begründet wäre. Aber die Vorstellung des von der einen wie von der anderen Seite von grausamen Soldaten überzogenen benachbarten Landes, die Waffen und Bewaffneten, die er immer um sich sah, ein Kastell, der Gedanke an so viele Dinge, die alle Augenblicke in einer solchen Lage geschehen konnten, alles hielt ihn in einer bestimmten, allgemeinen, unausgesetzten Furcht befangen; des Kummers gar zu geschweigen, den ihm der Gedanke an sein armes Haus verursachte. Die ganze Zeit über, die er an dieser Freistätte zubrachte, entfernte er sich davon nicht weiter als auf Wurfweite, und niemals setzte er einen Fuß den Abhang hinunter; sein einziger Spaziergang ging nach dem Schloßplatze hinaus und von dort bald nach der einen, bald nach der anderen Seite des Schlosses hin, um die Klippen und Abstürze hinunterzusehen und zu erforschen, ob nicht irgendein wegsamer Paß, irgendein schmaler Fußpfad da wäre, wo er für den Fall eines Kampfgewühls einen Schlupfwinkel suchen könnte. Vor allen seinen Gefährten in der Freistätte verneigte er sich tief, und alle begrüßte er umständlich, aber nur mit äußerst wenigen ging er um; seine gewöhnlichste Unterhaltung führte er, wie wir gesagt haben, mit den beiden Frauen; gegen diese schüttete er sein Herz auf die Gefahr hin aus, daß Perpetua ihm eins verabfolgte und sogar Agnes ihn beschämte. Bei Tische dann, wo er nicht lange blieb und sehr wenig sprach, hörte er die Neuigkeiten von dem entsetzlichen Durchzuge, die alle Tage, entweder von Dorf zu Dorf und von Mund zu Mund gehend, einliefen, oder von jemand heraufgebracht wurden, der anfänglich hatte zu Hause bleiben wollen und zuletzt geflüchtet, ohne daß er irgend etwas hätte retten können, und vielleicht noch übel zugerichtet war, und Tag für Tag gab es eine neue Unglücksgeschichte. Einige Neuigkeitskrämer vom Handwerk sammelten sorgfältig alle Gerüchte, sichteten alle Berichte und teilten dann den anderen den Kern davon mit. Man stritt sich, welches die eingeteufeltsten Regimenter wären, ob das Fußvolk oder die Reisigen es schlimmer trieben; man machte, so gut es gehen wollte, verschiedene Anführer namhaft, erzählte sich von einigen ihre früheren Taten, zählte die einzelnen Nachtquartiere und Märsche auf: an dem Tage verbreitete das Regiment sich über die und die Dörfer, morgen würde es über die herfallen, wo unterdessen schon dies und jenes andere schlimmer als der Teufel hauste. Vor allem suchte man sich zu unterrichten und berechnete, was für Regimenter nach und nach über die Brücke von Lecco kamen, denn von diesen konnte man annehmen, daß sie fort wären und in Wahrheit das Land verlassen hätten; es zogen Wallensteins Reiter darüber, Marradas Fußvölker, die Reiter von Anhalt, das Fußvolk von Brandenburg und alsdann Montecuculis und Ferraris Reiterei, und Altringer, und Fürstenberg, und Colloredo, darauf die Kroaten, nach diesen Torquato Conti und immer andere und andere; als es dem Himmel gefiel, zog auch Galasso darüber, und dies war das letzte. Die fliegende Schwadron, Venetianer, zog endlich auch von bannen, und das ganze Land zur Rechten und zur Linken befand sich frei. Schon hatten die aus den zuerst überzogenen und geräumten Dorfschaften angefangen die Feste zu verlassen, und alle Tage machten Leute Platz, so wie man nach einem herbstlichen Gewitter aus den belaubten Ästen eines großen Baumes von allen Seiten die Vögel hervorfliegen sieht, die darunter Schutz gesucht hatten. Ich glaube, daß unsere drei die letzten waren, die fortgingen, und dies zwar, weil es Don Abbondio so wollte, der besorgte, wenn man gleich nach Hause zurückkehrte, würde man noch Landsknechte vorfinden, die als Nachzügler hinter dem Heere sich gehalten hätten. Perpetua mochte sagen, was sie wollte, daß man, je länger man zaudere, desto mehr Bequemlichkeit den Schelmen im Lande gewähre in das Haus einzudringen und vollends reine Wirtschaft zu machen; wenn es darauf ankam seine Haut zu wahren, war es immer Don Abbondio, der siegte, ausgenommen, daß die allzu dringende Gefahr ihn etwa hatte die Fassung verlieren lassen.

An dem zur Abreise festgesetzten Tage ließ der Ungenannte bei der »Übeln Nacht« eine Kutsche in Bereitschaft stehen, in die er schon eine Ausstattung an Weißzeug für Agnes hatte schaffen lassen. Er zog sie beiseite und bewog sie, noch ein Päckchen Scudi von ihm anzunehmen, um die Verwüstung wieder gutzumachen, die sie zu Hause antreffen würde, wiewohl sie, mit der Hand auf die Brust schlagend, wiederholt beteuerte, daß sie noch welche von den alten hier hätte.

»Wenn Ihr Eure gute arme Lucia sehen werdet ...« sagte er ihr zuletzt. »Ich weiß schon, daß sie für mich betet, seitdem ich ihr so viel Böses zugefügt habe, so sagt ihr, daß ich ihr danke und Gott vertraue, ihr Gebet werde sich auch in eben so vielen Segen für sie verkehren.«

Er wollte dann seine Gäste alle drei bis zur Kutsche begleiten. Die demütigen und inbrünstigen Danksagungen Don Abbondios und Perpetuas Bücklinge stelle sich der Leser selbst vor. Sie fuhren ab, sie machten, der Zusage gemäß, einen kleinen Halt vor dem Hause des Schneiders, aber ohne zum Sitzen zu kommen, und vernahmen hunderterlei Dinge vom Durchzuge: die gewöhnliche Geschichte von Räubereien, Schlägen, Verwüstungen, Unzucht; aber hier hatten sich glücklicherweise keine Landsknechte blicken lassen.

»Ach, Herr Pfarrer!« sagte der Schneider, und reichte ihm den Arm, um wieder in die Kutsche zu steigen; »es ließen sich gedruckte Bücher von einer solchen Zerstörung anfüllen.«

Nachdem sie wieder eine Weile gefahren waren, begannen unsere Reisenden mit ihren eigenen Augen etwas von dem zu sehen, was sie sooft hatten schildern hören: die Weingärten beraubt, aber nicht wie nach der Lese, sondern gleich als ob Hagel und Sturmwetter zusammen über sie gekommen wären; die Reben an der Erde, verzerrt und zertreten; die Pfähle herausgerissen, der Boden zerstampft und mit Splittern, Blättern und Gestrüpp bedeckt, die Bäume gespalten und geknickt, die Hecken durchlöchert, die Gatter weggeschnappt. In den Dörfern dann zerbrochene Türen, zerrissene Fenster, Stroh, Lumpen, Trümmer haufenweise oder auf das Pflaster der Straße verstreut; eine drückende Luft, übelriechende Dämpfe quollen aus den Häusern; von den Landleuten fegte dieser Unflat heraus, jener besserte, so gut es anging, eine Tür wieder aus, andere standen zusammen da und weinten und wehklagten miteinander, und wie die Kutsche vorüberfuhr, streckten sich hier und da Hände an die Schläge aus und flehten um Almosen.

Mit diesen Vorstellungen bald vor Augen, bald in Gedanken, und mit der Erwartung, das nämliche zu Hause bei sich zu finden, langten sie daselbst an und fanden in der Tat, was sie erwarteten.

Agnes ließ die Bündel in einen Winkel des kleinen Höfchens legen, der noch der reinlichste Ort ihres Hauses war, und fing darauf an es auszufegen, die wenige Habe, die sie ihr gelassen hatten, zusammenzulesen und wieder zu reinigen; ließ einen Tischler und einen Schmied kommen, um die Türen wieder in Ordnung zu bringen, und rief dann, indem sie die geschenkte Wäsche auspackte und ganz heimlich die neuen Goldstücke zählte, bei sich aus: »Das Unglück ist mein Glück, Gott und der heiligen Jungfrau und dem guten Herrn sei es gedankt; ich kann recht eigentlich sagen, daß das Unglück mein Glück geworden ist.«

Don Abbondio und Perpetua treten in das Haus ein, ohne Schlüssel nötig zu haben; bei jedem Schritte, den sie in dem Flur weiter taten, fühlen sie einen Modergeruch, einen pestilenzialischen Gestank, einen giftigen Dampf zunehmen, der sie zurückstößt; mit der Hand vor der Nase dringen sie bis zum Eingang der Küche; sie treten auf den Fußspitzen ein, suchen die Stellen aus, wo sie hintreten können, um den ärgsten Unflat des stinkenden Strohes nicht zu berühren, das den Estrich bedeckt, und werfen einen Blick ringsumher. Es war nichts mehr ganz; aber Bruchstücke und Überbleibsel dessen, was es gewesen war, sah man hier und anderwärts in jedem Winkel: Fittiche und Federn von Perpetuas Hühnern, Fetzen von Wäsche, Blätter aus Don Abbondios Kalendern, Scherben von Küchengeschirr, alles übereinander oder umhergestreut. Allein auf dem Herde ließen sich die Spuren einer gewaltigen Plünderung zusammengedrängt wahrnehmen, gleichwie vielerlei Gedanken, die ein höflicher Mann in einem weitschichtigen Redesatze andeuten will. Es waren da, sage ich, die Überbleibsel von kleinen und großen erloschenen Feuerbränden, die entnehmen ließen, daß sie die Armlehne eines Stuhles, ein Tischbein, der Türflügel eines Schrankes, ein Bettbrett, eine Daube des Fäßchens, das den Wein enthalten, der Don Abbondios Magen wiederherstellte, gewesen waren. Alles andere war Asche und Kohlen, und mit den Kohlen selbst hatten die Verwüster zur Ergötzung sich bestrebt, Fratzen an die Wände zu schmieren mit gewissen viereckigen Mützen, oder mit gewissen Tonsuren, oder mit gewissen Vollmondsgesichtern, die Priester vorstellen sollten, und sie geflissentlich recht abscheulich und lächerlich zu machen: eine Absicht, die solchen Künstlern in Wahrheit nicht mißlingen konnte.

»Ach, die Säue!« rief Perpetua aus. »Ach, die Landstreicher!« Don Abbondio und sie flohen gleichsam zu einer anderen Tür hinaus, die nach dem Garten führte. Sie atmeten wieder auf, und gingen gerade auf den Feigenbaum zu; aber schon ehe sie dabei anlangten, sahen sie die Erde aufgewühlt und schrien beide zugleich auf. Angelangt fanden sie in der Tat anstatt des Schatzes das offene Loch. Hier gab es ein kleines Ärgernis: Don Abbondio begann mit Perpetua zu schelten, daß sie ihn schlecht verborgen habe; man stelle sich vor, ob diese so etwas auf sich sitzen lassen mochte; nachdem eins wie das andere sich ausgeschrien hatte, kehrten beide mit ausgestrecktem Arme und den Zeigefinger nach dem Loche gerichtet, murrend miteinander zurück. Und man kann sich darauf verlassen, daß sie allenthalben ungefähr das nämliche vorfanden. Sie mußten es sich wer weiß wie sauer werden lassen, das Haus wieder zu säubern und zu reinigen, und dies zwar um so mehr, als es in jenen Tagen ungemein schwer hielt, Beistand zu finden, und ich weiß nicht, wie lange es währte, daß sie sich gleichsam wie in einem Lager befanden und sich wohl oder übel behalfen, indem sie allmählich wieder Türen, Hausrat, Küchengeschirr mit von Agnes geliehenem Gelde ersetzten.

Überdies wurde der Unstern für eine Zeitlang auch noch der Samen zu anderen höchst verdrießlichen Zwistigkeiten; denn Perpetua brachte durch vielfaches Nachforschen, Herumspüren und Spionieren für ganz gewiß in Erfahrung, daß verschiedenes Geräte ihres Herrn, von dem man geglaubt hatte, es wäre von den Soldaten geplündert oder zerstört worden, anstatt dessen sich wohlbehalten bei Leuten im Dorfe befände, und setzte ihrem Herrn nunmehr zu, daß er sich rühren und das Seinige zurückfordern sollte. Eine unangenehmere Saite konnte man bei Don Abbondio nicht anschlagen, wenn man bedenkt, daß sein Eigentum in Händen von Schelmen, das heißt von solchen Leuten war, mit denen es ihm weit mehr darauf ankam, Frieden zu halten.

»Aber wenn ich nun einmal von so etwas nichts hören will,« sagte er. »Wievielmal soll ich Euch wiederholen: fort ist fort? Soll ich mich etwa darüber noch in Kreuz und Elend bringen, weil sie mir das Haus ausgeräumt haben?«

»Ich sage es ja,« antwortete Perpetua, »Sie ließen sich noch die Augen aus dem Kopfe kratzen. Wenn man einem anderen was wegnimmt, so ist das Sünde, aber bei Ihnen ist es Sünde, wenn man Ihnen nichts wegnimmt.«

»Aber so seht doch nur ein, was für unsinnige Reden das sind!« versetzte Don Abbondio. »Wollt Ihr wohl stillschweigen!«

Perpetua schwieg, aber nicht sogleich, und hinterher nahm sie jeden Anlaß wahr, um wieder davon anzufangen, so daß der arme Mann zuletzt so weit gebracht wurde, sich nicht die leiseste Klage mehr über dies oder jenes fehlende Gerät in dem Augenblicke, wo er seiner bedurft hätte, entschlüpfen zu lassen, weil es ihm mehr als einmal begegnet war, daß er sich hatte müssen sagen lassen: »Gehen Sie und holen Sie es bei dem und dem ab, der hat es, und würde es nicht bis zu dieser Stunde behalten haben, wenn er es nicht mit einem so schwachen Manne zu tun hätte.«

Eine andere und noch stärkere Unruhe machte es ihm, wenn er hörte, daß fortwährend noch alle Tage einzelne Soldaten durchkamen, wie er nur allzurichtig vermutet hatte, und er war deshalb in steter Angst, einen oder den anderen oder auch wohl einen ganzen Schwarm vor seiner Tür anlangen zu sehen, die er vor allen Dingen hatte schleunigst wiederherstellen lassen und mit großer Sorgfalt verrammelt hielt; aber Dank sei es dem Himmel, dies erfolgte nicht. Indessen waren diese Schrecken noch nicht vorüber, als ein neuer dazu kam.

Wir müssen aber hier den armen Mann beiseitelassen; es handelt sich um etwas ganz anderes als um seine Privatbesorgnisse, um die Unbilden einiger Ortschaften, um ein schnell vorübergehendes Ungemach.


 << zurück weiter >>