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Zweites Buch


I.
Wie die weiße Aline ein Ballet tanzen sah und was daraus folgte.

Die von dem Groß-Eunuchen geführte Untersuchung war werthvoll durch ihre Resultate; ihr Fehler lag in den Schlüssen.

Die weiße Aline bedurfte zu ihrer Flucht nicht der zwei Mitschuldigen, die Herr Nixis für seine Hypothese brauchte.

Ein Einziger hatte genügt.

Um Alles zu sagen: eine Einzige hatte genügt.

Die Flucht hatte sich in folgender Weise vollzogen:

Wir wissen bereits, daß zwei Tage vor der Flucht der Prinzessin eine Truppe französischer Tänzerinnen gekommen war, um dem Harem den Anblick ihrer rosigen Beine und ihrer blumengeschmückten Perrücken zu gewähren.

Zum ersten Male seit ihrer Geburt war die weiße Aline zu einer solchen Vorstellung zugelassen worden. König Pausol meinte die theatralische Erziehung seiner Tochter mit einem Ballet-Abend beginnen zu sollen, weil er fand, daß eine Pantomime weniger leicht zu verstehen und daher weniger gefährlich für das Nachdenken sei, als ein Schauspiel. Ueberdies spielen sich die Tänze immer bei einer unwahrscheinlichen Scenerie ab; im Leben begegnet man nicht solchen Persönlichkeiten, wie diese Tänze sie darstellen und man könnte nicht, ohne sich lächerlich zu machen, die graziösen Gesten nachahmen, durch welche sie schlimme Leidenschaften uns rhythmisch vorführen.

Alldies war sehr scharfsinnig erdacht und glücklicherweise hatte es die weiße Aline nicht nothwendig, erst zu begreifen, um zu bewundern.

Inmitten der hüpfenden, schwingenden und kreisenden Bewegungen der Tänzerinnen sah das Mädchen nur eine Sache, nämlich, daß ein sehr hübscher junger Mann, welcher vielleicht eine als verwunschener Prinz verkleidete Dame war, in jedem Tableau die glühenden Huldigungen von vierzig anderen Damen empfing und daß er sie wirklich verdiente.

Sie fand ihn wohlgebaut, elegant, stolz. Sie verglich seine Bewegungen mit jenen der Beamten und Bediensteten, welchen sie im Palaste begegnete und sie erkannte ihm den Preis der Anmuth zu. Ebenso erhielt er die Preise für Schönheit, Geist und Herz zuerkannt. Sie betrachtete ihn offenen Mundes, das Haupt auf die Schulter geneigt, mit einem so tiefen Ausdruck von Zärtlichkeit, daß die sie umgebenden Hofdamen davon sicherlich beunruhigt gewesen wären, wenn nicht sie selbst den Einzelheiten des Ballets mit einem ihre Aufmerksamkeit so vollständig gefangen haltenden Interesse gefolgt wären.

Nach der Tanz-Aufführung fragte die Prinzessin nach dem Namen dieser glänzenden Persönlichkeit. Man sagte, daß die Rolle von der Tänzerin Mirabelle dargestellt wurde.

– Wo wohnt jene schöne Person?

– Hinten im Parke, lautete die Antwort; in den Gesinde-Wohnungen; und nur noch zwei Nächte bis zu ihrer Abreise.

Wie sollte sie ihr bekannt geben, daß man mit ihr zufrieden sei? Durch ein Geschenk! rief eine schlimm berathene Hofdame.

Die weiße Aline dachte über die Sache nach.

In ihre Gemächer zurückgekehrt und ehe sie noch an ihre so minutiöse Nachttoilette ging, verlangte sie ein Bankbillet, um es in einen Umschlag zu thun. Einige Minuten später schloß sie sich in ihrem mit Zinzolin bespannten Kabinet ein, unter dem Vorwande, daß sie eine sehr intime Toilette vorzunehmen habe, bei welcher selbst die Hofdame überflüssig wäre; dann nahm sie an ihrem Tische Platz und vor jeder Ueberraschung geschützt, schrieb sie die folgenden Worte:

 

»Mein Fräulein! Sie sind sehr hübsch. Wollen Sie mit mir sprechen? Heute Nacht um zwei Uhr werde ich im Parke sein, unter dem großen Mandelbaum, neben der Quelle. Sagen Sie Niemandem, was ich Ihnen schreibe. Für alle anderen Leute enthält dieser Brief nichts als die Banknote. Nehmen Sie dieselbe an, um mich nicht zu verrathen.

Prinzessin Aline«.

 

Sie schob die Banknote zwischen die Blätter des kleinen Billets und schrieb als Adresse: An Fräulein Mirabelle. Dann verschloß sie das Briefchen mit Wachs, damit es nicht geöffnet werden könne.

Dieselbe Hofdame, welche in ihrer Herzenseinfalt den Rath gegeben hatte, der Tänzerin dieses Geschenk zu machen, übernahm es zum Überfluß, das Billet Derjenigen einzuhändigen, für die es bestimmt war. Bei dieser Handlung war sie zunächst von dem lobenswerthen Wunsche geleitet, eine Wohlthat auszuüben, vielleicht auch von der lebhaften Versuchung, zur Zeit der Ruhe inmitten der Balletdamen zu erscheinen.

Allein geblieben und auf ihrem weißen Bettchen liegend, wurde die weiße Aline von einer großen Erregung ergriffen. Um Ruhe zu finden, legte sie sich zuerst auf die rechte Seite, dann auf die linke Seite, auf den Rücken, auf den Bauch, setzte sich auf, streckte sich wieder aus und zog die Beine ein, allein sie hatte das Fieber in allen Lagen und instinktiv wich sie bis an den Rand der Matratze zurück, wie um neben sich irgend einem geheimnißvollen Besucher Platz zu machen.

Lange vor der festgesetzten Stunde erhob sie sich, schlüpfte mit ihren Füßen in ihre Pantöffelchen, öffnete die Fenstervorhänge und betrachtete den Mond, welcher das lange Zimmer mit seinem Licht erhellte.

Es war eine sternenhelle, warme, wohlige Nacht. Durch das offene Fenster sah Aline in der Ferne, jenseits der dunklen Rasenplätze und der unbeweglichen Gehölze die weiße Terrasse der Gesinde-Wohnungen, wo Mirabelle ihren Brief las.

– Was wird sie von mir denken? fragte sich die kleine Träumerin. Wird sie kommen? Vielleicht nicht. Vielleicht ist sie müde, vielleicht hat sie Furcht vor der Nacht …

Um sich die Zeit des Harrens zu vertreiben, zeichnete sie auf ihrer Schreibmappe eine Menge kleiner, ausgesprochen geometrischer Figuren, Kreise, Balken, Vierecke, Schnurrbärte, welche in Spiralen endigten. Sie schattirte sie mit vollkommener Genauigkeit und Zerstreutheit; dann begann sie, immer im Mondlichte, die Figur eines schönen Unbekannten zu zeichnen, welcher drei Haare und vierzig Wimpern hatte und das Auge viel größer als den Mund.

Allein die Kunst genügte nicht, um ihre Ungeduld zu dämpfen.

Sie kehrte vor ihren Spiegel zurück, ließ das lange, weiße Hemd zu Boden fallen und nahm die Besichtigung ihrer Person bei dem Punkte auf, wo sie sie unterbrochen hatte, als sie der Hofdame die Thüre ihres Kabinets öffnete. Sie nahm von ihrem Tischchen, wo ihre Parfum-Flaschen standen, Eisenkraut, Zitronen- und Heu-Essenz; solche Kräuterdüfte paßten ganz besonders zu einem Rendezvous unter den Bäumen und sie wusch damit vielleicht übermäßig den kleinen, nackten Körper, den sie so sehr liebte. Zwei Strümpfe mit Schnüren und ein Taghemd waren rasch angezogen, noch rascher das Mieder in einen Schrank geworfen. Nun zog sie eine sehr leichte Empire-Robe an, schloß den hochsitzenden Gürtel mit einer Doppelnadel, welche unter einer kleinen Schleife verschwand, und konstatirte, daß diese kleine List die mit jedem Tage kostbareren zwei Früchte ihrer jugendlichen Brust trennte und zugleich deutlicher hervortreten ließ.

Endlich schlug es drei Viertel vor der so sehr ersehnten Stunde.

Die weiße Aline setzte einen Hut – ebenfalls im Empire-Styl – auf und zog lange, dunkle Handschuhe an, welche den Oberarm unverhüllt ließen.

Sie war bereit.

Dann setzte sie sich auf das Gesims des offenen Fensters – ganz so wie der Groß-Eunuch es sehr richtig errathen hatte – hob die beiden Beine, drehte sich um sich selbst und sprang hinab. Dieser Sprung war nicht gefährlich, denn das Fenster lag im Erdgeschoß.

Mit geschlossenen Beinen fiel sie in ein frisch geordnetes Gartenbeet. Die Wachen behüteten den Park außen, aber nicht im Innern. Niemand sah sie, wie sie ihre Zimmer verließ.

Um kein Geräusch zu verursachen und um im Schatten zu bleiben, folgte sie den langen Alleen und den mit Gras bewachsenen Waldsäumen.

So eilig sie es auch hatte, das Ziel zu erreichen, wohin sie strebte, ging sie doch langsam, als ob ein gewisser Stolz ihr riethe, nicht als Erste anzukommen.

Doch die Andere hatte ohne Zweifel ebenso gerechnet, denn als die Prinzessin unter dem Mandelbaume eintraf, fand sie Niemanden.

Ein wenig verletzt nahm Aline ihren Spaziergang wieder auf und machte einen kleinen Umweg. Dann plötzlich beunruhigt und allmälig zweifelnd, ob man überhaupt kommen würde, verbarg sie sich in der Nähe des Baumes und schaute unablässig in der Richtung des weißen Gesinde-Hauses.

Plötzlich sah sie eine Erscheinung.

Mirabelle, welche begriffen hatte, daß sie jede zauberische Wirkung einbüßen würde, wenn sie sich in moderner Kleidung diesem Kinde zeigen würde, welches in ihrer Person einen verwunschenen Prinzen anbetete, hatte zu diesem Rendezvous, welches aus mehr als einem Grunde ihr gefiel, ihre Verkleidung beibehalten.

Und die weiße Aline sah mit Entzücken aus dem Hintergründe der Rasenplätze denselben jungen Mann auf sie zukommen, welchen die vierzig Damen so sehr angebetet hatten, aber noch viel schöner, wie er sein goldgesticktes Gewand in dem Silberlichte des Mondes bewegte und seine Augen auf sie heftete.

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