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Platzhalter

Eine bukolische Erzählung auf historischer Grundlage

»Dies Geschlecht ist unausrottbar«

Das Platzhalten ist ein sehr altes und sehr ernsthaftes Übel bei uns zulande. Und selbst wenn es scheinbar keinem schadet, bleibt es dennoch ein Übel, – sagte eine bedeutende und wahrheitsliebende Persönlichkeit und erzählte bei dieser Gelegenheit folgenden und wie mir scheinen will, nicht uninteressanten anekdotischen Vorfall aus alter Zeit. – Es handelt sich hierbei um den damaligen Finanzminister, den bekannten Grafen Cancrin. Ich schrieb die Erzählung gleich darauf genau so nieder, wie der Erzählende sie vortrug, und gebe sie hier fast mit denselben Worten wieder, mit denen ich sie seinerzeit zu hören bekam.


 

Erstes Kapitel

Graf Cancrin Graf Jegór (eigentlich Georg) Franzowitsch Cancrín, geb. 1774, wurde 1812 Generalintendant der russischen Armee und 1823 Finanzminister; starb 1845. Er war ein vortrefflicher Finanzmann und erwarb auch als Schriftsteller Bekanntheit; er schrieb deutsch. (Anmerkung des Herausgebers.) war tüchtig und gescheit, aber dabei ein großer Frauenjäger. Übrigens brachte es die damalige Zeit gewissermaßen mit sich, daß einfach jeder den Frauen nachlief. Späterhin wurde das im Finanzministerium sogar zur Tradition und auch der verstorbene Wróntschenko war ein gewaltiger Hofmacher, obwohl ihm jenes feine Spiel und die Liebenswürdigkeit abgingen, die Cancrin in so hohem Maße zu eigen waren. Denn dies war eben die herrschende Stimmung: noch an der Grabespforte spielte munter das Leben.

Und selbst die, denen die Schürzenjagd im Grunde genommen nichts bedeutete, gaben sich dennoch alle Mühe, nicht zu sehr hinter ihren Altersgenossen zurückzubleiben.

Wenn es schon nicht aus anderen Gründen geschah, hatte jeder, wenigstens der Ordnung zuliebe oder aus Anstandsgefühl seine Dame, für die er sorgte. Tänzerinnen waren die große Mode, oder Zigeunerinnen, zuweilen aber auch andere Persönlichkeiten in entsprechenden Positionen. Keinem war außerdem darum zu tun, seine kleinen Sünden irgendwie zu verheimlichen, häufig wünschte man sogar, daß davon gesprochen würde. Denn das gab der Gesellschaft Anlaß, über »die alten Sünder« zu scherzen. Verschiedene spaßhafte Anekdoten wurden von ihnen erzählt, und hierdurch wurden die alten Sünder bekannt und brachten sich als brave und amüsante vieux garçons in empfehlende Erinnerung.

Es kam auch vor, daß der Name des Sünders in Verbindung mit irgendeinem lustigen Spaß vor Personen genannt wurde, die dem Erwähnten nur nützlich sein konnten und darum legte man allgemein großen Wert darauf und verstand es, sich die Dinge zu Nutzen zu machen.

Es gab sogar einige alte Herren, die nicht ohne Absicht komische kleine Liebesaffären über sich selber erfanden und in Umlauf brachten, und die mit der Zeit hierin eine bemerkenswerte Virtuosität erlangten. Spätere Kritiker, die nicht genau über die Wirklichkeiten der vergangenen Zeit orientiert waren, schrieben die Neigung, »zu dritt den Morgentee zu nehmen« der nihilistischen Periode zu, doch sie irrten. Denn lange vor dem Auftauchen der Nihilisten war dies bereits Mode und wurde in viel breiterem Maßstabe betrieben, freilich war damals die Ansicht darüber eine wesentlich andere und der »Tee zu dritt« wurde keineswegs irgendwie tendenziös ausgelegt.

Daß jedoch die alten Herren zu jener Zeit überaus lustig waren und wie sehr ihre kleinen Sünden die Gesellschaft erheiterten, können Sie am besten aus dem Repertoire der Theater feststellen. Es kam keineswegs selten vor, daß man jemand in einem Stück direkt auf die Bühne brachte. So sind zum Beispiel »Die Neulinge in der Liebeskunst«, und »Seine Exzellenz, oder das Mittel zu gefallen« durchaus nach der Natur geschrieben. Heute hat man sogar die Titel dieser Stücke vergessen, damals aber kannte man im Theater die wirklichen Namen der auftretenden Personen und freute sich darüber. Und viele Schauspieler, besonders Martynow, pflegten sich absichtlich möglichst ähnlich zu schminken und jene Person, die sie im Sinn hatten, auf der Bühne geradezu zu kopieren. Es gab sogar einen Fall, daß jemand, der den Wunsch hatte, sich irgendwo in Erinnerung zu bringen, selber auf den Ausweg des Theaters verfiel und mit der Bitte zu Martynow kam, »ob es nicht möglich sei, so zu spielen, daß man ihn erkenne«. Martynow lachte herzlich über diesen Bittsteller, und lehnte sein Ansuchen nicht ab, nuancierte jedoch dann das Spiel irgendwie so, daß es dem achtbaren Manne fast geschadet hätte. Trotzdem ging die Sache gut ab, jener brachte sich dort, wo es nottat, in Erinnerung und erhielt eine respektable Stellung.

Im Finanzministerium diente damals eine Schar begeisterter Frauenjäger und nicht der letzte dieser Schar war der Finanzminister selber. Verliebte Abenteuer hatte Graf Cancrin, wie jeder sehr kluge Mensch mit lebhafter Phantasie, ziemlich viele auf dem Gewissen, zu jener Zeit aber, in der jene komische Begebenheit, von der jetzt erzählt werden soll, vorfiel, waren die Körperkräfte des Grafen bereits ins Stadium eines leisen Verfalls geraten und so unterhielt er ohne große Lust und mehr zur Wahrung des Anstandes eine Beziehung zu einem gewissen kleinen Dämchen von halb intendanzamtlicher Herkunft.

Durch seine frühere Tätigkeit war Graf Cancrin in Intendanzkreisen sehr bekannt, vielleicht aber auch durch seine einstmalige Betriebsamkeit, mit der er den niedlichen Dämchen nachstieg, den »Joli-Schnäuzchen«, wie er sie nannte. Es folgen drei Zeilen des russischen Originales, die wir auslassen, da sie auf einem unübersetzbaren Wortspiel begründet sind. (Anmerkung des Herausgebers.)

Ich weiß nicht, welches Ihre Meinung ist, meinerseits höre ich aus dieser Bezeichnung etwas Lustiges, Junges und Sorgloses, und kann im Wort »Joli-Schnäuzchen« nichts Grobes, nichts, was das schöne Geschlecht auch nur irgendwie verletzen könnte, finden.

In jener vergangenen Periode also, als der Graf noch die Geschäfte der Intendantur leitete, hatten ihn diese »Joli-Schnäuzchen« stark beschäftigt und nicht wenig gekostet; in der Zeit aber, in der meine Erzählung spielt, »wahrte« er nur noch »den Anstand des Kreises« und war bereits berechnend geworden, und auch hinsichtlich der von den Damen erforderten Galanterie ein wenig lässig.

Das »Joli-Schnäuzchen«, das er in jener Zeit unterhielt, war freilich ausgerechnet eine Person mit einer gewissen Bildung und einem sehr lebhaften Charakter: sie verlangte Aufmerksamkeit, sie konnte böse und launisch werden, sie machte ihm Szenen und kurzum, sie verlangte überhaupt, daß er sich mehr um sie kümmere und sie zerstreue. Der Graf aber war schon alt und war sehr beschäftigt und konnte außerdem ihren Forderungen auch seiner Stellung wegen nicht voll und ganz nachkommen. Und deshalb wünschte er, – übrigens entsprach das auch vollkommen dem Zeitgeschmack – daß ein Teil seiner Bemühungen, die junge Person zu zerstreuen, von jemand anderem getragen würde. Das galt dazumal nicht nur als zulässig, sondern wurde sogar allgemein befürwortet. Und nur das eine wurde von den Gesetzen der Etikette verlangt, daß dieser Platzhalter ein Mann von großem Taktgefühl sein mußte und die Bedeutung der Hauptperson, oder des Patrons, nicht herabsetzen durfte.

Diesen Damen war es gestattet, an allen öffentlichen Orten, wo immer es nur anging, mit ihren Adjutanten zu erscheinen, und keinem erwuchs hieraus ein Schaden, denn die Gesellschaft klatschte zu gern darüber: »Also dieser Fürst N.N., er betrügt den Grafen Z. Z.« Obwohl es von keiner Seite auch nur den geringsten Betrug gab, denn alles geschah ja mit allgemeiner Zustimmung, und der Namen eines wertvollen »Attachés« machte den Namen seines Patrons nur noch berühmter. Der Alte pflegte seine Visite meist am Morgen zu machen, er trank ein Täßchen Kaffee oder Schokolade und ging dann, nicht ohne ein gewichtiges Päckchen mit Geld zu hinterlassen, gleich darauf aber kam sein Platzhalter, und dann begann der glückselige Zeitvertreib.

Das gegenwärtige »Joli-Schnäuzchen« des Grafen war jedoch kapriziös und eine kleine Wilde: sie wollte mit keinem Menschen Bekanntschaft schließen und belastete den Grafen durch ihre unablässigen Anforderungen in hohem Maße.

Er wünschte sich bequemere Beziehungen, sie aber langweilte sich stets und sang ihm ein anderes Liedchen vor.

»So ohne Teilnahme des Herzens,« sagte sie, »kann ich nicht leben, – ich bin nur für ernstere Verhältnisse.«

Der Graf versuchte einige Male vorstellig zu werden, daß es ihm völlig unmöglich sei, immer bei ihr zu sitzen und »die Regung des Herzens« zu zeigen, sie aber wollte nichts davon hören:

»Das ist Ihre Pflicht. Wollen wir jetzt ausgehen, oder soll ich Ihnen etwas vorlesen oder vorspielen?«

Und um nichts in der Welt wollte es ihr in den Kopf, daß dies für ihn, den Minister, nicht anginge. Er versuchte daher, ihre Forderungen auf anderem Wege zu befriedigen und machte auch in diesem Sinne einen sehr gescheiten und kühnen Schritt, aber ungeachtet all seiner Bemühungen kam dabei nichts als ein sehr lächerlicher Kasus heraus.

 

Zweites Kapitel

Wenn der Sommer kam, lebte der Graf im Vorort Ljeßnóje, der damals im Ruf stand, ein sehr hübscher Platz für Villen zu sein. Cancrin selber war es, der den Anstoß zur Besiedelung dieses Ortes gegeben hatte, und wo er es nur konnte, begünstigte er Ljeßnoje.

Deswegen vermutlich lebten hier noch lange danach die Direktoren des Finanzministeriums, aber es war schon nicht mehr dasselbe. Sie waren nicht imstande, den Ruhm Ljeßnojes aufrechtzuerhalten – und so sank es denn allmählich. Cancrin brachte seine Dame ein wenig abseits unter und zwar im Neuen Dorf, das dazumal ebenfalls noch ziemlich reinlich und nett war. Die meisten Villen dieses Ortes wurden von liebebedürftigen Persönlichkeiten, die sich namhafter Gönner erfreuten, bewohnt. Die Villen dieser Damen waren leicht erkennbar und das geübte Auge konnte sie gleich an den hübschen, undurchsichtigen Vorhängen feststellen, oder etwa daran, daß in ihnen Couplets dieser Art gesungen wurden:

»Sündig kann uns niemand nennen;
Dennoch, sagt, ist dann und wann
Nicht der Böse zu erkennen?
Wie?«

worauf der Chor sogleich einfiel:

»'s ist schon etwas dran!
s' ist schon etwas dran!«

Ja, dort lebte es sich lustig, sehr lustig! Und wohin nur ist das alles verschwunden, wohin verflogen seit der Ausbreitung des Krämertums? …

Als das Lautengeklimper und das Singen anhub: »O du Seelchen mein, schönes Mädchen du! Du mein Sternchen du, meine Reizende,« da war es auch bald mit den schalkhaften Couplets aus.

»Jedes Ding unter der Sonne hat seine Zeit,« und sogar die Couplets sind diesem Gesetz unterworfen.

Und so wird auch die Operette vergehen, gegen die man heute vergebens ins Feld zieht.

Alles muß irgendwann einmal vergehen, wenn seine Zeit gekommen ist.

Cancrin begab sich zu seiner Einsiedlerin immer zu Pferd und nahm niemals einen Begleiter mit, wichtige Dienstangelegenheiten hinderten ihn freilich, diese Besuche so häufig zu machen, als sein durch die ernsthaften Forderungen ihm ein wenig unbequem gewordenes »Joli-Schnäuzchen« von ihm verlangte. Und so kam wenig Gescheites dabei heraus: sie langweilte sich und war launisch, er aber, von Fragen des Staates überbürdet und in Literatur aufgehend, konnte es ihr überhaupt nicht mehr recht machen. Und dazu verstand sie es gut, ihm solche Szenen zu machen, daß der Graf manchmal sogar Angst hatte, allein zu ihr zu gehen.

Neben der Villa des Grafen Cancrin wohnte in jenem Sommer in Ljeßnoje ein junger, kluger und sehr wohlerzogener, aber auch zu seiner Zeit sehr schöner Garde-Kavallerist P. N. K–schin. Er war ein Adliger aus dem Orlowschen Gouvernement und ich kannte sowohl seinen Vater, als auch das ganze Geschlecht der K–schins: sie waren alle überaus klug und überaus schön, alle ordentlich und wohlgewachsen und schwarzäugig, – kurz, lauter vortreffliche Menschen.

Dieser interessante Nachbar des Grafen führte ungeachtet seiner Jugend und seines militärischen Ranges, mit dem wir gewöhnlich eine Vorstellung von Leidenschaften für ein ungebundenes Dasein verbinden, das allerzurückgezogenste Leben, – er saß immer zu Hause und las entweder Bücher, oder er spielte Geige.

Sein Geigenspiel war es, das die Aufmerksamkeit des Grafen auf ihn gelenkt hatte, denn dieser war ebenfalls musikalisch und sogar nicht ohne Begabung. Der Graf spielte ebenfalls Geige und zwar stets in einem dunklen Zimmer, das an sein Arbeitszimmer stieß; dieses war gleichfalls halbdunkel, da die Fenster durch Bäume verschattet waren und außerdem mit dunkelgrünem Marly überzogene Rahmen davorstanden.

Wenn der Offizier zu spielen begann, ließ der Graf die Feder sinken und hörte zu, und er fragte, von seinem Nachbarn unwillkürlich interessiert, einmal sogar seinen lettischen Kammerdiener:

»Wer mag das sein, der dort nebenan so gut spielt?«

Jener antwortete:

»Ein Offizier, Ew. Durchlaucht.«

»Wie heißt er denn, – welches Regiment?«

Der Kammerdiener antwortete:

»Ich weiß nicht.«

»Nun, dann befehl ich dir, es zu erfahren und mir zu berichten.«

Der Kammerdiener brachte alles in Erfahrung und berichtete abends, als er den Grafen auskleidete, daß der Nachbar ein junger, alleinstehender Offizier des allerelegantesten Kavallerie-Regiments sei, und daß er, obgleich er wohlhabend wäre, sehr bescheiden lebe. Das gefiel dem Grafen. Ein junger Mann und Militär, und dennoch immer zu Hause und hinter Büchern, – also zweifellos ein interessanter und auch ein sittlicher Mensch. Ein Windhund oder ein Bummler könnte diese Lebensweise nicht lange aushalten, der würde immer hin und her laufen und einem jedenfalls immer vor den Augen schwirren. Noch vor dem Einschlafen schoß dem Grafen etwas durch den Kopf, am Morgen aber, als er aufwachte, hörte er den Offizier auf der feinsten Saite eine besonders schwierige Violinsache von Paganini spielen.

»Das ist mir ein gewandtes Bürschlein, dieses Offizierchen!« dachte der Graf und äußerte den Wunsch, den Nachbarn zu sehn. Und im gleichen Augenblick trat jener zufällig ans Fenster und spielte dort weiter.

Der Kammerdiener meinte:

»Belieben Ew. Durchlaucht nur hinzuschauen: das Offizierchen ist jetzt gut zu sehen.«

Der Graf schaute und entgegnete dem Kammerdiener:

»Du bist ein Narr, Bruder. Ist denn der ein ›Offizierchen‹? Das ist mir ein richtiger Offizier, und sogar ein ganz gehöriger Offizier!«

Und der Graf verspürte das Verlangen, mit seinem Nachbar bekannt zu werden.

Als der junge Offizier am nächsten Tage vom Baden zurückkam und am Gartenzaun des Grafen Cancrin vorüberging, stand dieser bereits dort und sprach ihn an:

»Um Vergebung, Leutnant, – sind Sie das, der nebenan so gut Geige spielt?«

»Ja, Durchlaucht, ich spiele Geige. Zwar wage ich nicht, anzunehmen, daß ich gut spiele, und ich bitte um Verzeihung, wenn ich Sie mit meinem Spiel belästigt haben sollte. Im übrigen versuchte ich in Erfahrung zu bringen, um welche Zeit ich Ihre Ruhe am wenigsten störe.«

»Oh, nein, nein, keineswegs. Tun Sie mir die Liebe und spielen Sie weiter! Ich spiele selber und bitte um Ihre Bekanntschaft. Auch bei meiner Frau versammelt sich eine »Klimperei«. Kommen Sie ohne Zeremonien als Nachbar zu mir, wir wollen zusammen spielen.«

Der junge Mann verneigte sich und ging, nachdem der Graf ihm die Stunden angegeben, zu denen man ihn ohne Zeremonien »als Nachbar« besuchen dürfte.

Der Kavallerist dankte dem Grafen und wußte von der Einladung mit großem Takt Gebrauch zu machen. Er kam zum Grafen nicht allzubald und ließ doch nicht allzulange auf seinen Besuch warten, sondern machte es genau so, wie die Höflichkeit, aber auch die Verehrung für Cancrin, der in der Tat sowohl seinem Geist, als auch seiner Tätigkeit, wie auch seiner Begabung nach ein wirklich bemerkenswerter Mann war, es vorschrieben.

Nach zwei Visiten bereits hatte der kluge und junge Leutnant den Minister sehr für sich eingenommen. Mit Vergnügen sah der Graf den schönen und jungen Menschen um sich und legte sich im geheimen seinen Plan zurecht. Der Offizier schien ihm gerade der Mensch zu sein, mit dessen Hilfe er sich, wenn auch nicht einen Teil der Welt, so doch ein Teilchen der für ihn äußerst ersehnten Ruhe erobern könnte. Kürzer und einfacher gesagt, der Graf war fest davon überzeugt, daß seine unruhige Dame mit ihren allzu ernsthaften Ansichten und Forderungen sich bestimmt für diesen jungen Menschen interessieren würde. Man brauchte sie nur miteinander bekannt zu machen – und schon bald darauf würden sie zusammen lesen und zusammen Duette spielen, und er, der alte Herr, würde seine Ruhe haben. Und als der Offizier wieder einmal zu Cancrin kam, warf der Minister hin:

»Ein schöner Tag heute, Leutnant. Ich mag gar nicht zu Hause sitzen und meine langweiligen Akten studieren. Ich würde mit großem Vergnügen einen Ritt machen, und es hängt von Ihnen ab, dies Vergnügen noch angenehmer für mich zu gestalten.«

Jener erwiderte:

»Zu Ihren Diensten,« und fragte nur, auf welche Weise er das Vergnügen noch vermehren könnte.

»Befehlen Sie,« entgegnete der Graf, »daß man Ihr Pferd sattelt und herführt, und lassen Sie uns zusammen reiten.«

Mit Freuden stimmte der Offizier zu. Der Befehl war augenblicks erteilt und ausgeführt: die Reitpferde hielten vor der Freitreppe und bald darauf saßen der Graf und der junge Mann zu Pferde und ritten davon.

Der Tag war wahrhaftig sehr schön, einer von denen, die den Menschen sich wohlfühlen lassen und ihn zu heiterem Plaudern bringen.

Cancrin war in seinem gewöhnlichen langschößigen Militärrock mit rotem Kragen, er trug eine große dunkle Brille, die seitlich mit grünen Gläsern versehen war, und hatte außerdem wie immer Galoschen an, die er bekanntlich bei jedem Wetter trug und häufig nicht einmal im Zimmer ablegte. Auf dem Kopf hatte der Graf eine Uniformmütze mit einem breiten Schirm, der sein ganzes Gesicht verschattete. Er war überhaupt immer wie ein Sonderling angezogen und erlaubte sich trotz der damaligen Strenge hinsichtlich der Korrektheit seiner Uniform allerhand Abweichungen und Freiheiten. Der Kaiser tat, als sähe er es nicht, und von den anderen wagte es niemand zu sehen.

Ziemlich lange ritten die beiden schweigsam dahin, aber trotz des Schweigens war deutlich zu ernennen, daß der Graf vortrefflicher Laune war. Ein Lächeln flog gelegentlich über sein Gesicht heiter blickte er seinen Gefährten an und als der Weg nach rechts zum damaligen Waldsaum führte, hielt er sogar sein Pferd an und meinte:

»Wissen Sie was, Leutnant: wie wäre es, wenn wir eine sehr hübsche junge Dame besuchen würden?«

Das Plötzliche dieses Vorschlags brachte den jungen Mann in einige Verlegenheit, und er wendete ein, er wüßte nicht, ob es seinerseits anginge, ungebeten in ein fremdes Haus einzudringen?

»Beunruhigen Sie sich darüber nicht,« entgegnete der Graf. »Verlassen Sie sich ruhig auf mich. Ich weiß natürlich, wohin ich Sie einlade. Ich will Ihnen was sagen, es ist eine zu nette junge Person und sie hält nichts von all den dummen Zeremonien. Wir sind alte Freunde und ich bin überzeugt, daß auch Sie den Wunsch haben werden, sich mit ihr anzufreunden. Sie ist recht gescheit und überaus hübsch. Und was ihre häuslichen Angelegenheiten anbelangt, so lebt sie ganz allein, fast wie eine Nonne, und langweilt sich sehr. Das ist eigentlich ihr einziger Fehler, kann man sagen. Wir werden ihr sehr willkommen sein und Sie werden sehen, wie erfreut sie über uns sein wird und daß sie uns à bras ouvert empfangen wird.«

»In dem Falle stehe ich natürlich zu Ihrer Verfügung,« entgegnete der Offizier.

»Vortrefflich!« rief der Graf. »Zudem wohnt diese liebenswürdige Dame sehr nah von hier, im Neuen Dorf nämlich, ihre Villa ist diesseits gelegen. Wir werden ihr Haus erreichen, ohne daß uns auch nur ein Mensch zu Gesicht bekommen wird. Und sie wird sehr erstaunt und erfreut sein, denn ich war erst gestern bei ihr und sie überschüttete mich geradezu mit Klagen über die Langeweile in ihrer Einsamkeit. Nun sind wir da und werden sie unterhalten. Wollen wir jetzt unsere Pferde in Trab setzen, nach einer Viertelstunde werden wir bereits unsere Schokolade haben, zubereitet von den unvergleichlichsten Händchen.«

Schweigend verbeugte sich der Offizier.

»Ja, freilich,« fuhr Cancrin fort. »Und denken Sie nicht etwa, daß das nur Worte sind. Ein zweites Paar solcher Händchen werden Sie schwerlich mehr auftreiben. Die Lavallière würde viel gegeben haben, um solche Händchen zu bekommen, denn gerade das war es, was ihr fehlte: dieser Dame aber mangelt es einfach an nichts. Lassen Sie jetzt ihrem Pferd die Zügel, wir werden gleich da sein.«

Die Zügel wurden gelassen und ganz so schnell wie Cancrin es vorausgesagt, waren die Reiter da. Und auch seine zweite Ansicht erwies sich als begründet: ihre Annäherung an die Villa, in der die reizende Dame wohnte, wurde in der Tat von niemand bemerkt. Der kleine Vorgarten lag sehr still da, – nur bunte Hühner stolzierten dort herum und machten die ihnen zukommenden falschen Kopfbewegungen von der einen zur anderen Seite, – so als wäre jemand da, dem sie zunickten. Die bemalten Jalousien mit ihren Hirtinnen und Bäumen waren ganz heruntergelassen und nur hinter einer von ihnen blickte die Schnauze eines satten und roten Katers hervor, die liebe Einsiedlerin jedoch war nirgends zu sehen und eilte durchaus nicht à bras ouvert ihrem Grafen entgegen.

 

Drittes Kapitel

Freilich hatte man eine Minute darauf bereits die Ankunft der Gäste bemerkt, und es entstand im kleinen Hause eine gewisse Unruhe. Die regierende Hausbewohnerin war allerdings immer noch nicht zu sehen, aber ihre Zofe blickte durchs Fenster und verschwand sogleich mit großer Eile. Erst nach geraumer Zeit wurde die verschlossene Außentür geöffnet und hastig sagte das den Gästen entgegeneilende Mädchen, das »Fräulein« fühle sich nicht ganz wohl, sie selber aber hätte gewacht, damit alles still sei und wäre darüber eingeschlafen.

Der Graf fragte:

»Was fehlt denn Marja Stepanowna?«

»Die Zähnchen tun ihr weh, – sie konnte die ganze Nacht nicht schlafen.«

»Ah, die Zähnchen! Sie soll sich ihre Zähnchen besprechen lassen.«

Laut mit seinen Galoschen klappernd, betrat Cancrin die inneren Räume und mit dem leichten Schritt der Jugend folgte ihm sein Gefährte nach.

Die Zofe wurde immer unruhiger und meinte schließlich:

»Darf ich mir erlauben … Das Fräulein werden gleich herauskommen, ich habe bereits gemeldet, daß Sie gekommen sind und sie ziehen soeben das Offene an.«

Die Bildung war damals noch ungleichmäßig verteilt, so daß viele Zofen statt des Fremdwortes »Peignoir« immer noch das heimischere Wort gebrauchten.

»Nun, dann werden wir also warten, bis sie sich angezogen hat,« antwortete der Graf und ging nicht weiter, sondern setzte sich auf die breite Ottomane und bat auch den Offizier, Platz zu nehmen: »Setzen Sie sich, Leutnant. Keine Zeremonien, – seien Sie überzeugt, daß man uns sehr wohl empfangen wird.«

Und fügte, die Stimme senkend und sich zum Ohr des andern beugend, hinzu:

»Sie hat so ihre Launen, – wie übrigens alle hübschen Frauen, – aber das hat nicht das geringste zu bedeuten: reizenden Geschöpfen kann man alles verzeihen. Außerdem muß man auch ihrer Position halber eine gewisse Nachsicht gegen sie üben. Denn, wie Sie wollen, ihre Lage ist ein wenig außergewöhnlich und kann hie und da die Eigenliebe verletzen. Natürlich hat sie alles was sie braucht, damit ist es jedoch nicht getan, denn damit hat sie das, was sie sich erträumt hat, noch lange nicht erreicht. Sie ist die Tochter eines sehr ehrenwerten Mannes und ist zudem sehr gebildet und verfügt überdies über eine große Phantasie. Sie versteht vortrefflich, ihre Lebensgeschichte zu erzählen und ich bin sicher, daß sie sie auch Ihnen gelegentlich einmal erzählen wird. Oh ja, sie ist sehr interessant und sie schwärmt für ›Regungen des Herzens‹.«

Der Graf verriet noch einige besondere Züge von Marja Stepanownas lebhaftem und kühnem Charakter. Der Vater hatte ihr alle Freiheit gelassen und ebenso die Großmutter, auf deren Gut sie nach dem Tode des Vaters lebte; sie war eine so tollkühne Reiterin geworden, als wäre das ihr Beruf, sie verstand vom Sattel aus zu schießen und wußte ebenso vortrefflich beim Billard ihren Mann zu stellen. Es steckte ein wenig von einer Wilden in ihr. Petersburg bedrückte sie, denn es mangelte ihr hier am Umgang mit gleichgesinnten Menschen, – und sie langweilte sich schauderhaft.

»Aber Sie werden wohl begreifen,« fuhr der Graf fort, »daß nach der ermüdenden Einförmigkeit der Charaktere unserer gesellschaftlichen ›Kavalier-Damen‹ ein so lebhaftes Geschöpf einen – hols der Teufel! – wahrhaftig lebendig machen und erregen kann und mit ihrem sprudelnden Naturell durch und durch aufrütteln.«

Trotz alledem aber zeigte sich Marja Stepanowna noch immer nicht.

Der Graf wurde es endlich müde, weiterzusprechen, um so mehr, als sein Gefährte ihm schweigend in allen Punkten recht gab und nichts weiter tat. als stumm die Wohnung der reizenden Dame in der falschen Position zu betrachten. Wie die meisten aller Vorstadtvillen war auch diese ein temperamentvolles Häuschen mit Holzwänden, die mit Papier überklebt und mit Leimfarbe angestrichen waren.

Bedruckte Papiertapeten kamen zu jener Zeit erst langsam in Mode und wurden zunächst nur in den Stadthäusern gebraucht, die Villenhäuschen dagegen wurden innen nur angestrichen und ihre Decken mit Blumen und Amoretten bemalt.

Das war billiger und sah, offen gestanden, nicht übel aus.

Die Einrichtung der Zimmer war nicht ärmlich, aber auch keineswegs reich, sie war irgendwie besonders, und etwa mit feldmäßig zu bezeichnen, oder, wenn man will, militärisch; es war, als wohne hier keine junge und hübsche Frau, sondern eher ein Schwadrons-Kommandant zum Beispiel, dessen Verwegenheit und Mut sich mit einem gewissen Geschmack und einer Vorliebe für alles Schöne gepaart hatten. Viele gute Teppiche waren da, gute Vorhänge, Diwane, ein Klavier und eine Zither, am meisten aber fielen dem betrachtenden Blick die Teppiche auf. Überall, wo nur Raum für einen Teppich war, da hing oder lag ein Teppich. Und von der Decke herab bis zum Fußboden bedeckte ein riesiger Perserteppich die Schlafzimmertür, hinter der sich Marja Stepanowna jetzt anzog.

Von dort her aber wollte noch immer nicht das geringste Lebenszeichen kommen.

»Was ist denn das, wie lange braucht sie, um ihr ›Offenes‹ anzuziehen!« meinte der Graf und rief mit erhobener Stimme:

»Marja Stepanowna!«

Hinter der Tür klang eine sehr angenehme tiefe Altstimme:

»Sofort.«

»Wann werden Sie endlich mit Ihrer Klimperei fertig sein? Wir sind es schon müde, auf Sie zu warten?«

»Um so besser.«

»Und wenn Sie nicht bald zu uns herauskommen, so werde ich so dreist sein, und mich zu Ihnen begeben.«

»Sie werden das nicht wagen. Übrigens werde ich gleich, ich werde im Augenblick da sein.«

»Nichts als Quästchen und Pinselchen,« meinte scherzend der Graf.

Der Offizier erhob sich vom Diwan und betrachtete aufmerksam eine in der Zimmerecke stehende, mit weißem Karton überzogene Tafel, auf der mehrere Kreise gezeichnet, aber auch Kugelspuren sichtbar waren.

»Unsere Diana, die nach diesem Ziel geschossen hat,« erläuterte der Graf.

»Ziemlich gut getroffen.«

»Freilich, aber es ist in bewohnten Räumen verboten, und ich hatte aus diesem Grunde schon verschiedene Auseinandersetzungen … Doch jetzt …«

Der Graf machte eine ungeduldige Bewegung und fuhr fort:

»Unser schöner Schütze zaudert heute so lange, daß ich mir erlauben werde, zu attackieren.«

Aber kaum hatte sich der Graf vom Diwan erhoben, um an die Tür zu klopfen, als der Teppich, der die Tür verhängte, zurückgeschlagen wurde und die schöne Marja Stepanowna in der halbdunklen Öffnung sichtbar wurde. Und in der Tat, sie war sehr hübsch, – wenn auch vielleicht ein wenig zu rundlich. Sie war klein, aber gut gewachsen und zudem von fast klassischem Körperbau, ihr Gesicht war leicht gebräunt und so überaus fein gezeichnet, daß es an die neugriechischen Typen erinnerte. Dieses wundervolle Gesicht wurde in Petersburg nachmals sehr bekannt, und Marja Stepanowna wußte viele Herzen späterhin zu brechen und viele Köpfe zu verdrehen, denn mit der Begebenheit, von der ich jetzt erzähle, begann ihre eigentliche Karriere erst. Mit der Zeit wurde aus ihr ein Allerweltskämpfer und -macher, vermittels dessen die allerunmöglichsten Sachen geschoben wurden. Jedoch, wir wollen den Ereignissen nicht vorgreifen.

Der Graf reichte Marja Stepanowna die Hand, seine andere Hand lag auf ihrem Nacken und stützte ihren Kopf, denn er küßte ihre Stirne, die sie ihm wie eine wirkliche kleine Lady hinhielt.

Darauf stellte er der Hausfrau den Besuch vor, und sagte diesem:

»Marja Stepanowna ist mein Freund: meine Freunde sind ihre Freunde, Feinde haben wir keine.«

Liebenswürdig streckte Marja Stepanowna ihrem Gast die Hand hin und warf, zum Grafen gewendet, nachlässig hin:

»Was mich anbelangt, so stimmt das nicht ganz: ich habe Feinde und werde auch in Zukunft viele haben, doch bemerke ich sie nicht.«

Ihre Haltung war ausgezeichnet, selbstbewußt und frei, aber in ihrem Gesicht, ihrer Figur und ihren schönen, wenn auch etwas nervösen Bewegungen, war, wenn auch kaum wahrnehmbar, dennoch etwas Vulgäres, ja sogar etwas Erregtes, etwas sozusagen »in bestimmter Hinsicht« und für jeden möglichen Fall Aufgeregtes. Sie hielt sich ausgezeichnet und sprach ungeachtet ihrer nur allzu durchsichtigen Rolle, gewandt und klug, – ohne sich irgendwie geniert zu fühlen, was bei einer weniger begabten Frau unbedingt erfolgt wäre: und dennoch schien sie sich in ihrer Haut nicht ganz wohl zu fühlen und griff daher zu dem allgemein üblichen Hilfsmittel: sie klagte, daß sie sich nicht wohl fühle, obwohl ihr freilich hierbei ein recht bemerkbarer Fehler unterlief, ihre Zofe hatte von Zahnweh gesprochen, Marja Stepanowna selber aber murrte über eine unerträgliche Migräne.

Der Graf konnte es nicht unterlassen, darauf hinzuweisen und lachte, sie wurde jedoch böse und antwortete gereizt:

»Als ob das nicht gleichviel ist.«

»Mir scheint es nicht so ganz gleichviel zu sein.«

»Es ist ganz dasselbe: wenn die Zähne sehr wehtun, tut eben alles weh. Nicht wahr?‹ mit diesen Worten wendete sie sich dem Offizier zu.

Dieser gab ihr mit einer scherzhaften Verbeugung recht.

»Das ist nett von Ihnen,« entgegnete sie und ließ wieder einen jener Blicke durchs Zimmer schweifen, in dem der lebhafte Wunsch ausgedrückt lag, die Visite ihrer Besucher so schnell als möglich beendet zu wissen. Und als ihr der Graf dann mitteilte, daß sie nur eine Schale Schokolade zu trinken gedächten und darauf sogleich aufbrechen wollten, strahlte sie ordentlich und schritt, die Rolle der Leidenden vergessend, geschwind aus dem Zimmer, um der Zofe ihre Befehle zu geben, der Graf aber fragte derweilen seinen Gefährten:

»Wie gefällt sie Ihnen?«

»Die Dame ist sehr schön.«

»Ja, dieses Gesicht ist wie geschaffen, um von einem Künstler gewürdigt zu werden, – Maikow hat sie bereits gemalt. Ein angenehmer Künstler. Ich lernte ihn schon im Jahre zwölf kennen, als er noch Offizier war. Er malt sehr zart. Der Kaiser hat viel für ihn übrig. Ich besitze mehrere Kopfbilder von Marja Stepanowna, sie selber aber hat hier ein Bild von sich, auf dem mehr als nur der Kopf zu sehen ist … Es macht nämlich nichts, daß sie ein wenig voll ist. Maikow war von ihr begeistert. Man sagt von ihm, er sei sehr religiös, – das weiß ich nicht, ich weiß nur, daß er, wenn er in seiner freien Art malt, ganz vortrefflich ist. Sahen Sie bereits einige seiner Bilder in dieser Manier?«

»Nein, – bisher hörte ich nur davon.«

»Nun, dann will ich Ihnen sogleich eines zeigen: geben Sie mir Ihre Hand und folgen Sie mir.«

Und Cancrin zog den Offizier fast in das Schlafzimmer der Schönen, wo über einem eleganten Toilettetisch das mit Sammetvorhängen drapierte, ziemlich große Porträt Marja Stepanownas hing. Das Porträt war in der Tat sehr hübsch, es war in den bekannten zärtlichen Farben Maikows gehalten und mit großer antiker Offenherzigkeit gemalt, die es gestattete, sich sowohl an den Formen, als auch am lebhaften und blutwarmen Kolorit des reizenden Frauenkörpers zu ergötzen. Das Bild war vollendet und meisterlich und der lebendigen Schönheit, die es darstellte, völlig ebenbürtig. Da jedoch die Maikowschen Farben sehr zart waren und unser Offizier von Hause aus sehr kurzsichtig, so mußte er, um das Porträt wirklich genießen zu können, nah herantreten. Cancrin selber gab den Anstoß dazu, indem er ihn dicht an den reich mit Musselinspitzen verzierten Toilettentisch heranführte.

Und hier war es, wo den beiden die unerwartetste Begebenheit zustieß: der Offizier hatte nicht achtgegeben und sich mit seinen Sporen oder mit seinem Säbel in dem leichten Faltenbesatz des Musselinüberzuges über dem Toilettentisch verfangen, und als er sich nun bückte, um seine Ungeschicklichkeit wiedergutzumachen, wurde er die Ursache einer zweiten und zwar einer noch viel größeren. Denn um sich aus den Musselinwellen zu befreien, hob er einen Teil des Überzuges auf und erstarrte, kaum das geschehen war, zu Stein: vor seinen Augen und gleichzeitig auch vor den Augen des Grafen erschienen unter dem Tisch zwei einem Unbekannten angehörige Füße in Männerstiefeln und zwei Arme, die diese Füße umschlangen, um sie in dieser unnatürlichen Stellung zu erhalten.

 

Viertes Kapitel

Der junge Offizier war über sich selber wütend, weil er sich so unbeholfen benommen hatte, und dennoch kam ihn zur gleichen Zeit ein Lachen an, obwohl ihm die Dame und der Graf leid taten und schließlich auch der unbekannte Glückliche, dem die entdeckten Beine angehörten.

Die Lage wurde dabei immer schwieriger, denn als der Offizier sich umblickte, bemerkte er, daß Marja Stepanowna inzwischen zurückgekehrt war und auf der Schwelle der geöffneten Türe stand.

»Hols der Teufel, was für eine Lage!« dachte er, und plötzlich schoß ihm durch den Kopf, wie sich wohl derartige Dinge bei der oder jener Nation und in diesem oder jenem Kreise abspielen würden, – doch das war wohl hier nicht recht am Platz … Denn hier war ja Cancrin! Dieser mußte überall und in jeder Lage gescheit sein und wenn bei dieser ärgerlichen und ebenso lächerlichen Begebenheit Marja Stepanowna die Aufgabe zufiel, Geistesgegenwart zu zeigen, und zwar bei weitem mehr, als etwa sich im Sattel zu halten oder mit der Büchse in der Hand, so mußte er doppelt das Beispiel der Einsicht geben!

Das Bild aber konnte unmöglich noch länger stumm bleiben, – und auch der Graf war offenbar dieser Ansicht.

Er verlor angesichts der allgemeinen Bestürzung, die das lebende Bild hervorgerufen, auch nicht auf einen Augenblick seine ruhige Selbstbeherrschung, beugte sich zu dem drapierten Tisch, unter dem die Beine hervorschauten und rief heiter:

»Mein bester Herr!«

Doch es kam keine Antwort.

»Junger Mann!« wiederholte der Graf.

In die Beine kam eine leise Bewegung.

» Mon enfant,« der Graf wandte sich mit diesen Worten zu Marja Stepanowna, »können Sie mir nicht mitteilen, wie dieser sonderbare junge Mensch heißt?«

»Iwán Páwlowitsch,« entgegnete errötend die Hausfrau, doch war trotz allem ein Anflug von Übermut in ihrer Stimme. Die Namen des Helden und der Heldin sind nicht die, die sie in Wirklichkeit führten, und auch ihre Familiennamen verschweige ich. Ich hoffe, daß hierunter weder die Schilderung der ganzen Epoche, noch die der Sitten leiden werden. (Anmerkung des Verfassers.)

»Ein vortrefflicher Name, schade nur, daß sein Träger so schüchtern ist! Warum versteckt er sich vor uns?«

»Eben … weil er so schüchtern ist …«

»Aber welch eine Phantasie, unter dem Tisch zu sitzen!«

»Er stickt ganz ausgezeichnet und war mir behilflich, ein Geschenk zu Ihrem Geburtstag zu sticken … und genierte sich.«

»Ein Geschenk zu meinem Geburtstag …«

Der Graf warf ihr einen Handkuß zu und sprach dann gelassen weiter:

» Merçi, mon enfant. Aber kommen Sie doch jetzt hervor, Iwan Pawlowitsch, es ist sicher sehr unbequem, dort unten zu sticken.«

Der Besuch unter dem Tisch platzte heraus und entgegnete mit der sorglosesten und vergnügtesten Stimme:

»In der Tat, Durchlaucht, es ist sehr unbequem.«

Und wie Harlekin aus der Versenkung einer Schaubude erschien bei diesen Worten ein junger Mann, und war auch sein Röckchen nicht gerade neu zu nennen, so waren doch seine Augen blau und lustig, die Lippen rot, und die Locken so blond, daß ihnen, wie einem warm gewordenen Draht, Hitze zu entströmen schien …

Cancrin reichte ihm einen auf einer silbernen Schale liegenden Schildpattkamm und meinte:

»Ihre Haare sind in Unordnung geraten.«

»Es lohnt nicht, Durchlaucht.«

»Aber ich sage Ihnen doch, sie sind in Unordnung.«

»Ganz gleich, Durchlaucht, ich kann sie nicht zurechtkämmen.«

»Warum?«

»Sie gehorchen dem Kamm nicht.«

»Wie das?«

»Sie gehorchen eben nicht, Durchlaucht.«

»Hören Sie doch!« wandte sich der Graf dem Offizier zu und dieser lächelte.

»Nun, und wenn Sie diese Ihre Haare zum Beispiel mit Wasser anfeuchten würden?«

»Auch dann gehorchen sie nicht!«

»Das nenn ich mir eine Natur!« warf hier der Graf ein und sagte es noch einmal, zum Offizier gewendet, und meinte endlich zu Marja Stepanowna in französischer Sprache:

»Sie hatten nicht recht, als Sie uns sagten, daß er schüchtern sei.«

»Jetzt, da Sie so freundlich zu ihm waren, ist er wieder zu sich gekommen.«

»Ah, ja, das kann freilich sein,« stimmte der Graf zu und sprach dann weiter:

»Und nun, liebe Hausfrau, wollen Sie uns nicht zu Ihrem Tisch führen?«

Er reichte Marja Stepanowna seinen Arm und führte sie zu Tisch, auf dem bereits die Schokolade wartete.

Es stimmte in der Tat nicht, daß Iwan Pawlowitsch schüchtern sei, und dennoch wußte er in dieser Lage nicht recht, wohin er blicken sollte, und darum begann der Minister, um ihm zu helfen, ihn ein wenig auszufragen.

 

Fünftes Kapitel

»Dienen Sie irgendwo, junger Mann?«

»Ich diene, Durchlaucht.«

»Und haben Sie Erfolg?«

»Ich weiß nicht recht, wie ich da antworten soll.«

»Nun, was für einen Posten bekleiden Sie zum Beispiel.«

»Ich bin Kanzleibeamter.«

»Nicht viel! Und dienen Sie schon lange?«

»Seit fünf Jahren.«

»Warum läßt man Sie nicht aufrücken.«

»Ich habe keine Protektion. Durchlaucht.«

»Man braucht auch keine Protektion, wenn man nur Begabung hat und Sorgfalt und sich gut aufführt. Das ist viel wertvoller.«

»O nein, Durchlaucht.«

»Was bedeutet Ihr: o nein?«

»Protektion ist viel wertvoller.«

»Was für ein Unsinn!«

»Nein, so ist es wirklich.«

»Hören Sie doch auf, bitte! Sie sollten sich schämen, auch nur so zu denken.«

»Warum soll ich mich denn schämen, Durchlaucht, – ich spreche doch aus Erfahrung.«

»Aus Erfahrung? Was Sie schon für eine Erfahrung haben können! Sie sind noch sehr jung.«

»Gewiß, Durchlaucht, ich bin noch jung, aber so sprechen alle und ich selber kann auch ein wenig Schlüsse ziehen: ich gelte zwar als begabt und bin mit meinem ganzen Eifer bei der Sache, und in meiner Aufführung hat noch niemand irgend etwas Verwerfliches gefunden, was, wie ich meine, auch Marja Stepanowna bestätigen kann, da ich schon seit drei Jahren mit ihr bekannt bin …«

»Ach, Sie sind schon seit drei Jahren bekannt!« unterbrach ihn der Graf. »Also noch vor mir!«

»Nein, etwas kürzer,« bemerkte Marja Stepanowna.

»Ja, in der Tat, etwas kürzer,« bestätigte Iwan Pawlowitsch.

»Ich kann nicht sagen, daß er schüchtern ist,« flüsterte der Graf ihr ins Ohr.

»Sie waren sehr freundlich mit ihm.«

»Sehr richtig. Sie haben recht.«

»Und wer, junger Mann, ist denn Ihr Haupt-Vorgesetzter, dem Eifer und Begabung so wenig bedeuten und bei dem alles von der Protektion abhängt?«

»Verzeihung, Durchlaucht, ich habe Bedenken, diese Frage zu beantworten.«

»Keine Ausflüchte! Wir sind einander hier in aller Freundschaft bei einer gemeinsamen Bekannten begegnet, einer lieben und guten Dame, und können uns ganz offenherzig aussprechen. Also, wer ist Ihr Haupt-Vorgesetzter?«

»Sie selber, Durchlaucht.«

»Wie, ich!?«

»Zu Befehl, Durchlaucht, denn ich diene im Finanzministerium.«

»Nun, hören Sie einmal,« meinte der Graf in französischer Sprache zu Marja Stepanowna gewendet: »Ich finde ihn ganz und gar nicht schüchtern.«

Sie jedoch machte nur eine ungeduldige Bewegung.

»Und wie kommt es, Iwan Pawlowitsch, daß ich Sie noch nie gesehen habe?« fragte der Graf.

»Gesehen haben Sie mich freilich, nur haben Sie mich noch nicht zu bemerken geruht. Ich erschien an jedem Feiertag und habe mich in das Kanzleibuch vor manchem anderen eingetragen.«

»Ja, wie heißen Sie denn?«

»Ich heiße N–ow.«

»N–ow, spreche ich den Namen richtig aus?«

»Gewiß, Durchlaucht.«

»Nun, adieu, mon enfant,« sagte der Graf zur Dame: »und au revoir, monsieur N–ow.‹

Der Graf und sein Begleiter verabschiedeten sich, stiegen auf und ritten fort.

Der Offizier, der die ganze interessante Szene beobachtet hatte, bemerkte sehr wohl, daß Marja Stepanowna ganz gut den Unterschied zwischen dem »Adieu«, das ihr vom Grafen wurde und dem » au revoir«, welches er zu Iwan Pawlowitsch sagte, erfaßte, aber er bemerkte gleichzeitig, daß dies auch nicht die geringste Wirkung auf sie ausübte; was aber Iwan Pawlowitsch selber anbelangte, so stand er, als die Gäste fortritten, am Fenster und schaute ihnen mit der Miene eines Siegers nach und die Locken seiner stahlharten Haare schienen noch mehr mit Elektrizität geladen zu sein und sich noch steiler aufzurichten.

»Hol mich doch der Teufel, in was für eine Situation ich da geraten bin,« dachte der Offizier und verspürte nur noch den heftigen Wunsch, sich so bald als möglich vom Grafen zu trennen.

 

Sechstes Kapitel

Cancrin empfand seinerseits sehr ähnliche Gefühle. Auch für ihn war es nicht gerade angenehm, Auge in Auge mit dem wenig bekannten eleganten Offizier zu reiten, der ihn in dieser lächerlichen Lage gesehen hatte.

Kaum hatten sie das Neue Dorf im Rücken und befanden sich auf der Wiese, die nach Ljeßnoje führte, da sprach der Graf bereits:

»Wohin reiten Sie jetzt?«

Der Offizier begriff, daß jener ihn loswerden wollte, und freute sich sogar darüber.

»Ich hatte die Absicht,« entgegnete er, »einen Kameraden, der hier im Alten Dorf wohnt, zu besuchen.«

»Vortrefflich, lassen Sie sich nicht aufhalten. Ich muß auf den Kámennyj, den Grafen Pánin aufsuchen.«

Mithin trennten sich ihre Wege jetzt.

Der Graf brachte sein Pferd zum Stehen und drückte mit freundschaftlichem kräftigen Druck die Hand des Offiziers.

Und dieser empfand in dem Handdruck eine unausgesprochene, ein wenig verlegene Bitte und verstand mit einer schweigsamen Verbeugung seine Bereitwilligkeit sie zu erfüllen, auszudrücken.

»Danke,« entgegnete Cancrin und so schieden sie voneinander.

Doch der Graf hatte seinen jungen Freund getäuscht, – denn er ritt nicht zu Panin, sondern kehrte nach Hause zurück und suchte seine Frau auf. Gräfin Jekaterina Sachárowna (geborene Murawjówa) hatte gerade einen ausländischen Pianisten da, den ihr der zu seiner Zeit berühmte Pächter Schadówskij, der ihr häufiger Gast war, gebracht hatte.

Die Gräfin und Schadowskij saßen im Salon und lauschten dem Pianisten, der mit größtem Eifer bestrebt war, ihnen die Kunst seines Klavierspiels zu demonstrieren.

Der Graf betrat das Zimmer nicht einmal, sich mit beiden Armen an die Türfüllung stützend, blieb er in der offenen Türe stehen, und sagte nur, als das Klavierstück zu Ende war und die Gräfin und Schadowskij dem geschmeichelten Künstler Beifall klatschten, ziemlich unwirsch: »Miserable Klimperei,« fuhr mit der Hand durch die Luft und klapperte mit seinen Galoschen in der Richtung auf sein Arbeitszimmer ab.

Hier stülpte er den breiten Mützenschirm, der ihm an Stelle eines taftenen Augenschirmes diente, über seinen Kopf und setzte sich vor den großen Leuchter, in dem sechs Lichter unter dunklen Lichtschirmen brannten, zu seiner Arbeit nieder.

In den Gemächern der »Kavalier-Dame« Jekaterina Sacharowna jedoch (dies war der Spitzname, den ihr der verstorbene Graf gegeben hatte) weilten der Pächter und der Künstler noch ziemlich lange, und lange noch ertönte von dort her die »miserable Klimperei«; der Graf saß immer noch stumm vor seinem Tisch und überdachte vielleicht einen seiner großen Finanzpläne, oder war vielleicht auch nur ein wenig nach dem Spazierritt eingenickt. Jedenfalls bemerkte der Begleiter des Grafen, nach Hause zurückgekehrt, von seinem Balkon aus noch ziemlich lange die Silhouette des Grafen hinter dem Marly der Fensterrahmen, und in der Frühe des nächsten Morgens vernahm er wieder den Ton der Geige. Das bedeutete so viel, daß Cancrin aufgestanden war und sich gewaschen hatte und in seinem dunklen Ankleidezimmer an Stelle des Morgengebetes Geige spielte.

Und bedeutete ferner, daß seine Laune jetzt in bester Ordnung war.

 

Siebentes Kapitel

Schon am nächsten Tage fragte Cancrin den Departementsdirektor Alexander Maximowitsch Knjaschewitsch während des Berichtes, ob in seiner Abteilung ein Kanzleibeamter namens N–ow wäre.

Knjaschewitsch wußte darüber nichts Bestimmtes, erwiderte jedoch, er glaube, daß ein solcher da sei.

Nun wurde der Exekutor befragt und da stellte sich heraus, daß in der Tat ein Beamter N–ow da sei.

»Wie lange dient er und welches ist sein Bildungsgrad?«

Geantwortet wurde, daß er bereits gegen fünf Jahre im Dienst sei (sehr richtig, Iwan Pawlowitsch sagte es selber), und daß er aus einer ärmlichen Adelsfamilie des Kursker Gouvernements stamme, daß seine Mutter Hebamme gewesen und daß er das Kursker Gymnasium nur dank der Unterstützung irgendeines Wohltäters absolviert hätte.

Der Graf hörte das an und fragte weiter:

»Ich begegnete ihm neulich. Das Kursker Gymnasium ist eine gute Schule. Wir haben noch viel zu wenig gebildete junge Leute; wäre es nicht möglich, ihn irgendwie zu befördern?«

Alexander Maximowitsch Knjaschewitsch war jedoch manchmal eigensinnig und launisch und entgegnete darum:

»Bei mir wird in der nächsten Zeit kein Platz frei.«

Zufällig war ein Direktor eines anderen Departements zugegen, dieser war geschickter und antwortete:

»Durchlaucht,« sagte er, »in einer meiner Abteilungen ist der Platz des Gehilfen eines Tischvorstehers noch unbesetzt, ich könnte einen gebildeten und bescheidenen jungen Menschen sehr wohl gebrauchen.«

Cancrin dankte diesem Direktor und sogleich wurde entschieden, daß Iwan Pawlowitsch diese Stellung erhalten solle.

Wie froh er darüber war, kann man sich leicht vorstellen: am Tage nach Unterzeichnung des Dekretes berief der Direktor Iwan Pawlowitsch zu sich und fragte ihn:

»Haben Sie einen Amtsrock?«

Iwan Pawlowitsch entgegnete:

»Nein, Exzellenz: ich bekleidete bisher eine Aushilfsstellung und habe mir daher keinen Amtsrock machen lassen, freilich hatte ich auch das Geld nicht, ihn mir machen zu lassen.«

»Jetzt aber,« erwiderte der Direktor, »sind Sie avanciert und in Ihrer jetzigen regulären Stellung ist es unbedingt notwendig, daß Sie einen Amtsrock haben. Ich setze Ihnen aus den Kanzleisummen eine Unterstützung von einhundertundfünfzig Rubeln aus, – hier, bitte, und lassen Sie sich auf der Stelle einen guten Amtsrock machen. Ich empfehle Ihnen zu diesem Zweck den Schneider Dowes auf der Wassilij-Insel. Er ist ein Engländer und arbeitet für alle Engländer hier. Und seine Fracks sitzen sehr solide, was sehr wichtig ist. Sie können ihm sagen, daß Sie von mir kommen, er arbeitet nämlich auch für mich. – Und wenn Sie den Rock haben, dann bitte ich, sich wieder zu melden.«

Dowes machte Iwan Pawlowitsch einen Uniformrock, in welchem dieser zum mindesten wie ein junger Senator aussah.

»Vortrefflich gemacht,« lobte der Direktor. »Und jetzt werden Sie noch morgen sich in diesem selben Amtsrock dem Grafen vorstellen und sich bei ihm bedanken, denn Ihre Erhöhung verdanken Sie dem unmittelbaren Interesse, das seine Durchlaucht an Ihrer Begabung und Bildung genommen haben.«

»Hols der Teufel, das hat mir einen Haken!« dachte Iwan Pawlowitsch.

Denn fühlte er auch selber den lebhaften Drang, dem Grafen zu danken, so verwirrten sich doch die Gedanken des jungen Mannes, sobald er der Umstände gedachte, die dieser obrigkeitlichen Aufmerksamkeit zuvorgegangen waren. Und es kam Iwan Pawlowitsch nicht nur lächerlich vor, sondern schien ihm sogar allzu dreist zu sein, den Grafen durch Vorführung seiner interessanten Persönlichkeit wieder an alles zu erinnern. Iwan Pawlowitsch dachte, daß es eigentlich viel besser wäre, wenn er nicht erst ginge, sich beim Grafen zu bedanken; ganz gewiß würde der Graf hierin keine Respektlosigkeit erblicken, sondern ihn eher seiner Zurückhaltung wegen loben; der Direktor jedoch faßte das Ding anders auf und bestand darauf, daß Iwan Pawlowitsch unverzüglich ginge, um sich zu bedanken.

Da war nichts zu machen, er mußte sich fügen

 

Achtes Kapitel

»An dem Tage, an dem Cancrin die Beamten seines Ressorts empfing, stand vor ihm in der Schar der anderen, die sich vorstellten, auch Iwan Pawlowitsch.

Doch hatte – teils aus Bescheidenheit, teils aus feinster Berechnung – dieser zurückhaltende Mensch es für gut befunden, der letzte in der Reihe der sich vorstellenden Beamten zu sein. Denn hiermit erwies Iwan Pawlowitsch nicht nur den höhergestellten Personen seinen Respekt, sondern er erlangte auch noch den Vorteil, daß er, als der letzte, dem Minister unter vier Augen seine Dankbarkeit bezeugen konnte.

Und in der Tat, so kam es auch: Cancrin entließ einen nach dem anderen der Reihe nach und als er endlich zu Iwan Pawlowitsch, der der letzte war, kam, streckte er, ohne ihm ins Gesicht zu blicken, die Hand aus, um die vermeintliche Bittschrift entgegenzunehmen.

Iwan Pawlowitsch jedoch verneigte sich und sagte:

»Ich komme mit keinem Gesuch, Durchlaucht.«

Cancrin sah ihn an und fragte:

»Was wünschen Sie?«

»Ich bin auf Anordnung meines Direktors hier, um mich bei Eurer Durchlaucht zu bedanken.«

»Wofür?«

»Ich erhielt einen Posten …«

»Vortrefflich … ich bin erfreut … Sie haben es also verdient.«

»Der Herr Direktor erklärte mir, daß Durchlaucht selber so gütig waren, mich hierin zu unterstützen.«

»Das kann schon sein: erst waren Sie mir nützlich und jetzt habe ich mich Ihnen nützlich erwiesen. So gehört es sich. Ich wünsche Ihnen, schnell zu avancieren.«

Der Graf verneigte sich und ging, der Direktor jedoch bat Iwan Pawlowitsch zu sich in sein Kabinett und fragte ihn, was der Minister ihm bei der Vorstellung gesagt hätte.

Iwan Pawlowitsch entgegnete:

»Der Graf waren sehr gnädig zu mir und wünschten mir, ›schnell zu avancieren‹.«

Der Direktor machte nur eine Bewegung mit der Hand und meinte:

»Sehr gut, – Sie können damit rechnen, daß Sie gut aufgehoben sind: der Graf ist sehr scharfsinnig und hat in Ihnen einen sehr begabten jungen Menschen erkannt, der nur den ersten Schritt zu machen braucht. Diesen Schritt haben Sie nun getan und alles weitere hängt jetzt nicht mehr allein von Ihren Bemühungen ab, sondern auch von Ihrer Auffassungskraft, – setzen Sie sich, bitte.«

Iwan Pawlowitsch verneigte sich.

»Setzen Sie sich nur, setzen Sie sich,« wiederholte der Direktor, und wies ihm einen Stuhl an.

So nahm er denn Platz.

 

Neuntes Kapitel

»Der Dienst im Finanzamt,« begann der Direktor, »ist mit keinem andern Dienst zu vergleichen. Er hat seine Eigenheiten. Denn es handelt sich hier nicht um irgendwelche juristische Phantastereien, sondern um die Wirtschaft, – um alles, was sozusagen Rußlands Vermögen bildet. Deswegen müssen diejenigen Leute, die zu Stellungen im Finanzamte zugelassen werden, das höchste Vertrauen ihrer Obrigkeit genießen und müssen es sich auch fernerhin zu erhalten bestrebt sein … Sie müssen, sozusagen, aus sich selber heraus der Obrigkeit eine verläßliche Bürgschaft dafür bieten, daß sie, ganz abgesehen von der in jedem ehrenhaften Manne selbstverständlich vorauszusetzenden Erkenntnis der persönlichen Würde und der heiligen Pflicht, sich auch noch durch andere Bande gebunden fühlen, die in ihrer Art dem Diensteide gleich sind, da sie vor dem Altar geschlossen und im Herzen besiegelt werden …«

Der Direktor war ein wenig Poet, Iwan Pawlowitsch jedoch verstand nur zu gut, jene Ode sogleich in gewöhnliche Prosa zu übertragen.

»Ich will damit sagen,« fuhr der Direktor fort, »daß es im Finanzministerium nicht üblich ist, sich auf ledige Männer zu verlassen. Ledige Männer sind wie Schmetterlinge oder wie Zugvögel, stets bereit, von Blume zu Blume zu flattern und von Zweig zu Zweig zu hüpfen. So einer sitzt eine Weile lang still, aber schließlich schwingt er fort und ist nicht mehr da, und such ihn dann! Beim Militär zum Beispiel ist das sogar Usus, im Finanzamt aber wäre es unmöglich. Der wahrhafte Finanzmann muß, wenn er das volle Vertrauen zu sich erwecken will, unbedingt von Geschöpfen umgeben sein, die ihm teuer sind und die seinem Herzen nahe stehen … Sie verstehen, es muß jemand da sein, für den er das Gefühl der Anhänglichkeit hat, jemand, der ihm wert ist, und für den zu leben ihm wertvoll scheint.«

Der Direktor merkte, daß er Unsinn redete und beeilte sich, seine Worte abzuschließen.

»Ich meine damit,« schloß er, »daß der Finanzmann unbedingt verheiratet sein und Familie haben muß. Ja, ja, ja! Unbedingt! Und natürlich verstehe ich darunter keineswegs eine auf die Art der ledigen Leute zusammengestellte windige Familie, sondern das enggeknüpfte und aller Ehren werte Leben der Ehe. Der wahrhafte Finanzmann muß, wenn er nachdrückliche Bürgschaften für sich selber geben will, unter allen Umständen verheiratet sein. Eine von mir tief und aufrichtig verehrte Persönlichkeit, die ich Ihnen nicht nennen will, sprach mir einmal sogar ihren geheimsten und innerlichsten Gedanken hierüber aus, daß nämlich, seiner Ansicht nach, es durchaus vorzuziehen sei, die verantwortungsvollen Posten im Finanzamt lediglich verheirateten Männern anzuvertrauen. Und darnach richten wir uns noch heute: es gibt freilich Ausnahmen, aber dennoch bevorzugen wir nach Möglichkeit die Verheirateten. Dies ist im Finanzdienst, wenn man ihn so leitet, wie es sich gehört, fast zu einer Art Regel geworden. Und ich möchte sagen, daß es eine vortreffliche Regel ist, diktiert von der Erfahrung und geheiligt von der Zeit. Eine Regel auch für den, der ein edles Ehrgefühl hat und gewillt ist, niemals aus dem Auge zu lassen, daß er eine schnelle und angenehme Karriere machen will, – und ich nehme an, daß ich hiermit nichts Ungewöhnliches oder gar Neues sage. Wer religiös ist und wer Gottes Gesetze achtet, muß wissen, daß es ›nicht gut ist, daß der Mensch allein sei‹. Dieses Gebot kann man nicht umgehen, denn es ist ewig, denn … denn so …«

Der Direktor stand von seinem Sessel auf, erhob die Hand mit zwei ausgestreckten Fingern und beendete seine Rede:

»Denn so hat Gott selber es dem Menschen bestimmt!«

Und mit diesen Worten reichte der Würdenträger Iwan Pawlowitsch die zwei Finger und ließ ihn, indem er ihm noch folgendes zum Geleit sagte, ziehen:

»Das rate ich auch Ihnen und wünsche Ihnen Glück und Erfolg. Ihr Tischvorsteher ist ganz wie Sie ein junger Mann mit guter Bildung und gutem Herzen. Sie werden sich leicht verstehen. Er hat viel Eigenliebe und wird schwerlich lange auf seinem Posten verharren. Begabte Menschen, die meine Intentionen ausführen, unterstütze ich gern. Es gehört sich nicht, Menschen unnütz zu plagen, und es ist meine Regel, niemand von meinen Untergebenen lange schmachten zu lassen.«

Hiermit verneigten sich die beiden voreinander auf die allerschicklichste und allerausdrucksvollste Art.

 

Zehntes Kapitel

Einige Zeit danach, und zwar genau so lange, als es Iwan Pawlowitsch, um der Sache ein anständiges Gesicht zu geben, für richtig hielt, überreichte er seinem Direktor ein Gesuch um die Erlaubnis, die Ehe mit Marja Stepanowna eingehen zu dürfen.

Graf Cancrin tat es nicht gern, doch brachte er es nicht über sich, Marja Stepanownas Bitte abzulehnen und fungierte mithin als ihr Trauvater.

Iwan Pawlowitsch konnte bei dieser Gelegenheit die ganze Feinheit seines praktischen Verstandes zeigen: er hatte eine »englische« Hochzeit, – eine stille Hochzeit in einer kleinen Hauskirche, die ihre besonderen Vergünstigungen hatte.

Und der Minister hatte auch nicht den geringsten Grund, zu bedauern, daß er der letzten Bitte seiner lieben Bekannten, der er schon vorher ein »Adieu« gesagt, stattgab.

Sie erinnerte ihn übrigens an dieses »Adieu«, als sie, aus der Kirche heimgekehrt, einen kurzen Augenblick mit dem Grafen Auge in Auge allein war.

»Adieu,« sagte sie, »darf nur die Frau dem Mann sagen, nicht der Mann der Frau. Sie haben mich hierdurch beleidigt, – das sah Ihnen nicht ähnlich.«

Der Graf entschuldigte sich mit seiner Zerstreutheit.

»Das freut mich, denn ich begann bereits zu denken, daß Sie imstande seien, Ihre besten philosophischen Regeln zu vergessen.«

»Welche zum Beispiel?«

»Niemals ›Niemals‹ zu sagen. Sie haben mich das gelehrt, und ich habe es nicht vergessen.«

Der Graf mußte lachen, als brächten ihm diese Worte etwas sehr Komisches und doch gleichzeitig sehr Angenehmes in Erinnerung.

»Sehen Sie jetzt ein, daß Sie mir nicht etwa geschmeichelt haben, als Sie in mir einen ›Hang zur Philosophie‹ wahrnehmen wollten?«

»Oh, ich schmeichelte Ihnen keinenfalls! Sie haben nicht nur einen ›Hang zur Philosophie‹, sondern sind sogar ein sehr großer praktischer Philosoph.«

»Und nun, muß ich Ihnen jetzt, › adieu‹ sagen?«

» Mon ange, – Sie können mir wie früher au revoir sagen.«

Und er nahm ihre Hand und küßte sie, sie jedoch berührte mit den Lippen leicht seine Stirn und ließ ebenso leicht diese Worte zur Antwort fallen:

»Alles beim Alten.«

 

Elftes Kapitel

Iwan Pawlowitsch erhielt unverzüglich darauf die Stellung eines Tischvorstehers und nun gestaltete sich sein Familienleben immer glücklicher. Marja Stepanowna war ihm eine vortreffliche Gattin, was ihr auch gar nicht schwer fiel, denn sie war tatsächlich in diesen wackern Burschen verliebt. Aus ihrer Einladung, der Graf solle »wie früher« bei ihr verkehren, erwuchs Iwan Pawlowitschs ehelichem Glück nicht die geringste Bedrohung. Marja Stepanowna war keine oberflächliche oder leichtfertige Kokette, bereit, die Koketterie nur aus Liebe zur Kunst zu betreiben. Nein, Marja Stepanowna war eine kluge Frau, und zwar eine russische kluge Frau mit diesem besonderen praktischen Sinn. Sie betrachtete das sich vor ihr eröffnende Feld ihrer Tätigkeit und verstand, das Scheinbare vom Wirklichen zu sondern. Ja, selbst in ihrem hübschen Äußeren erinnerten die feinen Züge ihres neugriechischen Typus, wenn man genauer hinsah, gleichzeitig an den alten Byzantinismus und an die slawische Aufgewecktheit. Wir lassen hier vier Zeilen des russischen Originals fort, die für deutsche Leser nicht viel zu bedeuten haben, jedoch, um verständlich zu sein, sehr lange Erläuterungen nach sich ziehen müßten. Für unsere Erzählung sind sie belanglos. (Anmerkung des Herausgebers.)

Das ganze Gespräch, von Marja Stepanowna nur mit der Absicht geführt, an das »Gewesene« zu erinnern, war nichts anderes als eine geschickte Taktik, die nicht etwa zum Ziele hatte, die früheren »Dummheiten« wiederauferstehen zu lassen (Marja Stepanowna hatte sich ihrer nicht deshalb entledigt, um wieder »wie ein Hund zu dem, was er gespien« zurückzukehren), sondern einzig zur Erhaltung des Dekorums. Sie kannte die französische Redensart, »auch die Geliebte eines Königs ist nicht so viel wert, als die ehrliche Frau eines Hirten« – und als sie heiratete, wußte sie wohl, was sie tat; doch wollte sie deswegen das, was ihr nützen konnte, nicht von der Hand weisen. Es war eine andere Frage, ob sie ihren Iwan Pawlowitsch achtete oder nicht, kluge und verständige Frauen achten selten jemand und sie brauchen es wohl auch nicht, allein sie liebte ihn und das genügte, ihr die Zusammengehörigkeit mit ihm leicht zu machen, angenehm und durch nichts zu erschüttern.

Wie die meisten Frauen von ähnlicher verständiger Geistesart, liebte sie ihren Iwan Pawlowitsch einfach deswegen, weil er ein braver Bursche war, und überdies geschickt, aufgeweckt und gehorsam. Er vertraute ihr und würde ihr auch in Zukunft in allem vertrauen, und so beschloß sie, ihn niemals zu betrügen, schon weil er ihr so gut gefiel, und weil sie dann zu zweit ihr Leben in Frieden und Eintracht leben würden, ohne erst lange zu fragen, ob man einander achte, und weil sie nur auf diesem Wege vom Leben das Ihre erhalten würden.

Was man von ihnen sprechen, was man von ihnen denken würde, – sie kannte den wirklichen Wert dieses Unsinns.

»Sei weiß wie Schnee, sei rein wie Eis, der Menschen Verleumdung entgehst du nicht.«

Und da sie nun mit dem Grafen auf den »alten« Saiten spielte, wußte sie, daß der Akkord so klingen würde, wie sie es wollte.

Die Kohle, die sie scheinbar so unvorsichtig anfachte, war ihr nur zu gut bekannt: sie wußte, daß in ihr eine gewisse Wärme enthalten war, dagegen auch nicht die geringste Spur von einer gefahrvollen Flamme.

Eben diese stille und gefahrlose Wärme konnte sie gut zur Erreichung ihrer Ziele brauchen. Und zwar brauchte sie sie für ihr zunächst immer noch gar nicht wohlfundiertes und wohlgewärmtes Nest. Iwan Pawlowitsch wußte genau so gut wie seine Gattin, daß sie dazu den Grafen nötig hatten. Und darum stand in der Minute, als Cancrin sich mit Marja Stepanowna allein befand und ihr zum Zeichen der Wiederherstellung irgendeines »Früher« die Fingerspitze küßte, – darum stand Iwan Pawlowitsch in diesem Augenblick mit seiner Champagnerflasche hinter der Tür und hielt den Pfropfen fest, damit er nicht zu früh knalle, bevor das Gespräch zu Ende gekommen.

Er kam mit dem Wein gerade zur rechten Zeit, als alles Notwendige bereits gesagt worden war.

 

Zwölftes Kapitel

Konnte auch ein Iwan Pawlowitsch für einen so unzweifelhaft großen Menschen, wie Graf Cancrin, niemals von Bedeutung sein, so wurde er doch mit der Zeit etwas in der Art eines zweifelhaften Geistes für ihn, den das Wort eines äußerst unvorsichtigen Asketen aus irgendeinem Abgrund heraufbeschworen.

Iwan Pawlowitsch war von unterhalb des Toilettentisches her vor dem Grafen unerwartet emporgeschossen, gleichwie jene Erbsensprossen aus dem Nabel des indischen Derwisches, von dem der schwatzhafte Franzose Jacollio erzählt: und es ging leider nicht mehr an, ihn wieder zurückzustellen und aus dem Gesicht zu verlieren.

Dies war erstens die Folge der eleganten Gewohnheit des Grafen, jene Damen, für die er einmal zärtlich empfunden hatte, niemals aus dem Auge zu verlieren, zweitens aber eine Folge dessen, daß Marja Stepanownas klassisch schöne Händchen (um die sie die Lavallière hätte beneiden können) plötzlich sehr greifbare Krallen aufwiesen.

Und wie jener Ahnherr des Stammes Juda, so mußte auch der Graf häufig über seinen eigenen Nachwuchs staunen: vor lauter Wünschen der andern, ihm in der Person Iwan Pawlowitschs einen Dienst leisten zu können, wußte er sich gar nicht mehr zu retten. Bereits zu Anfang des nächsten Jahres wurde der junge Glückspilz ihm als Abteilungschef vorgeschlagen. Cancrin bestätigte das Dekret, freilich nicht ohne sich zuvor zu erkundigen.

»Ist er denn so begabt?«

Man antwortete ihm: »O ja, er ist sehr begabt«.

Da der Minister keinen Grund hatte, die Angaben zu bestreiten, wurde Iwan Pawlowitsch somit Abteilungschef.

Dies ist ein großer Schritt in der Departements-Hierarchie. Mit diesem Schritt beginnt eine angenehme Positivität nicht nur innerhalb des Departements, sondern auch innerhalb der Welt. Ein Abteilungschef kann nicht mehr mir nichts dir nichts, wie etwa eines der kleineren Menschlein aus dem Dienst gejagt werden, man macht mit ihm Umstände und selbst, wenn er irgendwelche ganz große Sünden auf dem Kerbholz hat, wird er doch mit einer guten Miene entlassen. Ein Abteilungschef hat eine Position: er kann Mitglied eines wohltätigen Komitees werden, und kann von dort aus leicht »Eingang in die Häuser finden«. Und seine Stellung wird nach und nach immer glatter und höher.

Noch wichtiger aber war es für die Frau, daß ihr Mann die Stelle eines Abteilungschefs erklettert hatte. Heute freilich ist das alles anders geworden, da die Hierarchie überhaupt geschwächt ist und da sie ihr Prestige verloren hat, damals aber wußten die Frauen das zu würdigen und hielten sich streng daran. Die Ehefrauen der Herren in niedrigeren Stellungen wurden stets nur als unsere »Beamtenfrauen« bezeichnet, unter welchen lediglich die Frauen der Boten rangierten, mit den Ehefrauen der Abteilungschefs jedoch begann die Reihe »unserer Ministerial-Damen«. Diese gingen zu Ostern nicht etwa in die Pfarrkirche, sondern in »unsere Ministerial-Kirche«, wo der diensttuende Beamte sie zuvorkommend empfing und ihnen den aus der Kanzlei herübergeschafften Sessel des Gatten anwies; der Meßner weihräucherte einer jeden von ihnen, indem er mit graziösen Bewegungen das stutzerhaft brodelnde Weihrauchgefäß, mit wohlriechendem Ambra gefüllt, vor ihnen schwang, und der Priester sprach dazu: »Blühet und gedeihet!«

Und nicht selten geschah es, daß nach so einer Ostermesse die Direktoren den Frauen der Abteilungschefs die Händchen küßten, während ihre Männer den Direktorsfrauen persönlich ihre Glückwünsche darbrachten …

Ja, es war eben der »Ministerialkreis«, der mit dem »Kabinett« in Berührung kam, und nicht mehr mit der Kanzlei, die bekanntlich an das Botenzimmer stieß.

Iwan Pawlowitsch und Marja Stepanowna hatten nunmehr die unteren Stufen überwunden, aber sie dachten nicht daran, stehenzubleiben. Es wäre auch, offen gestanden, unmöglich gewesen, denn war auch der sozusagen offizielle Teil ihrer Lage jetzt in Ordnung, so haperte es doch mit dem inoffiziellen Teil noch sehr; die Damen bezeichneten Marja Stepanowna als eine » çi-devant« und hielten sich ein wenig abseits von ihr.

Es mußte etwas geschehen, um einen eigenen Kreis zu schaffen, der in der Lage war, den vorhandenen Eigenschaften Marja Stepanownas, die in der Tat der Aufmerksamkeit wert waren, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Und Marja Stepanowna faßte ihren Plan. Sie fand einen hinlänglichen Grund, mit Skóbelew Dieser Skobelew ist nicht mit dem aus dem russisch-türkischen Kriege bekannt gewordenen General Michail Dmitrijewitsch Skobelew zu verwechseln, der von 1841 bis 1882 lebte, also lange nach den Jahren, in denen unsere Erzählung spielt. (Anmerkung des Herausgebers.) zusammenzutreffen, der mit ihrem durch nichts berühmt gewordenen Vater früher einmal bekannt geworden war. Der bejahrte Kommandant schien nicht abgeneigt, ein kleines Abenteuer zu erleben, und war zu der freundlichen Dame sehr liebenswürdig, sie hingegen schien sich auf das lebhafteste für seine Erzählungen zu interessieren. Nach und nach begann sie, über Literatur zu sprechen und mußte die Bemerkung machen, daß in Rußland nichts leichter sei als das. Skobelew kam manchmal zum Tee zu ihr und kramte dann Geschichten aus, die freilich niemals gedruckt wurden.

Marja Stepanowna verspürte plötzlich eine große Neigung für alles Volkstümliche, – es lag soviel Gemüt darin, soviel Witz und Humor …

Und Skobelew fand, daß das alles auch in ihr selber liege.

So war es auch: die Art, wie sie ihren gegenwärtigen Mann gefunden hatte, war das nicht etwa die allervolkstümlichste Szene? Lag darin etwa nicht der Stil des »Moskal Tschariwnik«? … Und wie begeisternd war doch das lebenvolle Dasein des Volkes! Wahrhaftig, Marja Stepanowna wurde ganz unwillig, dachte sie an die Ausfälle gegen Bjelínskij Bjelinskij war der bedeutendste Kritiker des damaligen Rußlands, er lebte von 1811–1848. Polewoj, ein russischer Schriftsteller (1796–1846) machte sich einen Namen als Journalist. Die Slawophilen (Slawenfreunde) – eine Gruppe russischer Schriftsteller und Publizisten, die im Gegensatz zu den Sápadniki (den westlich Orientierten) den Vorrang eines idealisierten Russentums vor dem verfaulten Westen verkündeten und die Weiterentwicklung Rußlands lediglich auf den Prinzipien einer Kräftigung seines Volkstums und seiner »rechtgläubigen« Kirche aufbauen wollten. Einer der Hauptvertreter dieser Richtung war Alexej Chomjakow (1804 bis 1860), ein eigenartiger und auch dichterisch sehr befähigter Schriftsteller. (Anmerkung des Herausgebers.). Und Skobelew enthüllte ihr noch einiges dazu und schließlich gelang es ihr auch, mit dem berühmten Kritiker bekannt zu werden. Nikolai Polewój trank einmal Tee bei ihr und irgend Jemand hatte mit einem anderen Jemand eine Auseinandersetzung über die Slawophilen und den ungewöhnlichen Geist des jungen Chomjakow.

Das konnte seine Wirkung nicht verfehlen: die »Ministerial-Damen« tauschten ihre negligierende Respektlosigkeit gegen eine konzentrierte Trockenheit aus, die gleichzeitig sowohl von Hochmut gesättigt schien, als von Neid.

Mit dieser aufrichtigen Mißgunst ließ sich schon eher leben.

Marja Stepanowna begann die Früchte ihrer klugen Aussaat zu ernten.

 

Dreizehntes Kapitel

Es war klar, daß Marja Stepanowna die Literatur keineswegs lieben konnte, sondern sie nur für ihre praktischen Ziele auszunutzen suchte. Die Literatur hat ihre großen Annehmlichkeiten, wenn man über irgend etwas und nicht über irgend jemand sprechen will, – und zwar so sprechen will, daß es uns in jedem Falle nützt. Darum machte sie sich zwei – drei Gedanken Bjelinskijs zu eigen, kannte eine der unversöhnlichen Behauptungen Chomjakows und war gegen Philaret auf der Seite Innokéntijs Zwei bekannte russische höhere Geistliche, von denen Philaret protestantisierende Neigungen hatte. (Anmerkung des Herausgebers.). Mit einem Wort, sie war jetzt in die Sphäre der höheren Fragen geraten.

Das verlieh ihr den nötigen Aplomb und veranlaßte viele, mit den Köpfen zu schütteln und heimlich die Frage aufzuwerfen, wie das wohl enden solle?

Unterdessen war Iwan Pawlowitsch schon zum Vizedirektor aufgerückt. Man nahm an, daß dieses auf Veranlassung seiner Gattin geschehen war, die so vortreffliche, wenn auch nicht ganz ungefährliche Verbindungen hatte.

Sie freilich riskierte viel. Denn war auch Graf Cancrin ein Mann von ziemlich freien Ansichten, so hatte er dennoch, sagte man, die Stirn gerunzelt, als er die Ernennung Iwan Pawlowitschs zum Vizedirektor unterschrieb.

Doch das Schicksal diente Iwan Pawlowitsch mit einer fast unglaublichen Ergebenheit: wie mit einer gewissen Absichtlichkeit gab es lauter Dinge, zu deren Entwirrung nicht nur begabte, sondern auch hochgestellte Persönlichkeiten abkommandiert werden mußten, und jedesmal wurde dem Minister für die Erledigung eines Geschäftes solcher Art Iwan Pawlowitsch vorgeschlagen.

Cancrin war das sehr unangenehm und einen dieser Vorschläge legte er sogar beiseite, – es ginge nicht an; einige Lage darauf war der Graf auf einer musikalisch-literarischen » soirée intime«, wohin Gäste nur durch einen Filter zugelassen wurden, – in einer verborgenen Ecke aber begegnete der Graf einer schüchternen Damenfigur, die mit den Nuancen des Gehorsams und der Ironie eine tiefe Verbeugung vor ihm machte und nichts, als nur das eine Wörtchen sprach:

» Excellence!«

Sie hier anzutreffen hatte der Graf nicht erwartet und darum nahm er ein wenig echauffiert ihren Arm und meinte:

»Aber, liebe Freundin, – für ihn ist doch schon so viel geschehen, – was wollen Sie, daß ich noch tun soll?«

»Nur nichts verhindern.«

Der Graf mußte lächeln und sagte:

»Es erinnert an die Komödie: ›Ein Wort dem Minister‹. – Also gut: ich werde unterschreiben.«

Und so gab er denn seine Unterschrift zu Iwan Pawlowitschs neuerlicher Erhöhung.

Hiermit war ihre Macht über den Grafen erwiesen. Und mochte der auch stirnrunzeln, wenn man ihm Iwan Pawlowitsch in Vorschlag brachte: kraft des allgemeinen Zusammenhangs gewisser Kombinationen erwies er sich dennoch irgendwie immer nützlich. Bald darauf kam es sogar dazu, daß auch abseits stehende Menschen, die den Grafen geschäftlich brauchten, Marja Stepanowna um ihre Unterstützung angingen, – und sonderbar, auch hier hatte man stets Erfolg …

Ob das nun ein zufälliges Zusammentreffen der Umstände war, oder mehr, – das war schwer zu entscheiden.

Ein allgemeines Getuschel erhob sich, und alles wurde durcheinander gebracht, man sprach von Innokentij und sprach von Chomjakow, – und endlich sogar von irgendeiner hohen Bestechungssumme.

Kurz, die Situation hatte sich verschärft und es war notwendig geworden, » quitte ou double« zu spielen, wie die Spieler sagen.

Marja Stepanowna beschloß double zu spielen, und Iwan Pawlowitsch sonderbarerweise wurde in der allerunerwartetsten Minute dem Grafen zu einer neuen Erhöhung vorgeschlagen.

Der Graf brauste auf.

»Was soll das! … was denn noch! … Und außerdem kam mir etwas zu Ohren …«

Aber der Vorschlagende wußte nur zu gut, mit wem er es zu tun hatte und verlor seine Fassung nicht.

»Gewiß,« entgegnete er; »ich weiß, was man spricht: es ist traurig, aber es ist nicht seine Schuld, – seine Frau ist daran schuld, denn sie ist von den slawophilen Ideen Chomjakows begeistert …«

Der Slawophilismus war dem Grafen widerwärtig.

»Was soll denn das wieder: was für Ideen Chomjakows? Etwa das von den vierzig Märtyrern … Ich will davon ganz und gar nichts wissen. Lassen Sie das Dekret da.«

Aber gleich darauf erschien irgendwie und irgendwo »Sie voll Einfachheit und Harmonie«, und gab sogar ohne » Excellence« und nur mit einer Verbeugung dem Ding die gewünschte Wendung.

Der Graf begegnete ihr in einem sehr illustren Kreise und der Wunsch stieg in ihm auf, sie und ihren Mann ein für allemal und auf immer loszuwerden.

Er trat selber auf sie zu, nahm ihren Arm und sagte:

»Ich werde alles tun, wirklich alles, aber auf eine andere Art.«

Marja Stepanowna entgegnete ihm:

»Ich werde Ihrem Kavalierswort immer glauben.«

 

Vierzehntes Kapitel

Die Angelegenheit mit Iwan Pawlowitschs Karriere mußte abgeschlossen werden, und zwar so, daß die beiden es hinfort nicht mehr mit ihm zu tun hatten.

Der Graf kombinierte: eine andere sehr hochgestellte Persönlichkeit, der Graf Panin, brauchte den Finanzminister zu irgendeiner Sache.

Cancrin erledigte das Gewünschte schnell und gern und erschien kurze Zeit darauf bei jenem mit einer Bitte, seinen Untergebenen betreffend, dessen Verdienste er wegen der knappen Beschränktheit des Personals in seinem Ressort nicht nach Gebühr belohnen könnte.

Graf Panin kaute und meinte, daß das »Platzhalten« manchmal ziemlich schwierig sei, und daß Perówskij eher als die anderen da etwas tun könnte, denn die guten Stellen, die in sein Machtbereich fielen, konnte man gar nicht zählen.

Und Perowskij tat es, als aber Cancrin das Papier unterschrieben hatte, in welchem er seine Einwilligung zum Übergang Iwan Pawlowitschs in ein anderes Ressort erteilte, bekreuzigte er sich zum Erstaunen der Dabeistehenden plötzlich auf russische Art, wie selbst Chomjakow das nicht besser hätte tun können und sagte:

»In solchen Fällen sagt man: ›Jetzt entlässest du deinen Diener, o Herr‹. Endlich brauche ich nicht mehr zu fürchten, daß der Tag kommen wird, an dem man mir vorschlagen wird, ihn zu meinem eigenen Vorgesetzten zu ernennen.«

Alle hatten sich nämlich im Irrtum befunden, als sie annahmen, daß sie dem Grafen ein unbeschreibliches Vergnügen dadurch erwiesen, wenn sie Iwan Pawlowitsch immer wieder in Vorschlag brachten, während doch genau das Gegenteil zutraf.

Dennoch kam es für den Grafen zu keinem wirklichen »entlässest du deinen Diener«. In Petersburg freilich begriff man, daß die Gefälligkeiten, die man dem Grafen in der Person Iwan Pawlowitschs zu erweisen bestrebt war, auf einem Irrtum beruhten, in der Provinz aber, wohin dieser Karrierist als ein großes Tier kam und wo Marja Stepanowna nun mit vollem Recht an erster Stelle stand, wurden sie anders empfangen. Es war, als käme neue Hefe in den zusammengefallenen Teig und der Kuchen ging wieder in die Höhe.

Dank ihrer vorherigen Stellung galt Marja Stepanowna als allmächtig und vereinigte dies jetzt mit den Vorteilen ihrer gegenwärtigen Position: sie war über jeden Verdacht der »Streberei« erhaben, sie sprach mit den Ausdrücken Bjelinskijs vom »sittlich-entwickelten« Menschen, eifrig verfolgte sie Chomjakows Tätigkeit, sie plauderte mit Innokentij … und nahm dabei die tollsten Schmiergelder, sogar in den Angelegenheiten der Ressorts, die dem unmittelbaren Einfluß ihres Mannes gar nicht unterstellt waren. Man dachte, daß in ihrer Person ein allgemeiner und sehr zuversichtlicher »Platzhalter« vereinigt sei.

Wen alles sie an dem, was sie erhielt, beteiligte, war ihr Geheimnis, der Graf jedoch hatte sich vergebens der Meinung hingegeben, daß seine entschiedene Maßnahme, mit der er die unmittelbare Einwirkung der »Platzhalter« in seinem Ressort zu beseitigen hoffte, ihn nun auch in der Tat ihrem Einfluß entrückt hätte.

»Das Platzhalten kann genau so wie die Schmeichelei in den allerverschiedensten Formen auftreten, und dort, wo es nicht wie ein Raubtier springen kann, kriecht es wie eine Schlange oder hüpft wie ein leichter Vogel. Man müßte die Welt umschaffen, oder die Menschen umzulernen zwingen, damit sie in jeder Sache nur der Sache dienten, und nicht den Personen. Dies wäre wahrhaftig eine verdienstvolle Aufgabe und dessen Name sei gepriesen, der diese Aufgabe zu fördern wüßte.«

Mit diesen Worten beendete der gerechte und kluge Mann, dessen Erzählung ich wiedergegeben habe, seine Geschichte von den »Platzhaltern«.


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