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Der friedlose Beichtvater.

Die zweite Geschichte, welche uns der Bischof erzählte, war von ganz anderer Art und spielte sich in einer viel späteren Periode seines Lebens ab. Damals war er schon mit einer Diözese betraut.

Die Begebenheit ereignete sich an einem Tage, wo er eine Einladung zum Diner einer Familie am Lande angenommen hatte; da er etwas früher kam, als man ihn erwartet hatte, traf er die Hausfrau noch nicht im Salon. Das Zimmer war ganz leer, nur ein fremder katholischer Priester saß darin, der auf dem Sofa Platz genommen hatte, in die Lektüre eines großen dicken Buches vertieft. Als der Bischof eintrat, blickte der Priester auf, erhob sich und verbeugte sich vor ihm höflich aber stumm und las wieder weiter. Er war ein starker, muskulöser und tatkräftig aussehender Mann, und doch trug sein Gesicht einen Ausdruck der Schwermut, der Ängstlichkeit, welche die Aufmerksamkeit des Bischofs erweckte. Der Bischof fragte sich, wer dies wohl sein könnte und wie er zu der Einladung in dieses Haus gekommen sein mochte. Darauf erschienen mehrere Gäste und die Frau des Hauses kam herunter; sie entschuldigte sich sehr, bei der Ankunft des Ehrengastes nicht zugegen gewesen zu sein; über diesem Gespräche vergaß der Bischof, sie nach dem Priester zu fragen.

Als er während des Diners an der Seite der Hausfrau saß, erinnerte er sich wieder daran und wandte sich mit dem Bemerken an sie:

»Was ich sagen wollte: Sie haben mich diesem interessanten Priester nicht vorgestellt, den ich im Salon allein traf. Wo ist er denn?« Und indem er die Tafel entlang schaute, setzte er erstaunt hinzu: »Er scheint nicht mit zu Tisch gekommen zu sein?«

Ein sonderbarer Ausdruck zog über das Gesicht der Wirtin, sie sagte hastig flüsternd: »Was, Sie haben ihn tatsächlich gesehen?«

»Natürlich habe ich ihn gesehen«, erwiderte der Bischof, »aber ich bitte um Entschuldigung, ich fürchte, unbewußt einen Gegenstand berührt zu haben, der Ihnen vielleicht etwas unangenehm ist? Menge ich mich hier etwa in ein Familiengeheimnis ein?«

»Nein, nein, Mylord«, gab die Frau des Hauses zurück, noch immer mit gedämpfter Stimme, »Sie mißverstehen mich. Ich will Ihnen ja absolut nichts verbergen, obwohl mein Mann diesen Gegenstand nicht gerne erwähnt wissen will. Ich war sehr erstaunt, daß sich der Priester Ihnen gezeigt hat, denn bis nun ist er mit Ausnahme unserer Familienmitglieder noch niemandem erschienen. Was Sie gesehen haben, war kein Besucher, sondern eine Erscheinung.« – »Eine Erscheinung?« rief der Bischof.

»Ja«, fuhr die Dame fort, »und noch dazu eine von jenen, deren transzendentaler Charakter nicht zu bezweifeln ist, da sie sich während der zwei Jahre unseres Aufenthaltes in diesem Hause mir und meinem Manne vielleicht ein dutzendmal gezeigt hat und zwar unter Umständen, die jeden Betrug oder Selbsttäuschung ausschlossen. Da wir es uns nicht erklären können, aber gewiß sind, daß diese Sache nicht mit natürlichen Dingen zugehen könnte, so haben wir uns entschlossen, mit niemandem darüber zu sprechen. Nachdem Sie ihn aber gesehen haben, Mylord, möchten Sie mir einen Gefallen tun?«

»Ganz sicher, wenn es meinen Kräften zusteht«, antwortete er.

»Ich habe mir schon oft gedacht«, fuhr nun die Hausfrau fort, »daß wir jedenfalls sogleich von dem Gespenst frei sein würden, falls jemand den Mut aufbrächte, es einmal anzusprechen. Ich hatte immer Furcht, daß ihn eines Tages die Kinder sehen könnten oder vielleicht gar das Dienstpersonal. Diese würden vor Schreck das Haus verlassen. Können Sie nicht oder wollen Sie nicht, Herr Bischof, unter irgend einem Vorwand den Tisch verlassen und zurück in den Salon gehen, um nachzusehen, ob der Priester noch dort ist? Wenn ja, reden Sie ihn an, beschwören Sie ihn, von diesem Hause fortzubleiben, ja?«

Nach einiger Überlegung entschloß sich der Bischof zu dem Versuch. Die leise geführte Unterredung mit der Hausfrau schien unbemerkt geblieben zu sein. Dann bat er laut um Entschuldigung und um die Erlaubnis sich zu entfernen, bedeutete dem Lakaien zurückzubleiben und verließ den Speisesaal. – Ein seltsames Beklemmungsgefühl überkam ihn, als er beim Eintritt in den Salon die Gestalt des Priesters gewahrte, die noch immer auf dem Sofa saß und eifrig sein Brevier – falls es ein solches war – studierte. Aber mit festem Schritt trat der Bischof auf ihn zu: wie zuvor, begrüßte ihn der Priester mit einer höflichen Verneigung, aber anstatt sich wieder seinem Buche zuzuwenden, blieb sein Auge auf dem Gesicht des Bischofs haften – ein Blick von unsäglicher Müdigkeit und dennoch voll von eindringlicher Sehnsucht. Nach einer kurzen Pause sagte der Bischof langsam und ernst zu dem Priester:

»Im Namen Gottes, wer sind Sie und was wollen Sie?«

Der Angeredete schloß sein Buch, erhob sich vom Sitz und sagte nach kurzem Zögern mit leiser aber deutlicher Stimme:

»Niemals hat mich irgend jemand in dieser Weise angerufen. Ich werde Ihnen sagen, wer ich bin und was ich will. Wie Sie sehen, bin ich ein Priester der katholischen Kirche. Vor 80 Jahren war dieses Haus hier mein Eigentum. Ich war ein guter Reiter und liebte ungemein die Jagd, wo ich Gelegenheit dazu hatte; eines Tages war ich eben im Begriffe, zu einer Zusammenkunft in der Nachbarschaft zu reiten, als ich den Besuch von einer jungen Dame aus sehr hoher Familie erhielt, welche mir eine Beichte ablegen wollte. Was sie sagte, kann ich natürlich nicht wiederholen, aber es betraf unmittelbar die Ehre eines der höchsten Häuser von England. Die Sache erschien mir von solch bedeutender Wichtigkeit, daß ich die folgenschwere Indiskretion beging – sagen wir die Sünde, denn von der Kirche ist dies streng verboten –, mir Aufzeichnungen über den verwickelten Fall zu machen.

Nachdem ich ihr die Absolution erteilt und sie entlassen hatte, war es mir fast unmöglich, zur Zusammenkunft noch rechtzeitig einzutreffen, aber auch in der Eile vergaß ich nicht, die Notizen über das mir anvertraute Geheimnis sorgfältig zu verbergen. Aus Gründen, die ich hier nicht näher zu erörtern habe, hatte ich früher in eine der Mauern in den unteren Gängen des Hauses einige Ziegelsteine entfernen und eine kleine Nische anlegen lassen. In diesem Versteck glaubte ich die Aufzeichnungen bis zu meiner Rückkehr sicher, auch wenn unvorhergesehene Ereignisse dazwischen gekommen wären. Sobald ich vom Ausflug zurückgekehrt sein würde, hoffte ich Ruhe genug zu finden, um die Sache zu überlesen und überdenken; darauf wollte ich das gefährliche Papier sofort verbrennen. Ich legte die Blätter eiligst ins Buch, das ich in der Hand behalten hatte, drückte die Schließe zu und trug das Buch samt den Aufzeichnungen in das gemauerte geheime Fach, legte den Ziegel vor das Loch und ritt im Eilschritt davon. An diesem Tage wurde ich vom Pferd geschleudert und war auf der Stelle tot. – Seither ist es mein unseliges Verhängnis, an dieses, mein irdisches Geheimnis gefesselt zu sein, und immer darüber zu wachen, daß meine einstige Schuld nicht schlimme Folgen trage; alles hing davon ab, die Niederschrift des Beichtgeheimnisses vor der Entdeckung zu bewahren. Es hat aber vor Ihnen kein Mensch den Mut gefunden, mich anzureden, und so kam mir von nirgendher Erlösung oder Hilfe gegen mein schreckliches Los. Werden Sie mich retten? – Wenn ich Ihnen zeige, wo das Buch verborgen liegt, wollen Sie mir, bei allem, was Ihnen heilig ist, schwören, die darinliegenden Blätter zu verbrennen, ohne sie zu lesen oder irgend einem andern Menschenauge zu zeigen? Wollen Sie mir Ihr Wort darauf geben?«

»Ich verpfände Ihnen mein Wort, daß ich dies tun werde«, sagte der Bischof feierlich.

Das Auge des Priesters blickte so durchdringend, als ob er dem andern auf den Grund der Seele schauen wollte. Aber augenscheinlich war er zufrieden mit seiner Prüfung, denn der Geist wandte sich nun mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung von ihm ab und sagte:

»Nun gut, folgen Sie mir!«

Mit einem höchst eigenartigen Gefühle folgte ich der Priestergestalt, als sie die Treppen zum Erdgeschoß hinunterstieg und dann eine schmale, aus Stein gehauene Stiege betrat, die in den Keller führte. Plötzlich blieb der Priester stehen und wandte sich mit den Worten an den Bischof:

»Das ist die Stelle«! Er wies mit der Hand auf die Mauer. »Entfernen Sie hier den Mörtel, nehmen Sie den Ziegelstein heraus, und Sie werden dahinter eine Nische finden, von der ich zu Ihnen gesprochen habe. Merken Sie sich gut diesen Fleck und vergessen Sie nicht Ihr Versprechen.«

Der Bischof untersuchte auf das genaueste diese Stelle in der Mauer und wollte sich mit einer Frage an den Priester wenden. Aber zu seinem höchsten Erstaunen sah er sich allein in dem düster erleuchteten Gang. Eigentlich hätte er auf das plötzliche Verschwinden des Geistes vorbereitet sein können; indessen war er doch mehr erschrocken, als er sich selbst zugestehen wollte. Er behielt immerhin Geistesgegenwart genug, sein Taschenmesser zu ziehen, damit den Fleck an der Mauer zu bezeichnen, und darunter sein Messer zu legen, damit er sie leichter wieder auffinden könnte. Dann eilte er die Stiege empor und kam atemlos in den Speisesaal zurück.

Seine lange Abwesenheit erheischte eine Erklärung und auch sein erregtes Wesen bei seiner Rückkehr zog die Aufmerksamkeit der andern Gäste auf sich. Der Bischof war für den Augenblick unfähig, zusammenhängend zu sprechen. Er deutete bloß als einzige Antwort auf die Hausfrau hin, und diese gab nun zögernd Auskunft, mit welchem Auftrag sie den Bischof entsendet hatte. Es ist leicht erklärlich, wie großes Aufsehen ihre Erklärung bei den Gästen hervorrief. Als der Bischof sich einigermaßen gesammelt hatte, erzählte er den ganzen Sachverhalt vor der gesamten Tafelrunde, da ja schon von einem Verheimlichen nicht mehr die Rede sein konnte.

So bekannt er sonst als vorzüglicher Redner war, so durfte er doch diesmal die gespannteste Aufmerksamkeit gefunden haben, die man ihm jemals zugewandt hatte. Und als er am Schluß angelangt war, beschloß man einstimmig, es sollte sofort die Mauer durchsucht werden, um diese gespenstische absonderliche Geschichte auf ihre Wahrheit hin zu prüfen. Nach kurzer Weile war der Maurer zur Stelle und die große Gesellschaft stieg unter der Führung des Bischofs die Treppen hinab, um das Ergebnis seiner Arbeit zu sehen. Der Bischof hatte Mühe, ein Zittern zu unterdrücken, als er wieder in den Gang eintrat, wo ihn die Priestergestalt auf so ungewöhnliche Weise verlassen hatte. Er fand sofort die Stelle, welche ihm bezeichnet worden war, und der Maurer begann seine Arbeit.

»Der Mörtel scheint sehr hart zu sein«, bemerkte jemand.

»Ja«, erwiderte der Hausherr, »er ist von ausgezeichneter Qualität, und verhältnismäßiger Frische. Diese unterirdischen Gewölbe sind lange Zeit nicht betreten worden, soviel man mir sagte, bis man das alte Mauerwerk ausbessern und frisch tünchen ließ«.

Inzwischen war es dem Maurer gelungen, den Mörtel zu entfernen und an dem betreffenden Orte einige Ziegelsteine herauszuheben. Es war eine ziemliche Aufregung für die Gäste, als der Mann ein Loch in der Mauer ankündigte. Es war eine Höhlung mit von ungefähr zwei Fuß im Quadrat, und achtzehn Zoll Tiefe. Der Hausherr drängte sich hin, um einen Blick hineinzuwerfen, besann sich aber augenblicklich, um für den Bischof Platz zu machen, während er dabei sagte:

»Ich habe momentan Ihr Versprechen ganz vergessen. Ihnen allein gebührt hier die erste Untersuchung«.

Bleich, aber gefaßt begab sich der Bischof hin und holte aus der Öffnung rasch ein schwergebundenes, altertümliches Buch heraus. Es war dick mit Schimmel und Moder bedeckt. Da überkam die Gäste ein Beben aber kein Wort unterbrach die gespannte Stille, während der Bischof bedächtig das Buch öffnete. Kaum hatte er einige Blätter gewendet, als drinnen ein Stück Schreibpapier sichtbar wurde, vergilbt durch die lange Zeit und darauf einige verwischte, hastig hingeworfene Zeilen. Sobald er sicher war, das Gesuchte gefunden zu haben, wendete er seine Augen ab und während die andern zurücktraten, um ihm Platz zu machen, trug er seine Reliquie vorsichtig die Stufen hinauf. Nun ging er sofort ins nächst gelegene Zimmer und warf das Schriftstück ins Kaminfeuer, was den Anblick bot, als wollte er auf dem Altare Zoroasters ein heiliges Opfer darbringen.

Alles schwieg, bis der letzte Rest des so seltsam aufgefundenen Papieres zu Asche verbrannt war. Die meisten waren zu tief ergriffen, um sprechen zu können, nur einige ergingen sich in unzusammenhängenden Ausrufen wie: »Unglaublich! Wirklich wunderbar! Wer hätte so etwas für möglich gehalten?« u. dgl. – Der Bischof fühlte auch, daß niemand der Anwesenden diese Lektion im Leben vergessen würde, er selbst aber am allerwenigsten. Und tatsächlich, auch nach Jahren konnte er die Geschichte nicht ohne tiefe Erregung erzählen. Er setzte noch hinzu, daß man seither die Gestalt des Priesters nicht mehr im Hause gesehen habe, wo er so lange sein Geheimnis gehütet hatte. – – –

Wir können uns leicht vorstellen, wie der Unfall auf den Priester gewirkt haben mußte, der ihm zugleich mit dem Leben die Möglichkeit raubte, die Folgen seiner Handlung gut zu machen. Hierzu kam noch die Schwierigkeit, die in der Natur des Geheimnisses selbst lag. Es war natürlich schwer, jemand zu finden, dem eine solche Aufgabe anvertraut werden konnte. Das Gespenst mußte in steter Angst geschwebt haben, es könnte jemand Unwürdigem das Buch in die Hand fallen, und es wartete unablässig, bis es jemand fand, dem es die Vernichtung des verhängnisvollen Schreibens überantworten konnte.

Dieses Geschehnis ist wieder, wie in der vorhergegangenen Geschichte, eine vollkommen erwiesene und gar nicht ungewöhnliche Tatsache. Unsere Geschichte ist vielleicht nur dadurch besonders bemerkenswert, daß die Hauptperson der Handlung eine so hohe Stellung einnimmt, und durch das präzise Ineinandergreifen aller Einzelheiten mit einem dramatisch wirksamen Schluß.

Die Umstände, unter denen ich die Begebenheit vernommen habe, schließen jede Möglichkeit aus, daß es sich um eine romantische Erdichtung handelt, wie es oft dann der Fall ist, wenn eine Erzählung einen weiten Weg seit der Quelle genommen hat. Was mich selbst anlangt, kann ich nur sagen, daß ich peinlich genau in der Wiedergabe der Geschichte bin; in manchen Fällen habe ich sogar genau die Worte wiederholt, wie sie wirklich gebraucht wurden.


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