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Das Versprechen des Majors.

Die Geschichte, welche ich nun mitteilen will, gehört meinen ältesten Erinnerungen an, da ich sie vor vielen Jahren von meinem Urgroßvater gehört hatte. Während ich dies niederschreibe, sind bereits acht oder neun Jahre vergangen, seitdem er seine achtzig Winter, die biblische Lebensgrenze für den Menschen, überschritten hatte. Er war noch immer ein ungebrochener alter Soldat und nicht nur seine Geistesfähigkeiten waren vollkommen frisch geblieben, sondern auch seine physische Kraft war noch so gut erhalten, wie sie Männer in diesem hohen Alter selten besitzen. Er wurde 92 Jahre alt und war gewohnt, trotz seines hohen Alters, bis drei Wochen vor seinem Tode, täglich auszureiten. Es wird daher dem Skeptiker unmöglich sein, meine Geschichte als Zerrbild eines vom Alter Geschwächten zu betrachten, oder sie Übertreibungen meiner jugendlichen Phantasie zuzuschreiben. Ich stütze mich nicht auf mein Gedächtnis, sondern vielmehr auf einen sorgfältig abgefaßten Bericht über das Ereignis, datiert vom selben Jahre, in dem es sich zutrug, einem Bericht, welchen man unter den Papieren des alten Mannes nach seinem Tode gefunden hatte. Es scheint mir zweckmäßig, dies hinzuzufügen, obwohl ich erst zwanzig Jahre später Gelegenheit fand, diese Papiere zu prüfen. Dabei sah ich, daß jede Einzelheit dieser Aufzeichnungen genau übereinstimmte mit meinen eigenen lebendigen Erinnerungen.

Ich gebe den geschriebenen Bericht fast wörtlich wieder, während ich nur wenige Details aus der mündlichen Unterredung hinzufüge und mir natürlich Namensänderung vorbehalte. Ich erinnere mich, von meinem Urgroßvater gehört zu haben, daß irgend ein Schriftsteller (dessen Name ihm entfallen war) einen seiner Freunde besuchte und um die Erlaubnis bat, den Tatbestand dieser Ereignisse mit seiner Genehmigung zu Protokoll zu bringen. So wird es offenbar gekommen sein, daß unsere Geschichte in Mrs. Catherine Crowes bekanntem Buch »The Nightside of Nature« aufgenommen wurde. Sie ist darin vielfach verkürzt, weil manche Tatsachen, die ich jetzt berichten will, einfach weggelassen wurden. Die Geschichte des alten Mannes lautet so:

Ich war ein junger Bursche, als ich als Kadett in die Dienste der East India Companie trat und mich mit mehreren Kollegen eines schönen Morgens von Plymouth mit dem großen Schiff »Somerset« ostwärts einschiffte. Das waren recht lustige Zeiten. Und manche Illusionen von ruhmreichen Siegen umgaukelten unsere jugendliche Phantasie. Unsere fröhliche Gesellschaft bestand aus lauter lieben, heiteren Jungen, die stets sorglos und guter Dinge waren. Mit Geschichten, Späßen und Singen taten wir unser Bestes, uns die langweilige Reise so viel als möglich zu verkürzen.

Einer unter meinen Kameraden hatte für mich eine besondere Anziehungskraft, vielleicht deswegen, weil er der ernsteste von allen war, ja sogar Anwandlungen von Traurigkeit zeigte, während deren er sich in sich selbst verschloß und die Annäherung seiner Kollegen fast zurückstieß. Er war ein junger Gebirgsländer mit Namen Cameron, groß, hübsch und sehr belesen. Jedoch ein Mensch, der sein Wissen ungern zur Schau trug. Ein Mensch, der außerhalb der großen Menge stand, und, wie man instinktiv fühlen mochte, vielleicht eine Vorgeschichte hatte. Wie gesagt, er zog mich besonders an; und obwohl er sich anfangs sehr reservierte, wurden wir doch mit der Zeit intime Freunde. Während er in seinen melancholischen Stimmungen die Allgemeinheit stets mied, fand er dann immer eine Art passiven Vergnügens daran, mit mir allein von allen Kameraden sich abzusondern und zu plaudern.

In solchen Zeiten konnte er fast stundenlang, ohne viel zu sprechen, an meiner Seite sitzen und mit seinem tiefen, ernsten, nach innen gekehrten Blick unverwandt die Augen aufs Firmament heften. So mußte ein Mann aussehen, dachte ich mir, bei dem sich grauenhafte Erlebnisse einzustellen pflegen und der sich darum in seinem Wesen von den anderen unterscheidet. Aber ich fragte ihn niemals danach. Ich wartete geduldig, bis die Zeit herankommen würde, wo unsere gereiftere Freundschaft das Geheimnis enthüllen sollte.

Noch etwas fiel mir auf: Sobald das Gespräch auf übersinnliche Dinge kam, was öfter geschah, und wobei sich die meisten von uns darüber mit einer spöttischen Skepsis äußerten, so pflegte mein Freund nicht nur stillschweigend darüber hinwegzugehen, sondern er kehrte jedesmal der Gesellschaft den Rücken oder suchte zum mindesten das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. Niemand schien dies zu bemerken und ich sagte natürlich auch nichts dazu.

Wir landeten ohne Zwischenfall in Madras, und nachdem wir uns dort ungefähr vierzehn Tage lang aufgehalten hatten, wurde fünfen von uns, meinem Freund Cameron und mich eingeschlossen, der Auftrag erteilt, zu unserem Regimente einzurücken, welches in einer landeinwärts gelegenen Station lag. Unsere Abteilung befand sich unter dem Befehl eines gewissen Major Rivers, welchen wir während der kurzen Zeit unseres Aufenthaltes auf dem Schiffe sehr lieben gelernt hatten. Er war klein und schwächlich, mit kurzsichtigen grauen Augen, aber einem besonders herzlichen Lächeln; ein Mann, der extrem genau in Kleinigkeiten sein konnte, aber sonst offen, gütig und generös war. Mit einem Worte ein ganzer Soldat und Sportsmann zugleich. In der Tat hatte seine Vorliebe für Sport ein merkliches Kennzeichen an seinem Bein hinterlassen; sein Hinken war die Folge eines Jagdunfalles.

Da ein großer Teil unserer jetzigen Reise auf dem Wasser zurückgelegt werden mußte, wurden Lebensmittel in einer Art Barke für uns untergebracht und wir brachen mit dieser eines Morgens vor Tagesanbruch auf. Bald wurde uns unerträglich heiß, denn das Land war flach und unser Fortkommen ein äußerst langsames. Ich muß gestehen, daß uns die Zeit herzlich lang wurde. Manchmal legten wir an, um die Beine in einem kurzen Spaziergang zu strecken. Jedoch die furchtbare Hitze trieb uns bald wieder zurück unter das Zeltdach. Am Abend des zweiten Tages waren wir mit unserer Langeweile an der Grenze der Verzweiflung angelangt, als der Major uns munter anrief: »Meine Herren, ich mache Ihnen einen Vorschlag!« »Hört, hört!« riefen wir alle. »Eine Abwechselung in dieser abscheulichen Einsamkeit.« »Meine Idee«, sagte der Major, »ist diese: Sie sehen dort drüben rechts den kleinen Hügel. Diesen Landstrich kenne ich sehr gut und ich weiß genau, daß der Fluß hinter dem Hügel vorbeikommen muß. Der Fluß macht so viele Windungen, daß wir viermal so lange brauchen würden, als wenn wir die Luftlinie nehmen und zu Lande dorthin marschieren. Es ist ohnedies schon Zeit, unser Nachtlager aufzuschlagen, und so dachte ich mir, daß wir morgen früh unser Boot verlassen könnten, um tagsüber ein wenig in den Dschungeln zu jagen, von denen ich aus Erfahrung weiß, daß man darin auf sein Sportvergnügen kommt. Vorher müssen wir uns besprechen, wann wir uns am Fuße des Hügels wieder beim Boot einfinden wollen.«

Natürlich begrüßten wir den Vorschlag mit einem Freudenruf. Früh am nächsten Morgen sprangen wir mit den Gewehren ans Ufer, begleitet von unserem allgemeinen Liebling, einem großen, schönen, intelligenten Hunde, der einem Kameraden gehörte. Der Major, welcher in einem großen Paar Stiefeln erschien, erhöhte unsere gute Laune. Und als jemand die Bemerkung machte, daß er mehr zum Fischen als zum Jagen ausgerüstet sei, lachte er nur gutmütig und meinte, daß wir uns vielleicht, wenn der Tag vorüber sei, auch wünschen würden, so versorgt zu sein.

Wirklich behielt er recht, denn der Boden war in einiger Entfernung ausgesprochen sumpfig, so daß wir an vielen Stellen von Strauch zu Strauch, von einem Stein zum andern springen mußten, um nur festen Fuß fassen zu können. Bei dem Gewicht der Gewehre machte uns das auf die Dauer gehörig warm. Zuletzt hatten wir unsere Schwierigkeit mit einem schlammigen Fluß oder Graben, welcher in einer Breite von zirka 12 Fuß vor uns lag. »Ein ziemlich weiter Sprung für einen Mann, welcher ein schweres Gewehr zu schleppen hat«, sagte ich. »Oh«, antwortete der Major, »ich glaube, daß es uns gelingen wird; auf alle Fälle versuche ich es. Und wenn ich mit meinem lädierten Bein hinüberkomme, wird es für euch junge Leute um so leichter sein.«

Er nahm einen kurzen Anlauf und sprang ohne Anstand über den Graben. Unglücklicherweise aber gab drüben der schlüpfrige Grund nach, er glitt aus und rutschte ins Wasser hinunter. In diesem Moment sprangen wir andern hinüber; wir langten alle glücklich an und eilten zu seiner Hilfe herbei. Er war ganz unverletzt, und dank seinen riesigen Stiefeln nicht einmal naß geworden. Aber sein Gewehr war voll Schlamm und mußte vollständig gereinigt werden. Der Major warf sich lachend nieder und während er sich mit seinem Hut Luft zufächelte, sagte er: »Sie müssen wohl eine Zeitlang ohne mich weiter gehen.« Wir wollten ihn nicht allein da am Boden sitzen lassen und protestierten dagegen unter dem Vorwand, das Land nicht zu kennen, wir boten ihm unsere Hilfe zur Reinigung seiner Waffe an, aber er lehnte ab. »Nein, nein«, sagte er, »ihr müßt vorwärts machen und sehen, was zu finden ist. Ich werde in zirka einer halben Stunde nachkommen. Wir können einander nicht verfehlen. Und im schlimmsten Falle ist dieser Hügel unser Merkzeichen. Ihr klettert nur auf einen Baum hinauf und habt Eure Richtung. Aber jedenfalls vergessen Sie nicht, um fünf bei dem Boot zu sein, denn ob ich Sie inzwischen einholen werde oder nicht, ich verspreche Ihnen, daß Sie mich um diese Zeit dort treffen werden.«

Wir gehorchten etwas widerstrebend, und während wir in die Dschungeln eindrangen, saß er noch immer unter dem Baum und fächelte sich Kühlung zu. Wir mochten wohl eine halbe Stunde gewandert sein, ohne besonderes Jagdglück zu haben und besprachen eben, wann der Major uns einholen würde, als Cameron, welcher neben mir ging, plötzlich blaß wurde wie der Tod und stehen blieb. Er wies mit seiner Hand gerade vor sich hin und sagte im Tone des Schreckens: »Seht, seht! Barmherziger Gott! Schaut dorthin!«

»Wo, was, was ist denn los«, schrien wir durcheinander, alle außer Fassung. Wir eilten zu ihm und erwarteten irgend einen Tiger oder eine Kobra zu sehen. Irgend etwas Furchtbares mußte es gewesen sein, was unseren verschlossenen Freund in so plötzliche Erregung versetzte. Aber weder eine Kobra noch ein Tiger war zu erblicken. Cameron wies mit entsetzten Augen und entstellten Zügen nach irgend etwas, was wir nicht zu sehen vermochten.

»Cameron, Cameron«, rief ich, indem ich ihn am Arme faßte, »um des Himmels Willen, sprich doch, was ist denn los?« Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, als ein dumpfer aber eigentümlicher Laut an mein Ohr schlug und Cameron seine ausgestreckte Hand sinken ließ, während er mit heiserer, mühsamer Stimme sagte: »Da! Hast Du's gehört? Gott sei Dank, nun ist es vorüber, nun ist es vorüber!« Indem er diese Worte aussprach, fiel er bewußtlos zu Boden.

Nun entstand ein großes Durcheinander. Rasch knüpften wir seinen Kragen auf, ich bespritzte sein Gesicht mit Wasser, welches ich glücklicherweise in meiner Feldflasche hatte, während ein anderer ihm Branntwein zwischen die zusammengepreßten Zähne einzuflößen suchte. Hinter ihm flüsterte ich meinem Kameraden, der mir zunächst stand, nebstbei einer unserer größten Skeptiker, zu: »Beauchamps, hast Du etwas gehört?«

»Warum? – Ja«, antwortete er; »einen ganz eigenartigen Laut. Es war ein Schuß oder ein Krach in weiter Entfernung, aber sehr deutlich. Wenn es nicht ganz ausgeschlossen wäre, hätte ich geschworen, das Geräusch eines Gewehrfeuers.«

»Ganz so ist es auch mir vorgekommen«, murmelte ich; »aber sei still, er kommt zu sich.«

Nach einigen Minuten konnte Cameron wieder sprechen und dankte uns und entschuldigte sich für die viele Mühe, die er uns verursacht hatte. Alsdann setzte er sich auf und während er gegen einen Baum gelehnt saß, sagte er, noch immer mit schwacher Stimme: »Meine lieben Kameraden, ich fühle, daß ich Ihnen eine Erklärung für mein seltsames Benehmen schulde. Obwohl ich dem lieber ausgewichen wäre, sehe ich gleichwohl ein, daß es einmal sein muß. Und so kann es ebensogut jetzt sein.«

»Ihr habt vielleicht bemerkt, daß ich, wenn Ihr während der Reise über Träume, Vorahnungen oder Visionen gespottet habt, meinerseits meine Ansicht über diesen Punkt zurückhielt. Ich tat dies, weil ich einerseits nicht den Wunsch hegte, die Dinge ins Lächerliche ziehen zu lassen, andererseits aber keinen Streit darüber heraufbeschwören wollte. Ich weiß leider nur zu gut, aus meinen eigenen furchtbaren Erfahrungen, daß die Welt, welche von den Menschen die Übersinnliche genannt wird, genau so besteht, wie die sinnliche Welt, die wir um uns wahrnehmen. Mit einem Wort: Ich habe gleich anderen meiner Landsleute die schreckliche Gabe des zweiten Gesichts, welche Unglücksfälle sehen läßt, die in kurzem eintreten sollen.

Solch eine Vision hatte ich auch jetzt, die mich in ihrer Furchtbarkeit derart erstreckte, wie Ihr es eben an mir bemerkt habt. Ich sah vor mir einen Leichnam, aber nicht einen ruhig und eines natürlichen Todes gestorbenen Körper, sondern das Opfer eines gräßlichen Unglücks. Es war eine grauenhafte, formlose Masse mit aufgedunsenem Gesicht und bis zur Unkenntlichkeit zerquetscht. Ich sah, wie man dieses schreckliche Ding in einen Sarg legte und wie sich danach das Leichenbegängnis abspielte. Ich sah den Begräbnisplatz und den Pfarrer, und obwohl ich in Wirklichkeit jemals weder das eine noch das andere gesehen habe, könnte ich doch alles genau beschreiben, wie es nun vor meinem geistigen Auge steht. Ich gewahrte Dich, mich selbst, Beauchamps, alle unsere Kameraden und noch viele andere, welche rund herum als Leidtragende standen. Nachdem die Feldmesse beendigt war, hoben die Soldaten ihre Gewehre und ich hörte sie die Ehrensalve abfeuern. Mit einem Male wußte ich nichts mehr von mir.«

Während er von den Gewehrschüssen sprach, blickte ich einen Moment auf Beauchamps und der vor Schreck versteinerte Blick auf dem hübschen Gesicht des Skeptikers wird mir immer unvergeßlich bleiben. Die Vision hielt uns im Banne und keiner wollte das erste Wort aussprechen. Es herrschte minutenlang eine so lautlose, drückende Stille, wie man sie nur an einem Mittag in den Tropen findet, vielleicht tiefer, als die Ruhe um Mitternacht. Mit einemmale wurde sie unterbrochen, aber durch keinen aus dem Walde kommenden Laut, sondern von irgend etwas, das unter diesen Umständen mehr erschreckte als sonst vielleicht das Zischen einer Schlange oder das Gebrüll eines Tigers. Wir vernahmen den tiefen ernsten Klang einer Kirchenglocke.

»Herrgott, was ist das?« rief Beauchamps erschüttert, während wir alle auf die Füße sprangen und der Hund seinen Kopf in die Höhe streckte und heulte.

»Es ist die Glocke, welche nach Camerons Vision zum Begräbnis läutet«, sagte Granville, der Witzvogel unserer Gesellschaft, während er mit aschfarbenem Gesicht zu lachen versuchte. Wir waren aber durchaus nicht zum Scherzen aufgelegt.

Während wir so vom Schreck durchdrungen dastanden, hörten wir abermals den tiefen unverkennbaren Klang, der weder vom Winde herbeigetragen sein, noch aus der Ferne schallen konnte, sondern wie mitten unter uns erklang, dicht über unseren Köpfen, daß wir davon den Boden unter unseren Füßen erzittern fühlten.

»Verlassen wir diesen furchtbaren Ort«, rief ich, indem ich Cameron an einem Arm faßte und Beauchamps ihn am andern. So stützten wir ihn beide und schleppten ihn weiter. Die anderen folgten uns. Aber wir mochten kaum zehn Schritte gegangen sein, als wir wiederum jenes hohle Geläute vernahmen, das unseren Gang zu schleunigerem Tempo antrieb, und wiederum heulte der Hund jämmerlich. Auf diese Weise marschierten wir schweigend einige Meilen, währenddessen sich nichts Ungewöhnliches mehr ereignete, bis wir schließlich in ein Tal gelangten, durch dessen Grün sich ein klares, silberhelles Bächlein hindurchschlängelte. An seinem Ufer ließen wir uns nieder, um zu rasten, denn Cameron hatte sich noch immer nicht erholt und schien unfähig, weiter zu gehen. Das kühle Wasser nach so langer Wanderung erquickte uns ein wenig und wir begannen ernstlich, die letzten Ereignisse zu besprechen. Betreffs Camerons Vision konnte nicht der geringste Zweifel sein, daß er sie tatsächlich gehabt hatte, wenn auch natürlich die Erscheinung für ihn völlig subjektiv war; für ihre Tatsächlichkeit sprach schon als hinreichender Zeuge die vorhergehende, heftige, schmerzliche Erregung. Viel mehr Schwierigkeit bot uns die Erklärung für den dumpfen, entfernt klingenden und doch äußerst deutlichen Laut eines Gewehrfeuers, den Beauchamps und ich gehört hatten. Granville und Johnson, die davon nichts gehört hatten, sahen in dem Knall nichts anderes, als eine Ausgeburt unserer erhitzten Phantasie, da wir natürlich über Camerons absonderlichen Zustand sehr aufgeregt waren. Und als wir darauf hinwiesen, wie sonderbar doch dieses Zusammentreffen des Schalles mit dem tragischen Ausgange der Vision sei, wollten sie darin nur einen Zufall erblicken.

Weder Beauchamps noch mich befriedigte diese Auslegung. Wir hatten den Knall gehört und wir wußten, daß die Erklärung eine andere sein mußte. Da es uns aber nicht möglich war, den logischen Zusammenhang aufzudecken, fanden wir alles weitere Streiten nutzlos und ließen es dabei bewenden. Nun aber die unheimlichen Glockenlaute! Hier dachte niemand an eine Einbildung. Wir hörten alle zugleich den Schall über uns und fühlten gleichzeitig das von ihm in der Erde hervorgerufene Zittern.

»Aber«, sagte Granville, »natürlich muß sich auch da irgend eine Art finden, die Sache auf natürliche Weise zu erklären. Sogar, wenn es solche Wesen wie Geister geben sollte, wäre es doch ganz absurd, anzunehmen, daß diese derartige Geräusche hervorbringen sollen. Ich habe von Fällen gelesen, wo in so großer Entfernung ein verblüffend täuschendes Echo entstand, daß kein Mensch geglaubt hätte, daß dies blos ein Widerhall sei.«

»Ein Echo?« erwiderte Cameron. »Innerhalb 50 Meilen von uns ist doch weit und breit keine Kirchenglocke; und eine wie diese vielleicht in ganz Indien nicht, denn sie klang ja fast so wie die große Glocke von Moskau.«

»Ja, diese Glocke kann gewiß nicht 50 Meilen weit geläutet worden sein«, bemerkte Beauchamps nachdenklich. »Ihr habt doch sicherlich von den Campaneros in Südamerika gehört, von dem entzückenden Vogel mit so einem klangartigen Gesang?«

Wir alle wußten davon, aber auch, daß diese Gattung in Indien gar nicht existiert, außerdem stimmten wir alle darin überein, daß der Vogel noch nicht geboren war, der einen so volltönenden Klang zu erzeugen vermocht hätte.

»Ich möchte, der Major wäre hier«, sagte Granville; »er kennt doch das Land und hätte uns die ganze Sache erklären können.«

»Ha, ich weiß schon, mir ist das ganze mysteriöse Geheimnis klar!« rief Granville; »natürlich hat uns der Major einen Streich gespielt und lacht uns beim Gedanken an unsere dumme Angst aus.«

»Eine glänzende Idee!« stimmten ihm Beauchamps und Johnson eilig bei, »das ist es.«

»Aber halt«, warf ich dazu; »wie sollte er das gemacht haben? Er kann doch schwerlich eine Glocke von zwei oder drei Tonnen Gewicht in der Rocktasche mitgetragen haben.«

»Jedenfalls hat er irgend etwas ausfindig gemacht«, sagte Granville. »So habe ich z. B. gehört, daß ein richtig präpariertes Eisenstück, wenn es angeschlagen wird, einen ähnlichen Klang bekommt wie eine Glocke.«

»Kann sein; aber solche präparierte Eisenstangen findet man für gewöhnlich nicht so in den Dschungeln umherliegen; und er hat im Boot ganz gewiß nichts bei sich gehabt.«

»Vielleicht hat er seinen Gewehrlauf dazu benützt.« ...

Aber jetzt lächelten alle so merkbar, daß der Sprecher wieder verstummte und Cameron erwiderte ihm ruhig: »Woher sollten wir dann diesen Schall über unseren Köpfen vernommen haben?«

»Ein geschickter Bauchredner kann alles Mögliche«, antwortete Granville.

»Aber mein Lieber, kannst Du im Ernst denken, daß ein solcher Klang aus einer menschlichen Kehle kommen kann?«

»Hm«, meinte Granville; »das kann ich nicht sagen. Aber solange ihr mich nicht eines Besseren belehrt, werde ich dabei bleiben, daß der Major in irgendeiner Weise für unsern Schrecken verantwortlich ist.«

Ihm stimmten auch Beauchamps und Johnson zögernd bei. Cameron lächelte traurig und schwieg kopfschüttelnd. Ich selbst wußte nicht, was ich davon denken sollte, denn mein Skeptizismus war in merkwürdiger Weise von den Ereignissen dieses Morgens erschüttert worden.

Wir lagen mehrere Stunden an dem Rand des murmelnden Bächleins. Jeder durchwühlte sein Gedächtnis nach halbvergessenen Geschichten von übersinnlichen Erscheinungen, von Kobolden, Elfen, Gespenstern, die uns vielleicht einmal in glücklicher Kindheit von einer alten Amme erzählt worden waren. Ich erinnere mich an eine Erzählung von Cameron, die er mir als Antwort auf meine Frage über sein erstes Hellseherlebnis gegeben hatte; ich habe noch gut im Gedächtnis, daß er zu mir sagte:

»Die erste Begebenheit, an die ich mich erinnere, geschah, als ich noch ein Junge von sechs oder sieben Jahren war. Eines Abends ging ich mit meinem Vater spazieren. Wir standen und beobachteten die Fischerleute unseres kleinen Dorfes, wie sie ihre Boote vom Lande abstießen, um ihre Nachtarbeit zu beginnen. Unter ihnen befanden sich zwei nette Burschen, Alec und Donald, meine besonderen Lieblinge, die jedesmal »dem kleinen Laird«, (wie sie mich nannten) seltene Fische zum Ansehen mitbrachten und einmal ruderten sie mich sogar in ihren Booten aus. Nun winkte ich ihnen mit der Hand, da sie in See stachen; darauf setzten mein Vater und ich unsern Spaziergang fort und stiegen die Felsen empor, so daß ich die Boote noch weit draußen auf der See verfolgen konnte.

Wir waren in der Nähe unseres Heimes angelangt, als ich an der alten grauen Mauerwand an einem Flügel unseres Schlosses zu meinem Erstaunen Alec und Donald ruhen sah. Ich wollte zu ihnen sprechen, als mein Vater meine Hand umklammerte; ich blickte zu ihm auf und gewahrte einen tiefen Ernst in seinem Gesicht. Zugleich aber fiel es mir auf, daß uns die Burschen nicht wie sonst grüßten und uns gar nicht zu sehen schienen.

»Vater«, fragte ich, »was tun denn Alec und Donald hier?«

Er blickte mich voll tiefen Mitleids an und sagte: »Hast Du sie denn auch gesehen? Oh, mein lieber, lieber Junge!« Nachher achtete er nicht mehr auf meine Fragen und redete nichts, bis wir nachhause kamen. Er zog sich in sein Zimmer zurück, während ich zum Strand hinunterlief, um zu sehen, warum meine jungen Freunde mit ihren Booten schon zurückgekehrt waren. Aber zu meiner Verwunderung sah ich kein einziges Fischerboot, nur eine alte Frau, welche ganz in der Nähe unter ihrer Türe saß und spann, versicherte mir, daß ganz bestimmt keines gekommen sei, nachdem die ganze Flotte vor zwei Stunden in die See gegangen war. Ich war betroffen, hegte jedoch keinen Zweifel, daß ich meine Freunde wirklich mit Fleisch und Blut gesehen hatte. Sogar die große Sturmwelle, welche mich in der Nacht geweckt hatte, flößte mir keine andern Gedanken ein. Als ich aber am nächsten Morgen Männer mit ernsten Gesichtern die Leichen von Alec und Donald ins Haus tragen sah, stieg in mir eine Ahnung von dem auf, was ich jetzt leider als das zweite Gesicht kennen gelernt habe.« –

Auf diese Weise vergingen die Stunden, bis uns die untergehenden Sonnenstrahlen an unsere Verabredung mahnten, zum Boot zurückzukehren. Wir hatten nicht weit zu gehen, da der bewaldete Hügel vor uns lag, an dessen Füßen die Zusammenkunft stattfinden sollte. Unsere frühere Stimmung war zurückgekehrt. Wir lachten und plauderten lustig miteinander, während wir daran dachten, wo wir den Major finden würden und was er wohl zu unserem unglaublichen Erlebnis sagen würde. Beauchamps, der unseren Führer machte, rief aus: »Endlich sind wir am Waldessaum angelangt.«

Plötzlich kam sein Hund, der vorausgeeilt war, zurückgelaufen, kauerte sich zu unsern Füßen nieder, mit einem Ausdruck der höchsten Angst. Wir hatten keine Zeit, uns über sein außergewöhnliches Gebaren zu verwundern, denn abermals erscholl in unserer Mitte der tiefernste Glockenklang, und wiederum steckte das arme Tier seine Schnauze in die Luft und heulte jämmerlich.

»Ha!« rief Cameron, sich hastig an Granville wendend – »Echo?? Bauchrednerkunst? Eiserne Blöcke? Gewehrlauf? Welche von diesen Hypothesen ziehst Du vor?«

Kaum hatte er dies gesprochen, da kam nochmals dieses entsetzliche, überirdische Geläute. Wie ein Mann stürzten wir vorwärts, da schlug die Glocke wieder an unser Ohr und ihr Laut vermischte sich mit dem Geheul des Hundes. Wir eilten die abschüssige Wiese hinunter und mit einem unaussprechlichen Gefühl der Erleichterung sahen wir unser Boot bereits angelegt und den Major in einiger Entfernung von uns hastig darauf zuhinken.

»Herr Major!« schrien wir. Aber er wendete nicht den Kopf nach uns zurück, obwohl er im allgemeinen ein sehr gutes Gehör hatte. Er eilte nur dem Boot zu und wir eilten hinter ihm her, so schnell wir konnten, um ihn einzuholen. Zu unserem Erstaunen wollte der Hund nicht mit uns, sondern kläffte noch einmal kläglich auf und lief in den verwunschenen Wald zurück. Natürlich dachte niemand daran, ihm nachzugehen, da die Aufmerksamkeit allein auf den Major gerichtet war. So schnell wir auch liefen, wir konnten ihn nicht einholen. Und während wir noch 50 Schritte vom Boot waren, sahen wir ihn über den Steg schreiten, den unser Bootsmann zum Einsteigen für ihn bereit gelegt hatte. Er eilte die Stufen hinab, wir hinter ihm her, konnten ihn aber zu unserer größten Überraschung nirgends finden. Die Tür der Kabine stand angelweit offen, doch sie selbst war leer. Obwohl wir das ganze Boot durchsuchten, konnten wir keine Spur von ihm finden.

»Na«, rief Granville, »das ist doch der größte Streich von allen!«

Cameron und ich tauschten Blicke; aber Granville, der darauf nicht achtete, flog neuerlich auf Deck und fragte den Bootsführer, wo der Major sei.

»Sahib«, antwortete der Mann, »ich habe ihn seit frühe, wo er das Boot mit Ihnen verließ, nicht mehr gesehen.«

»Was willst Du damit sagen«, brüllte Granville, »er kam doch wenige Sekunden vor uns an Bord zur Barke. Wir alle und ich selbst haben ihn gesehen, wie Du mit eigener Hand den Landungssteg herabließest.«

»Sir«, antwortete der Mann, während er ihn höchst erstaunt ansah, »Sie sind sicher im Irrtum; denn Sie sind der erste, welcher das Boot betritt und ich habe den Steg heruntergelassen, weil ich Sie kommen sah. Was den Herrn Major anlangt, so habe ich ihn seit dem Morgen nicht mit einem Blick wiedergesehen.«

Wir standen wie angewurzelt und starrten einander mit furcht- und entsetzenerfüllten Gesichtern an. Cameron murmelte:

»Dann ist er tot, wie ich befürchtete. Also hat doch meine Vision ihm gegolten.«

»Das ist alles wirklich sehr merkwürdig«, sagte Beauchamps, »etwas, was ich unmöglich begreifen kann. Aber eines ist klar: wir müssen sofort zurück an den Platz, wo wir morgens den Major verlassen haben und ihn dort suchen. Es muß irgend ein Unglück geschehen sein!«

Wir setzten dem Bootsmann auseinander, wo wir uns von dem Major getrennt hatten und fanden, daß auch er unsere Befürchtungen teilte:

»Das ist ein sehr gefährlicher Ort, Herr«, sagte er; »einstens stand hier ein Dorf, soviel ich weiß, und von daher sind noch zwei oder drei tiefe Brunnen übrig geblieben, deren grausiger Schlund vollständig von langen Gräsern und Buschwerk überwachsen ist. Da der Herr Major kurzsichtig ist, wäre es sehr möglich, daß er in einen solchen Schacht hineingefallen ist.«

Diese Aussage steigerte natürlich unsere Angst aufs zehnfache; wir verloren keine Zeit, nahmen drei von unseren Matrosen und ein langes starkes Seil mit uns und verließen abermals die Barke. Man kann sich denken, daß wir nicht ohne Schaudern wiederum in das Gehölz eindrangen, in welchem wir jene geheimnisvollen Geräusche gehört hatten. Der Glockenklang, der uns allen Grund zu Befürchtungen gab, sollte uns vielleicht in irgend einer Weise als Warnungszeichen für ein bevorstehendes Unheil dienen, oder auch den Unglücksfall selbst begleiten, jetzt aber besprachen wir vor allem das rätselhafte Auftauchen und Verschwinden des Majors beim Boot. Jetzt konnten wir uns nichts anderes denken, als daß wir seinen Geist gesehen haben mußten.

Wir beratschlagten alles sorgfältig und konnten mit Sicherheit feststellen, daß wir alle fünf ihn deutlich gesehen hatten. Wir bemerkten ohne Ausnahme seine große Eile und sahen alle, daß er wohl noch seine Stiefel trug, aber keinen Hut und kein Gewehr bei sich hatte. Und schließlich hatten wir alle ihn die Treppe an Bord hinabsteigen gesehen und, falls er ein Mensch mit Fleisch und Blut gewesen wäre, fanden wir es einstimmig für unmöglich, daß er darauf unauffindbar hätte bleiben können. Obwohl einige von uns genügend skeptisch gegen alle übersinnlichen Phänomene waren, so glaubte ich, daß fast niemand unter uns erwartete, ihn noch lebend wiederzusehen. Vielleicht werden Sie es nicht als eine Schande für einen tapferen Soldaten betrachten, wenn ich bekenne, daß wir eng zusammenrückten und meist im Flüsterton sprachen, als wir wieder in den Wald eintraten. Nur von Zeit zu Zeit hielten wir an, schossen unsere Gewehre ab und riefen alle zusammen seinen Namen, so daß der Major, wenn er irgendwo in der Nähe im Walde lag, unfähig, sich zu erheben, uns gehört haben müßte. Ohne auf etwas Ungewöhnliches zu stoßen, setzten wir unsern Weg fort, und fanden ohne Schwierigkeiten den Ort, wo wir den Graben übersprungen hatten und den Baum, unter dem der Major lag, als wir uns von ihm trennten. Von diesem Punkte aus konnten die Matrosen seine Spuren mit Leichtigkeit einige hundert Schritte weit verfolgen, bis endlich einer von ihnen auf Hut und Gewehr des Vermißten stieß, die auf der Erde lagen.

»Eben jene zwei Gegenstände, welche er nicht bei sich trug, als wir ihn vor dem Boote sahen«, flüsterte Cameron mir zu. Nun waren wir sicher, daß ein furchtbares Unglück ihn getroffen haben mußte, möglicherweise sogar hier irgendwo in der Nähe. Und richtig! – wenige Schritte weiter sahen wir die verwachsene Öffnung eines solchen verlassenen Brunnens, vor denen uns die Eingeborenen so gewarnt hatten.

Himmel! An seinem Rande konnte man die unverkennbaren Spuren eines ausgeglittenen Fußes gewahren. Ohne Zweifel war unser Freund in die finstere Tiefe hinabgestürzt, die uns da entgegengähnte und hatte sich, wenn auch nicht sofort getötet, so doch tödlich verletzt.

Die Sonne stand schon tief am Horizont, und da die Nacht in den Tropen rasch hereinbricht, hatten wir keine Zeit zu verlieren. Als wir daher auf unsere Rufe keine Antwort erhielten, wickelten wir eilig ein Seil um einen Baumstamm, welcher über die Brunnenöffnung ragte, und einer der Bootsleute ließ sich daran hinab.

Alsbald scholl aus großer Tiefe ein Ruf zu uns empor. Der Mann hatte den Grund erreicht und unten einen Körper gefunden. Aber er hatte uns nicht sagen können, ob es der Major war oder nicht. Wir riefen ihm zu, den Körper am Seil anzubinden, und mit pochendem Herzen zogen wir ihn ans Tageslicht. Niemals werde ich den grauenhaften Anblick vergessen, der mir da im Dämmerlicht entgegengrinste. Es war tatsächlich der Körper des Majors, dies war aber nur mehr aus seinen Kleidern und Stiefeln zu ersehen. Kaum war in dieser formlosen Masse ein menschlicher Leib wiederzuerkennen. Das aufgedunsene, zerquetschte Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit entstellt, – so wie es Cameron in seiner Vision gesehen hatte. Der Tod mußte augenblicklich erfolgt sein, da sein Kopf jedenfalls mehr als einmal gegen die rauhen, felsigen Vorsprünge an den Innenwänden des Brunnens beim Hinabstürzen aufschlug.

Zugleich mit dem menschlichen Leichnam aber wurde zu unserem Entsetzen am Seile auch noch der zerfetzte, lebenswarme Körper von Beauchamps' Hund heraufgezogen, der von dem Bootsmann bei dem undeutlichen Licht in der Tiefe von dem Seile mitumwickelt worden war; in der Brust des armen Tieres schlug noch das Herz. Es war noch keine Stunde her, seit der Hund auf die Suche nach dem Major in die Dschungeln gelaufen war.

Uns allen graute. Verstört flochten wir aus Zweigen eine primitive Tragbahre, legten mit abgewandtem Gesicht die Überreste unseres Majors darauf und trugen ihn schweigend zu unserem Boot.

So endet meine grausige Geschichte, und es wird sich kaum jemand wundern, daß alle Beteiligten einen tiefen Eindruck fürs ganze Leben von ihr zurückbehielten. Seither habe ich schon so manche Schlachten mitgemacht, gar oft dem Tode in seinen furchtbarsten Gestalten ins Antlitz geschaut, – Gewohnheit erzeugt Verachtung: indessen gibt es Zeiten, wo ich mich fürchte allein zu sein. Ich sehe dann die gespensterhafte Gestalt eilig dahinschreiten, höre das Grabgeläute und starre mit Entsetzen auf den furchtbar verstümmelten Körper, der aus der Tiefe emporgezogen wird. Noch eine Tatsache wäre zu erwähnen, um meine Geschichte vollständig zu machen. Als wir am folgenden Abend unseren Bestimmungsort erreichten und der traurige Vorfall von den Behörden aufgenommen worden war, unternahmen Cameron und ich einen Spaziergang, mit dem Wunsche, etwas von der düsteren Wolke, die über uns lag, durch den lindernden Einfluß der Natur abzuschütteln. Plötzlich packte er meinen Arm, wies mit seiner Hand durch ein altes Gitter und sagte: »Hier ist es ... das ist der Friedhof, den ich gestern gesehen habe.« Später wurden wir auch dem Kaplan der Garnison vorgestellt. Wenn auch außer mir niemand darauf zu achten schien, ich bemerkte doch, wie Cameron mit Mühe ein Schaudern unterdrückte, als er dem Kaplan die Hand drückte, und ich wußte sofort, daß mein armer Freund in ihm den Geistlichen seiner Vision wiedererkannte.

Das also ist die Geschichte meines Urgroßvaters. Was ihre okkulte Erklärung anbelangt, so nehme ich an, daß die Vision Camerons zu jener häufigen Art des Hellsehens gehört, welche in dem sogenannten »zweiten Gesicht« besteht. Und wenn das Glockenläuten am Schluß nicht von allen seinen Kameraden, sondern nur von zweien außer ihm gehört wurde, so dürfte das darauf zurückzuführen sein, daß diese beiden näher bei dem Seher standen und infolgedessen von ihm in ihrer Aura beeindruckt wurden, während er hellhörend das Läuten vernahm, und es durch seelische Schwingungen auf die andern übertrug, ähnlich wie bei der gewöhnlichen Gedankenübertragung.

Der Glockenklang muß eine außergewöhnlich kräftige Manifestation gewesen sein, vielleicht von dem Geist des verstorbenen Majors hervorgerufen, um seine Freunde zu verständigen. Es kommt häufig vor, daß ein toter Mensch, der plötzlich aus dem Leben geschieden ist und unvorbereitet in eine neue Umgebung kommt, deren Erscheinungsformen und Kräfte ihm unbekannt sind, in seiner verzweifelten Anstrengung sich mit der physischen Welt wieder in irgend einer Weise in Verbindung zu setzen, aufgeregt umherirrt, nach Kundgebungen trachtet und schließlich Effekte hervorruft, die er selbst nicht beabsichtigt oder erwartet hatte, und ebensowenig seine Freunde auf der Erde. Ich habe ein gleiches Beispiel nie erlebt, wohl aber von ähnlichen Vorfällen gehört. So stimme ich auch vollkommen mit Granville darin überein, daß er den Major für das Glockengeläute verantwortlich machte, ohne dies freilich richtig begründen zu können.

Nach dem, was wir von der extremen Pünktlichkeit des Majors gehört haben, ließe sich vielleicht die Erscheinung der hastig auf das Boot zueilenden Gestalt erklären. Es ist denkbar, daß der Vorsatz, sein gegebenes Versprechen auszulösen, ihn kurz vor dem Tode besonders beschäftigt hatte, und eben diesem intensiven Wunsch eine Manifestation zu verdanken wäre. Die Tatsache, daß ihn alle Offiziere, aber keiner der Bootsleute sahen, mag auf den Umstand zurückzuführen sein, daß die ersteren sich in so starker Erregung befanden und überdies des Majors ständige Gefährten gewesen waren, so daß sie mit dem Abgeschiedenen in viel engerem »Rapport« standen. Was den Hund anlangt, so pflegen Tiere für solche Erscheinungen viel empfänglicher zu sein als der Mensch; aber das seltsamste war die Auffindung seines Kadavers neben der Leiche des Majors. Ich kann nur annehmen, daß der Major den Hund als Hilfsmittel benützt hat, um seine Kameraden auf die richtige Fährte zu lenken. Da es ihm nicht gelang, die Menschen direkt zu der Unglücksstelle zu leiten, bediente er sich des Hundes dazu. Dieser war in seinem zu raschen Lauf dem Rettungsversuch zum Opfer gefallen, er war nicht rechtzeitig auf die gefährliche Stelle des dichtbewachsenen Bodens aufmerksam geworden. Freilich ist dies nur eine Vermutung.


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