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Sechzehntes Kapitel.
Triest

Diese Stadt ist in der Luftlinie 110 Kilometer, auf dem Straßenweg 190 Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt. Bombenflugzeuge könnten sie von der jetzigen Grenze Österreichs aus in einer halben Stunde erreichen. Eine automobilisierte Division könnte, wenn ihr kein Widerstand entgegengesetzt wird, in sechs Stunden da sein. Das ist einer der Gründe, weshalb Italien nicht wünscht, daß Deutschland Österreich besitze.

Ganz in der Nähe ist der zweite Grund dafür zu suchen, warum Italien nicht wünscht, daß Deutschland in den Besitz Österreichs gelange. In dem durch die Italiener nach dem Krieg von Österreich befreiten Südtirol leben 250 000 Deutsche. Vor fünf Jahren gab die italienische Regierung bekannt, Südtirol sei völlig italianisiert. Aber die 250 000 Deutschen sind noch immer Deutsche.

Triest und Südtirol bilden zusammen ein kräftiges Argument, das es unmöglich macht, positiv zu prophezeien, daß in diesem Teil Europas der Krieg nicht kommen werde. Heute stehen in Bozen, der Hauptstadt Südtirols, 40 000 italienische Soldaten unter Waffen. Sie sind da, so sagt man hier unten, um die »Nationalsozialisten daran zu verhindern, daß sie Österreich einnehmen«. Trotzdem läßt eine kühle Abschätzung der Möglichkeiten es einem von außen kommenden Beobachter unwahrscheinlich erscheinen, daß es zum Krieg kommen werde, selbst wenn Österreich nationalsozialistisch werden sollte.

Doch Italien macht sich jetzt Sorgen wie noch nie seit Kriegsende. Ehe Hitler in Deutschland zur Macht kam, schien Italien der Besitz der Österreich fortgenommenen Provinzen so sicher zu sein wie der Besitz irgend eines anderen Landesteils. Auf der anderen Seite des Brennerpasses war nur das kleine Österreich, ein Volk von sieben Millionen mit einer Armee von 20 000 Mann. Italien fühlte sich sicherer als seit Jahrhunderten.

Das österreichisch-ungarische Reich mit seinen 57 Millionen Einwohnern, seiner ehrgeizigen Monarchie, seinem grenzenlosen Streben nach territorialer Expansion hatte Italien stets bedroht. Als es zum Zusammenbruch dieses Reiches kam und das winzige Österreich übrig blieb, ein angenehmer kleiner Puffer zwischen Italien und dem deutschen Reich, fand Italien die Lösung ideal.

Heute ist an Stelle des österreichisch-ungarischen Reiches mit seinen 57 Millionen strebsamen, aber immerhin gemütlichen Habsburger Untertanen an der Nordgrenze Italiens eine Nation von 72 Millionen deutschen Nationalsozialisten im Begriff zu erscheinen, die alles Erdenkliche sein mögen, aber sicherlich nicht gemütlich sind. Südtirol wäre nur einen Schritt vom nationalsozialistischen Tirol entfernt. Nach Triest wäre es von der Grenze nur einen Katzensprung.

Dieser Hafen war Italiens größte Kriegsbeute. Die Propaganda, die darauf abzielte, Italien in den Krieg auf Seiten der Alliierten hineinzuziehen, zeigte einem italienischen Soldaten, der über die Schützengräben blickte: sein Bajonett warf einen Schatten, der auf den Triester Hafen wies. Der Hafen ist eine Beute, die es wert ist, begehrt zu werden.

Die Quais am halbmondförmigen Hafen Triests sind zahlreich genug, die Schiffe einer modernen Armada aufzunehmen. Mit seinen elektrischen Kranen, seinen Bahnhöfen und seinen Lademaschinen allerbester Konstruktion ist Triest einer der bestausgerüsteten Häfen an der Adria. Wir fahren am Wasser entlang und erreichen an dem einen Ende des Halbmonds die 250 000 Einwohner zählende Stadt, die sich vor uns auf sanften Höhen erhebt. Das Sepia, Braun und Gelb ihrer Häuser vor dem weichen italienischen Himmel gibt ein Bild südländischer Harmonie. Die Marktplätze sind voller Orangen, Oliven und frischer Gemüse.

Im düsteren Berlin wird es noch sechzig Tage dauern, bis der Frühling kommt. Eine solche Sonne wie hier in Triest wird sich in Berlin überhaupt nicht zeigen. Die Deutschen lieben die Sonne. Sie geraten in Ekstase, wenn sie den italienischen Himmel sehen. Vor dem Krieg war ihre Hauptklage, daß Deutschland keinen »Platz an der Sonne« habe. Sie meinten es symbolisch. Sie wollten damit sagen, daß Deutschland ein geeintes Volk erst nach 1871 geworden sei, nachdem die anderen Großmächte die Kolonialländer bereits aufgeteilt hatten. Aber die Deutschen denken an die Sonne nicht nur als ein Symbol wirtschaftlicher Vorteile. Sie denken ganz wirklich, gefühlsbetont und sehnsüchtig an sie.

Triest hat jedoch viel mehr als eine sentimentale Anziehungskraft für ein nördliches Volk, dem es an Sonnenlicht mangelt. Triest ist von Bayern halb so weit entfernt wie Bayern von Hamburg. Die Frachtkosten wären via Triest für das ganze südliche Drittel Deutschlands billiger als auf dem Weg über die deutschen Nordseehäfen. Bisher war das Adriatische Meer noch niemals in Reichweite Deutschlands gewesen. Morgen mag Deutschland, das größere Deutschland, ein Deutschland stärker als je zuvor, nur einen kurzen Schritt von Triest entfernt sein.

Das ist, in nuce, eine der Ursachen für »die ganze Aufregung über Österreich«. Jedenfalls ist es eine der Hauptursachen der italienischen Aufregung. Daß Deutschland oder einer seiner Machthaber daran denken könnte, diesen kurzen Schritt zu tun, erscheint, wenigstens soweit man voraussehen kann, unwahrscheinlich. Aber das genügt Italien nicht. Italien macht sich nicht Sorgen über Dinge, die man morgen voraussehen kann, sondern über Dinge, die man übermorgen noch nicht voraussehen kann.

Seine Sorgen sind so groß, daß es sein Elitekorps, ein automobilisiertes Armeekorps, das mit aller Ausrüstung und Bagage fünfzig Kilometer in der Stunde zurücklegen kann, von Verona nach Bozen, in die nächste Nähe der österreichischen Grenze, verlegt hat. Auf den neuen Militärstraßen könnten die 40 000 Mann des Elitekorps in einer Nacht den Brenner überschritten haben.

Genau genommen ist dieses Elitekorps sowohl zum Schutze Triests wie zum Schutze Südtirols in Bozen. Triest hat im Augenblick andere Sorgen. In seinen imposanten Docks liegt heute nur ein halbes Dutzend Schiffe. Im letzten Jahr hatte der Hafen nur einen Umschlag von drei Millionen Tonnen Waren, im Gegensatz zu den sechs Millionen des Jahres 1913. 1932 begingen von je hunderttausend der Bevölkerung vierzig Selbstmord, während die Stadt mit der nächstgroßen Selbstmörderstatistik in Italien, Bologna, nur neunzehn Selbstmorde auf hunderttausend hatte. Denn als Triest italienisch wurde, verlor es das ganze wirtschaftliche Hinterland Österreich-Ungarns, das es zu einem großen Hafen gemacht hatte.

Und doch ist Triest besser daran als sein Schwesterhafen Fiume, der quer über die Halbinsel Istrien eineinhalb Automobilstunden entfernt ist. Die Straße, die die beiden Städte verbindet, ist auch eine jener großartigen neuen Militärstraßen, die die italienische Regierung seit Kriegsende angelegt hat. Von ihren höheren Punkten aus zeigt der Blick auf die jugoslawisch-italienische Grenze, in welchem Maße das Nachkriegsitalien in Begriffen kriegerischer Verteidigung denkt. Die Grenze ist hier von den Gipfeln der Alpen bis zu ihrem Fuß befestigt mit Geschützbettungen, Maschinengewehrnestern, betonierten Maschinengewehrständen und Stacheldrahtverhauen.

In Fiume trennt nur ein winziges Flüßchen Italien von Jugoslawien. Auf der einen Seite liegt Fiume, auf der anderen der jugoslawische Hafen Susak. D'Annunzio eroberte Fiume zum Ruhme Italiens, aber die Docks in seinem Hafen sind heute noch leerer als die in Triest. Leere Magazine stehen öde und verlassen mit zerbrochenen Fensterscheiben da. Die Kaffeehäuser sind ohne Gäste. Die Stille auf den Straßen wird kaum unterbrochen vom Klang der Autohörner.

Gleich auf der anderen Seite des Flusses summt der jugoslawische Hafen Susak von Leben. Sein winziges Hafenbecken ist überfüllt mit Schiffen. Nicht ein leeres Plätzchen ist zu sehen. Stauer schwitzen unter massiven Getreidesäcken, und Gespanne kräftiger, gutgehaltener Pferde schleppen Tonnen von Holz durch die schmalen Gäßchen, die es in diesem Hafen, einem der kleinsten und geschäftigsten der Welt, gibt. Die ganze moderne Maschinerie Fiumes und seine geräumigen Docks ruhen müßig. Susak löscht und verstaut seine Ladungen mit der Hand. Aber Fiume ist heute italienisch, und Susak jugoslawisch. Von Stacheldraht und Maschinengewehren werden die Grenzen bestimmt, nicht von der Wirtschaft.

Gerade vor einem Jahr war die Gefahr eines Krieges zwischen Jugoslawien und Italien groß. Jugoslawische Patrioten hatten Standbilder des Löwen von Venedig in einer Ortschaft an der dalmatinischen Küste zerstört. Italienische Patrioten planten, diese Schmach zu rächen und zu einem Vorwand zu machen, um für Italien jenen Teil Dalmatiens wiederzuholen, der vor Jahrhunderten Venediger Besitz war und den man im Londoner Geheimprotokoll Italien versprochen hatte. Die Ausführung des Planes wurde zu rechter Zeit verhindert, aber bevor es zu neuen Beunruhigungen kommen konnte, gelangte Hitler in Deutschland an die Macht.

Mit seinem Kommen änderte sich das Gesicht des italienisch-jugoslawischen Konflikts. Für den Augenblick wenigstens verloren ihre Streitigkeiten an Bedeutung. Auch hier erwies sich Hitler als Friedensstifter, paradoxer-, vielleicht sogar ironischerweise, aber nichtsdestoweniger als Friedensstifter. Denn Italiens Aufmerksamkeit hat sich heute von der jugoslawischen Grenze abgewandt und dem Brenner zugekehrt, und das Armeekorps, auf das es im Norden Italiens ankommt, ist das Armeekorps in Bozen.

Aber Mussolini ist vor allem ängstlich darauf bedacht, den Frieden zu erhalten. Er wünscht nicht von dem Bozener Armeekorps Gebrauch zu machen. Er hat sich bemüht, das Österreich und das Ungarn von heute durch wirtschaftliche Bande an Italien zu fesseln und seine Widerstandskraft gegen den nationalsozialistischen Druck zu stärken. Heute hat er Österreich das Recht gewährt, auf dem Wege über Triest Baumwolle, Kaffee, Kakao und eine Reihe anderer Waren zu importieren, und zwar nicht bloß zollfrei, sondern mit einer Ermäßigung auf die Umschlagskosten, die den Frachtgebühren von Triest nach Wien gleichkommt. Diese und andere Wirtschaftsmaßnahmen werden versucht werden. Nichtsdestoweniger stellt das italienische Armeekorps noch immer das wichtigste realpolitische Element im österreichischen Problem dar.

Triest, Fiume, ganz Norditalien sind sich stets der Anwesenheit dieses Armeekorps bewußt. Nur wenige Männer in den Staatskanzleien von Berlin, Wien, Paris und London empfinden Europas Sorgen lebhaft genug, um sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was für eine Bedeutung es hat. Wird es vielleicht marschieren? Und wenn es das täte, was dann?

Die Antwort auf diese Fragen kennt nur Rom.


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