Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel.
Stolpce

An der polnisch-russischen Grenze. Helle Flammendolche aus den Mündungen bolschewistischer Gewehre stechen in die Dämmerung. Dunkle Gestalten springen auf, laufen vor, werfen sich wieder zu Boden, und bei jedem Hingekauerten blitzt ein Schuß auf. Die rote Armee geht auf eine polnische Grenzbefestigung vor.

Plötzlich sprengt aus dem niedrigen schwarzen Kieferngehölz drüben auf der linken Seite eine Schwadron polnische Kavallerie hervor. In voller Karriere fegt sie über die Ebene. Säbel blinken im Mondschein, holen aus, hauen zu, und die Schreie von zweihundert erregten Reitern sagen uns, daß der rote Angriff mißlungen ist.

Die Übung ist vorüber. In langsamem Reisetrab begleiten wir die Schwadron zurück zu ihrem Quartier. »Oho!« lacht der polnische Rittmeister. »Die Russen sollen's nur probieren. Wir machen Gulasch aus ihnen!«

Das war vor vier Jahren an der polnisch-russischen Grenze. Bloß eine kleine Unterhaltung für die Truppen, ein Scheingefecht, aber für den ausländischen Beobachter überaus instruktiv im Hinblick auf die gefährlich gespannten Beziehungen, die damals zwischen den beiden großen slawischen Völkern bestanden.

Heute übt in Stolpce, wo ein Regiment polnischer Grenztruppen in großen, würfelförmigen Kasernengebäuden stationiert ist, die Regimentskapelle ein sonderbares neues Musikstück. Es ist die Internationale, das Kampflied der Roten auf der ganzen Welt, und die Nationalhymne der Sowjet-Union.

»Sehen Sie«, sagte der Regimentskommandeur Sygmunt Bezeg, unser Hausherr, »wir müssen auf Höflichkeitsbesuche von Offizieren der Roten Armee vorbereitet sein.«

Das beweist schon, wie sehr die Nazi-Gefahr dazu beigetragen hat, den Frieden an der russisch-polnischen Grenze zu fördern, die früher so gefährliche Zündstoffe barg und heute eine der ruhigsten Grenzen in Europa ist.

Über einen unfreundlichen Streifen Landes fuhren wir die Grenze bei Klosowo entlang. In einer Entfernung von einer halben Meile begann zu beiden Seiten jener riesige nordpolnische Wald, der sich mit wenigen Unterbrechungen durch ganz Rußland zum Polarkreis hinzieht. Geschwärzte Baumstümpfe zeigten sich im Schnee, und Oberleutnant Michal Balinski vom Generalstab erklärte uns, der Boden hier sei von Bäumen gesäubert worden, damit die polnische Armee jeden roten Angriff sofort beobachten könnte.

Das war jedoch vor Hitlers Zeit geschehen.

»Unsere Beziehungen mit der roten Armee«, bemerkte Oberleutnant Balinski, »sind jetzt ganz kavaliermäßig.«

Der Fordwagen des Generalstabs, in dem wir fuhren, holperte und hopste dahin. Er umfuhr in scharfen Kurven Baumstümpfe und überschlug sich nahezu, als wir einem Holzkarren auswichen. In Abständen standen hohe Beobachtungstürme an der Straße. Sie waren unbesetzt.

In Klosowo, dem Kompagnie-Kommando, stiegen wir aus. Es lag neben der Eisenbahnstrecke, die im Rücken von uns nach Warschau, Berlin, Paris, dem ganzen Westen führte, und vor uns nach Minsk, Moskau und dem ganzen Osten. Neben uns stand der Rittmeister von der polnischen Grenzwache. Dort, geradezu vor uns, lag das Kommando der roten Grenzwache, der berühmten GPU-Truppen, die, Elite aller Streitkräfte der Sowjet-Union, zur Bewachung der Grenze abkommandiert sind. Ihr Blockhaus war grün. Darüber flatterte im bitterkalten Wind die rote Fahne. Eine einzige russische Schildwache stand bewegungslos wie ein Stein davor. Über dem Schaffellmantel mit der Kapuze war die lange scharfe Klinge eines Bajonetts zu sehen.

Links und rechts erstreckten sich, soweit das Auge reichte, rostige Stacheldrahtverhaue. Die polnisch-russische Grenze ist 1450 Kilometer lang, und die ganze Strecke entlang laufen, abgesehen von den Stellen, wo natürliche Hindernisse vorhanden sind, diese Verhaue. Sie wurden Jahre, bevor Hitler zur Macht kam, errichtet. Heute wäre es zweifelhaft, ob die polnische Armee sich die Mühe und die Kosten machen würde, eine solche Barriere gegen ihre neuen Freunde zu bauen.

Denn die russisch-polnische Freundschaft ist fest gegründet. Sie wurde geboren aus Rußlands und Polens Furcht vor dem neuen Deutschland. Allerdings unterzeichneten Polen und die Sowjet-Union im Juli 1932 einen Nichtangriffspakt, aber ehe der Schatten des nationalsozialistischen Deutschland nach Osten fiel, bestand zwischen den beiden Mächten kein gegenseitiges Vertrauen.

Hitler kam zur Macht auf Grund eines Programms, das die Vernichtung des Kommunismus vorsah. Augenblicklich war die Grundlage der russisch-deutschen Freundschaft – gegenseitiges Vertrauen – vernichtet. Es kam zu einer Reihe von Konflikten zwischen Moskau und Berlin. Polen und die Sowjet-Union sahen sich das Hitler-Regime an und beschlossen, ihre Streitigkeiten zu begraben.

Wir blickten hinüber zu dem Blockhaus der roten Grenzwache. Der rote Hauptmann stand auf der Veranda und beobachtete uns durch einen Feldstecher.

Ich wandte mich an unseren polnischen Rittmeister, der eine sehr elegante, stattliche und zugleich praktische Uniform trug, und fragte: »Wie dokumentiert sich hier, an der Grenze, Ihre neue Freundschaft mit den Russen?«

Seine roten Wangen, die von dem aus der russischen Polargegend kommenden eisigen Wind ganz erstarrt waren, legten sich in die Falten eines Lächelns. »Ja, die roten Offiziere reichen uns jetzt die Hand. Wir drücken einander die Hände. Früher kam so etwas nicht vor.«

»Und in was für einem Kontakt stehen Sie mit ihnen?«

»Ach, wir haben viele Konferenzen. Über alle möglichen Dinge, die mit der Grenze zu tun haben. Früher pflegten wir zwischen den Stacheldrahtverhauen zusammen zu kommen. Jetzt gehen wir in ihr Quartier hinüber, oder sie kommen zu uns.«

»Und was geschieht, wenn Sie zusammen sind?«

Der Rittmeister lachte. »Dann ist es immer sehr gemütlich. Die Russen fahren Unmengen von Kaviar auf. Wir trinken ganz gehörige Quantitäten Wodka und reißen Witze.«

Heute beunruhigt die Russen lediglich die Möglichkeit, daß die Polen ihren neuen Waffenstillstand mit Hitler allzu ernst nehmen könnten.

Aber die Polen wollen diese russische Befürchtung nicht gelten lassen. »Meinen Sie«, fragte ein polnischer Diplomat, »daß wir dumm genug wären, ein deutsches Heer auf seinem Weg zur Bekämpfung der Russen durch Polen marschieren zu lassen? Was meinen Sie denn, was würde das Heer mit Polen machen, wenn es seinen Rückmarsch antritt? Wenn Deutschland die Ukraine nähme, würde es offenbar auch Polen nehmen. Solche Narren sind wir nicht.«

Im Quartier in Stolpce gingen wir einen langen Korridor entlang. Truppen junger Soldaten standen um Tische herum. An jedem Tisch arbeitete, mit einer Binde vor den Augen, ein Soldat, der ein Maschinengewehr zerlegte und wieder zusammensetzte. Jeder Soldat muß imstande sein, sein Maschinengewehr in finsterster Nacht, einzig und allein geleitet von seinem Tastsinn, auseinanderzunehmen und wieder zusammenzubauen.

An der Wand des Korridors hingen schwarze Tafeln, an denen »Aushangzeitungen« angebracht waren. An erster Stelle stand an diesem Tag ein Leiter: »Wir werden Deutschland so behandeln, wie Deutschland uns behandelt.« Nicht mehr, und auch nicht weniger.

Unterdessen war, am letzten Jahrestag der Sowjet-Revolution, der Chef der polnischen Luftstreitkräfte, General Raysky, auf dem roten Platz in Moskau in voller Uniform erschienen und hatte vor den Augen einer halben Million jubelnder Bolschewisten dem Chef des Sowjet-Generalstabs General Tuchachevsky, dem Mann, der im russisch-polnischen Krieg den roten Angriff auf Warschau geleitet hatte, die Hand gereicht.

»Wir geben jetzt einander die Hand.«

Prophezeien ist gefährlich. Aber im Rahmen dieser Untersuchung der Aussichten auf Krieg oder Frieden in Europa kann man getrost erklären, daß die russisch-polnische Grenze heute keine Konflikt-Stoffe birgt. Diesen Aktivposten hat der Frieden auf seiner Seite.


 << zurück weiter >>