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Viertes Kapitel.
Mailand

Nur jeder 46. Italiener ist arbeitslos. Der Durchschnittsitaliener ißt heute mehr und besser als je zuvor im Verlauf der Geschichte. Die Bettler sind verschwunden. Die Währung ist stabil, und die Öffentlichkeit weiß das. Die Industrietätigkeit stockt, aber man arbeitet verkürzt und erhält der überwiegenden Mehrzahl der Arbeiter die Beschäftigung. Die Landwirtschaft ist infolge einer Rekordernte um 2 Milliarden Reichsmark reicher geworden. Die Stimmung ist ausgezeichnet.

Italien wird wieder hochkommen und dazu gar keinen weiten Weg zurücklegen müssen.

Das ist keine faschistische Hymne. Es ist ein Tatsachenbericht ohne jeden Zusammenhang mit Politik.

Was der Faschismus zur Bekämpfung der Krise getan hat, wodurch die Krise in diesem Lande unter der diktatorischen Regierung sich von der Krise unter demokratischen Regierungen unterscheidet, was sich aus dieser speziellen Art zentralisierter Herrschaft lernen läßt – diese Fragen sind überaus bedeutsam und von Interesse für die ganze Welt. Eine Beantwortung soll für jede von ihnen angestrebt werden. Hier handelt es sich zunächst darum, ein Bild, womöglich eine Photographie, des Italien von heute, seiner wirtschaftlichen Gegenwart und seiner Aussichten zu geben.

Bei der Untersuchung der Erholungsmöglichkeiten für alle Länder ist vor allem ins Auge zu fassen die Verfassung der Bevölkerung, der Währung, der Industrie, der Landwirtschaft, des Außen- und des Innenhandels und ihres Verhältnisses zu einander, ferner das Ausmaß der Arbeitslosigkeit und ihre wahrscheinlichen Begrenzungen, der Zustand der Banken und der Geist der Allgemeinheit. Wenn die Bevölkerung gesund, gut genährt und verhältnismäßig zufrieden, wenn die Arbeitslosigkeit nicht außerordentlich ist und die Beschäftigungslosen genug zum Leben haben, wenn die Währung gesund ist und das Publikum Vertrauen zu ihr hat, wenn die landwirtschaftlichen Erzeugnisse zu einem großen Teil vom Innenmarkt aufgenommen werden können und auch wirklich aufgenommen werden, wenn die Banken liquid und bereit sind, die Industrie auch bei verkürzter Arbeitszeit in Gang zu erhalten, damit der Beschäftigungsgrad erhalten bleibe: dann hat man keinen Grund anzunehmen, daß das betreffende Land sich nicht erholen könne. Kommt zu diesen Faktoren noch vollkommene politische Stabilität, so ist die Voraussage berechtigt, daß das in Frage stehende Land sich mit Sicherheit erholen wird.

Italien erfüllt alle diese Bedingungen.

Erste Eindrücke sind nicht entscheidend. Aber sie sind wichtig genug, um wiedergegeben zu werden. Die ersten Eindrücke von Italien sind so, daß man, wenn man sich aussuchen dürfte, in welchem Lande man während einer Wirtschaftskrise leben möchte, Italien wählen würde. Die Nationalökonomen haben bis jetzt noch keinen Index ausgearbeitet, an Hand dessen sich die Auswirkung der Temperatur auf die Lebenshaltungskosten eines Volkes berechnen ließe. Bei roher Schätzung erscheint es jedoch wahrscheinlich, daß ein Italiener, um auf demselben Standard zu leben wie ein Deutscher, niemals mehr als 75 Prozent dessen zu produzieren braucht, was der Deutsche produzieren muß. Der Italiener braucht halb so viel für seine Bekleidung, ein Zehntel der Heizmaterialien, und um zu einem Sonnenbad zu kommen, braucht er niemals einen Pfennig Fahrgeld auszugeben.

Das Wohnen ist billig, das Essen billiger, der Wein am billigsten. Amerikaner, die unter verringerten Einkünften leiden und deshalb deprimiert sind, dürfte ein gewisses Städtchen am Golf von Sorrent interessieren, viele hundert Kilometer von hier entfernt, aber höchst lehrreich hinsichtlich grundlegender Daten für die Beurteilung Italiens in der Krise.

Das fragliche Städtchen klettert an einer Klippe empor, die den unwahrscheinlich blauen Golf überblickt. Die Straßen sind Treppen. Die Häuser blicken im Durchschnitt auf ein Alter von 900 Jahren zurück. Sie sind von Sarazenen erbaut. Ihre Mauern haben eine Dicke von mehr als einem halben Meter, und die Dächer tragen Kuppeln. 700 Häuser sind zu vermieten.

Ein amerikanisches Paar mietete ein Haus. Es wurde ganz überholt, renoviert, modernisiert, Sprünge wurden verputzt und das Ganze neu getüncht. Es funkelte und blitzte wie das Wohnhaus eines kalifornischen Millionärs.

Sieben Zimmer waren da, von denen vier den Blick auf den Golf hatten. In dem terrassierten Garten wuchsen Öl- und Zitronenbäume und Bäume mit roten Granatäpfeln, dickblättrige grüne Kakteengewächse und südliche Blumen. Von ihrer Veranda konnten sie viele Kilometer der Küste übersehen und auf das grenzenlose, in der Sonne glastende Meer hinausblicken. 100 Meter unterhalb des Hauses hatten sie einen Privatstrand aus runden weißen Kieselsteinen, der sanft in das Wasser absank, das durchsichtig war wie die Luft.

Dafür zahlten sie 200 Mark … Aber 200 Mark im Jahr. Und ihre italienischen Freunde schimpften noch darüber, daß sie von einem skrupellosen Makler ausgeplündert worden seien.

Frisches Gemüse, Obst, Fleisch, Eier, Butter, Käse, Milch, Dienstboten, Licht, alles zusammen, was sie, die wie extravagante Ausländer lebten, sich nur kaufen konnten, kostete zusammen niemals ganze 200 Mark im Monat. Gäste bei sich zu sehen, spielte die geringste Rolle. Ein Liter Capri- oder Ischiawein war für 20 Pfennig zu haben.

Das ist Italien. Ausnahme? Nur insofern, als der fragliche Ort noch nicht von den Reisenden entdeckt worden ist; er ist eine der ältesten italienischen Städte und wurde dadurch entvölkert, daß ein großer Teil seiner Bewohner auswanderte. Aber das Preisniveau ist keine Ausnahme. Ein Italiener kann behaglich von einem Einkommen leben, mit dem seine Nachbaren im Norden verhungern würden.

Italiens Ausfallspforte nach dem Norden bietet dem Besucher, der der Depression auf den Spuren ist, lehrreiche Aufklärungen. Der mit einem Kostenaufwand von 212 Millionen Reichsmark erbaute Personenbahnhof fordert zu einem Vergleich mit New Yorks Grand Central auf. Der Mailänder Bahnhof ist womöglich noch größer, und schöner ist er ganz gewiß. Seine milchweiße Marmorfront schneidet wuchtig in den Horizont ein, und seine zurückhaltende Profilierung tut der baulichen Tradition des edlen Mailänder Doms keine Gewalt an. Er wurde, obwohl Nationalökonomen behaupten, daß Italien sich seit 1927 in einem Zustand der Depression befinde, vor einem Jahre der Öffentlichkeit übergeben. Und der einzige Einwand, den die Mailänder dagegen erhoben, besagte, es sei eine Torheit, so viel Geld für eine Eisenbahnstation auszugeben, wenn 20 Jahre später die Reisenden doch auf dem Luftweg ankommen würden.

Die Mailänder sind die Chicagoer Italiens. Ihre Stadt ist die Industriehauptstadt. Die Industrie ist schwer von der Krise getroffen. Mailand verrät nichts davon nach außen.

Ich sah mich nach Bettlern um. In Berlin überfüllen sie die Straßen, in Wien sieht man sie oft, in Budapest sind sie eine Plage, in Prag gibt es etliche. Paris kennt sie nur allzu gut, und der Londoner Strand ist zur Nachtzeit von schlafenden Gestalten überfüllt. In ganz Mailand fand ich nach kilometerlangen Spaziergängen einen einzigen Bettler.

Es war ein alter, lächelnder Mensch mit struppigem Bart, der eine zerfetzte Mütze in der Hand hatte und ein durchaus professionelles Gebaren zur Schau trug. Er stand außerhalb der alten gemauerten Festung. Zwei Carabinieri, groß, schlank, arrogant mit ihren Dreispitzen und Cutaway-Röcken, Mitglieder der Elitepolizei Italiens, kehrten dem Verbrecher den Rücken zu.

Sie hätten ihn »retten« sollen. Man sagte mir, daß man Bettlern gegenüber so verfahre. Sie werden nicht arretiert. Sie werden lediglich »gerettet«. Der Mailänder Bettler war anscheinend unrettbar, oder er wird als Erinnerung an eine ausgerottete Spezies erhalten.

Es ist sehr wohl möglich, daß diese Art der »Rettung« die Ursache dafür ist, daß Italien frei von Bettlern ist. Aber man nehme einmal an, die Polizei Deutschlands bekäme den Befehl, alle arbeitslosen Männer und Frauen, die mit ausgestreckten Händen die Straßen durchwandern, zu »retten«. Alle Gefängnisse Deutschlands zusammen hätten nicht Platz genug, sie aufzunehmen.

Daß die Straßen Italiens von Bettlern frei sind, kann künstliche Ursachen haben. Auf jeden Fall spricht dieser Umstand recht deutlich dafür, daß die außerordentlich niedrigen Arbeitslosenziffern für dieses Land stimmen dürften. Das offizielle statistische Büro berechnet 900 000 Arbeitslose, und in dieser Zahl sind nach seiner Erklärung sowohl die Beschäftigungslosen der Industrie wie die der Landwirtschaft enthalten. Diese Arbeitslosenanzahl bezieht sich auf eine Bevölkerung von 42 144 000, so daß Italien in diesem Augenblick, da die Arbeitslosigkeit weiter um sich gegriffen hat als jemals innerhalb dieses Jahrhunderts, als eines der bestsituierten Länder der Welt erscheint.

Diese Zahl bedeutet, daß in Italien auf 1000 Arbeitsfähige – wenn ein Drittel der Bevölkerung als verdienstfähig gerechnet wird – 64 Arbeitslose kommen, im Vergleich zu 275 auf 1000 in Deutschland, 186 in England, 140 in Österreich, 120 in der Tschechoslowakei, 110 in Japan, 70 in Spanien; von allen größeren Mächten Europas weist einzig und allein Frankreich eine Zahl auf, die annähernd so niedrig liegt wie die Italiens.

Wenn man die Zahl von 8 300 000 als annähernd richtig für die amerikanische Arbeitslosigkeit gelten lassen kann, würde das bedeuten, daß in den Vereinigten Staaten auf 1000 Arbeitsfähige 207 Beschäftigungslose kommen, und die italienische Zahl zeigt, daß dieses Land verhältnismäßig ungefähr ein Drittel der amerikanischen Arbeitslosigkeit hat.

Man hat sich gegenüber der Genauigkeit der italienischen Arbeitslosenstatistik skeptisch verhalten. Die Regierung, so wird einem gesagt, möchte guten Eindruck machen. Eine Äußerung wies speziell darauf hin, daß in der Zahl von 900 000 lediglich die beschäftigungslosen Mitglieder der Arbeiterkorporationen enthalten seien.

Die außerordentliche Wichtigkeit der Arbeitslosenstatistik zur Beurteilung der wirtschaftlichen Lage des Landes machte es zu einer Notwendigkeit, eine Überprüfung ihrer Genauigkeit bis an die Grenzen der Möglichkeit anzustreben. Ein Befragen nicht nur der offiziellen Quellen, sondern auch einer Reihe desinteressierter neutraler Beobachter mit langjähriger Erfahrung brachte nichts zutage, was darauf hinweisen könnte, daß die Zahlen nicht authentisch wären, soweit die Möglichkeiten der statistischen Büros zur Erfassung der Tatsachen ausreichen. Das Büro räumt ein, daß es lediglich hinsichtlich der Anzahl der durch die Arbeitslosenversicherung unterstützten Beschäftigungslosen sicher sein könne. Die Menge der anderen kann einigermaßen gut abgeschätzt werden.

Die Marxisten lehren, und man glaubt auch ziemlich allgemein, daß der Faschismus eine Methode zur Unterdrückung der Arbeiterklassen sei, sie aller ihrer Rechte beraube und ihr das letzte Quentchen Kraft ausquetsche. Was tut er für die Arbeitslosen?

Für diejenigen, die sich mit einem Studium der Arbeitslosenhilfe befassen, mag das italienische System der obligatorischen, sich aus eigenen Mitteln erhaltenden Arbeitslosenversicherung von Interesse sein.

Unter diesem System gehen siebeneinhalb Prozent des Arbeitslohnes an den Versicherungsfonds, aber nur zweieinhalb Prozent werden von dem versicherten Arbeiter bezahlt, fünf Prozent vom Arbeitgeber. Die Unternehmer führen bittere, aber nicht so laute Klage wie in Deutschland, wo das Regime versprochen hat, »die Fehler der marxistischen Mißherrschaft auszumerzen«, und damit noch etwas mehr meint als die von den Sozialdemokraten herbeigeführten sozialen Leistungen.

Die Versicherung sieht Hilfe vor für Beschäftigungslosigkeit, Krankheit, Alter, Tuberkulose und Unfälle. Sie bezahlt durchschnittlich 3-4 Lire, das heißt 60-80 Pfennig oder 15-20 Cent am Tag. Bei einer Beurteilung dieser Summe muß man vom italienischen Preisniveau und den italienischen Lebensbedingungen ausgehen. Für den italienischen Arbeiter ist das etwa so viel wie 45-60 Cent, 1 Mark 80 bis 2 Mark 40, für den Tag in Amerika.

Ein Vergleich zwischen den Gesamtsummen, die dieses System in Italien in sich begreift, und dem, was dieselben Summen für Amerika bedeuten würden, ist nicht ohne Interesse. Besonders wichtig ist es zu beachten, daß das System, während guter Jahre Prämien einzuziehen, dem Fonds solche Reserven brachte, daß er auch durch die Krisenjahre der Arbeitslosigkeit noch nicht erschöpft worden ist. Von 1920 bis 1930 wurden insgesamt 250 Millionen Dollar oder 1000 Millionen Reichsmark an Unterstützungen ausgezahlt, aber die Eingänge aus Prämien und Fondseinnahmen waren so groß, daß der Reservefonds am Ende des Jahres 1930 sich auf rund 450 Millionen Dollar oder 1 Milliarde 800 Millionen Reichsmark belief.

Man kann schätzungsweise annehmen, daß im Jahre 1932 bei einer Maximalarbeitslosigkeit von 1 Million die Gesamtsumme der für das Jahr eingezahlten Prämien rund 20 Millionen Dollar oder 80 Millionen Reichsmark und die Gesamtauszahlungen rund 40 Millionen Dollar oder 160 Millionen Reichsmark betragen werden. Selbst wenn die Diskrepanz zwischen Einkünften und Ausgaben erhalten bleibt, müßte der Reservefonds noch für etliche Jahre imstande sein, die Differenz aufzubringen. Auf das italienische Nationaleinkommen bezogen, das von einem römischen Nationalökonomen auf rund 16 Milliarden Reichsmark geschätzt wird, belaufen sich die Unterstützungen auf 1 Prozent.

Wenn die Anzahl der amerikanischen Arbeitslosen für die Zwecke einer Berechnung mit rund 9 Millionen angenommen wird, so müßte für den Fall, daß die italienische Arbeitslosigkeit verhältnismäßig ebenso hoch wäre, der auf das Nationaleinkommen bezogene Prozentsatz der tatsächlichen italienischen Unterstützungen mit drei multipliziert werden, so daß sich ungefähr 3 Prozent des Nationaleinkommens ergäben. Auf das amerikanische Nationaleinkommen bezogen, das für 1932 auf 60 Milliarden Dollar oder 240 Milliarden Reichsmark geschätzt wird, würde das bedeuten, daß die amerikanischen Arbeitslosen, wenn die Vereinigten Staaten das italienische System der Arbeitslosenversicherung hätten, heute zusammen jährlich 1 Milliarde 800 Millionen Dollar oder 7 Milliarden 200 Millionen Reichsmark beziehen würden, der einzelne also 200 Dollar oder 800 Reichsmark im Jahr bekäme. Das sind rohe Berechnungen. Eigentlich müßte ihnen zugrunde gelegt werden das Verhältnis der Unterstützungen zur Gesamtsumme der Löhne, aber Italien besitzt keine Schätzungen für seine Gesamtlohnsumme. Auf jeden Fall gibt die Berechnung eine ganz gute Vorstellung davon, was das System der Arbeitslosenhilfe dieses Landes bedeutete, wenn es auf die bedeutend reicheren Vereinigten Staaten übertragen würde.

Man muß jedoch bedenken, daß im italienischen System die Auszahlung der Unterstützungen für diejenigen, die, bevor sie arbeitslos geworden sind, mindestens 48 Wochen hindurch Beiträge bezahlt haben, auf 90 Tage, und für diejenigen, die 72 Wochen hindurch Beiträge bezahlt haben, auf 120 Tage beschränkt ist. In praxi bedeutet das, daß nur ungefähr ein Viertel der italienischen Arbeitslosen Unterstützungen bezieht. Die anderen, deren Anzahl sich jetzt auf rund 700 000 beläuft, haben entweder ihr Recht auf Unterstützungen erschöpft, oder haben ihre Beiträge nicht voll bezahlt. Für Krisen und verlängerte Perioden der Arbeitslosigkeit ist nicht vorgesorgt. Was wird aus diesen 700 000?

Hier in Mailand kamen wir am Kriegerdenkmal vorüber. Auf der anderen Straßenseite lag die Kantine einer Kaserne. In einem Park in der Nähe saßen einige Dutzend zerlumpter älterer Männer, die alle vergnügt aus Zinngefäßen aßen. Aus der Kantinentür kam der Duft von Spaghetti alla Bolognese. Die Armee hatte das ihre für einige von den 700 000 getan.

Das Heer wird jedoch in der Liste der Wohlfahrtsunternehmen nicht einmal erwähnt. An erster Stelle kommt die Faschistische Partei. Sie gibt Brotkarten, Fleischkarten und Kleidungsstücke aus. Die Syndikate, die Gewerkschaften, kommen an nächster Stelle mit ihrer Hilfe für ihre Mitglieder. Die Kirche hilft ihrer Herde. Die Gemeinden helfen. Zum größten Teil aber helfen sich die Arbeitslosen ohne Unterstützung selbst.

Italien ist landnahe. Fast jeder Italiener, ob er nun Arbeiter in der Stadt ist oder nicht, hat Verwandte auf einem Bauerngut. Der Familiensinn der Italiener ist sehr stark. Sie teilen das letzte Stückchen Vermicelli miteinander. Italiens Arbeitslose leben heute zum größten Teil auf dem Land. Sechsundvierzig Menschen macht es nicht viel Schwierigkeit, einen mit durchzufüttern.

Für den reisenden Wirtschaftsbeobachter ist jedes neue Land ein riesiger Wald, den er vor lauter Bäumen kaum sehen kann. Und in einer Wirtschaftskrise ist die Versuchung groß, nur die abgestorbenen Bäume zu beobachten. Ihre braunen Spitzen stecken aus dem grünen Laubwerk heraus, und es ist um sehr viel leichter, sie zu zählen. Für ein Urteil über den Wert des Waldes ist es jedoch von viel größerer Bedeutung, den Zustand der lebenden Bäume zu untersuchen. Die lebenden Bäume sind hier 42 Millionen Menschen, und wie sie während einer Depression existieren, die für Italien mit der im Gefolge der 1927 erfolgten Lirastabilisierung auftretenden Deflation einsetzte, mit anderen Worten, wie sie nach vier Jahren unternormaler Wirtschaftstätigkeit existieren, das ist nicht nur von Bedeutung für dieses Land selbst, sondern wirft auch Licht auf die allgemeine Frage, auf welchem Standard die breiten Massen in Europa in schweren Zeiten leben.

»Europa steht am Rande eines Abgrunds!« »Europa ist dicht vor dem Zusammenbruch!« – das sind heute die häufigsten Schlagzeilen. Defaitistische Publizisten bemühen sich zu beweisen, daß der Lebensstandard auf ein unerträglich niedriges Maß absinke. Selbst wenn es ganz klar ist, daß von Verhungern keine Rede sein kann und daß die Massen der Bevölkerung tatsächlich genau so viel essen wie früher, wird mit Vorliebe das Argument ins Treffen geführt, sie gehe von höher- zu niedrigerwertigen Nahrungsmitteln über.

Italien widerlegt diese Argumente am besten. Die Verbrauchsstatistik dieses Landes zeigt, daß die Bevölkerung während der Wirtschaftskrise nicht nur mehr zu essen hatte als je zuvor, sondern sich überdies von besseren Lebensmitteln nährt als je zuvor, daß sie in der Tat auf der Leiter der Weltverpflegung eine Sprosse höher gestiegen ist. Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind verbraucht heute in Italien durchschnittlich um 2 Prozent mehr und um 10 Prozent bessere Nahrungsmittel als vor dem Krieg.

Das statistische Zentralbüro hat eine außerordentlich belehrende Tabelle vorbereitet, die die Nahrungsmittelverteilung pro Kopf für die Jahre 1910–1914 im Vergleich zu den Jahren 1926–1930 zeigt. Nach den Angaben dieser Tabelle hat jeder einzelne Italiener zwischen 1910 und 1914 jährlich 493,67 Kilogramm oder rund 987 Pfund, und zwischen 1926 und 1930 jährlich 503,86 Kilogramm oder rund 1007 Pfund Lebensmittel konsumiert.

Das bedeutet einen Verbrauchsindex von 102 für die Jahre 1926–1930 im Vergleich zu 100 von 1910–1914, aber die Gewichtsdifferenz ist von nur geringer Bedeutung. In der letzten Periode gingen die Italiener von Maismehl, Reis, getrockneten Bohnen, Salzfleisch und anderen billigen, minderwertigen Nahrungsmitteln zu frischem Fleisch, Fisch, Eiern, Butter über. Sie essen mehr Rind-, Hammel- und Schweinefleisch, mehr Weizenmehl, Zucker, frische Fische, Eier, Butter und Käse als je zuvor. Sie konsumierten in den Jahren 1910–1914 durchschnittlich 23 Kilogramm oder 46 Pfund, und 1926–1930 durchschnittlich 33 Kilogramm Fleisch oder 66 Pfund pro Kopf. Eine allgemeine durchschnittliche Vermehrung um 20 Pfund Fleisch jährlich pro Kopf der Gesamtbevölkerung ist eine Indexziffer, die von der allergrößten Bedeutung für den Zustand der Bevölkerung ist. Im ganzen stieg der Kalorienwert der Ernährung von 983 887 Kalorien pro Kopf in den Jahren 1910–1914 auf 1 064 913 in den Jahren 1926–1930.

Beobachter, denen die Kompetenz nicht abzusprechen ist, lassen sich nicht nehmen, daß der Standard des Lebensmittelkonsums heute nicht niedriger sei als in den Jahren 1926 bis 1930, oder wenn doch, so nur um die winzige Differenz, die auf die gesteigerte, aber noch keinesweg übermäßige Arbeitslosigkeit zurückzuführen ist. Da die Periode unmittelbar vor dem Krieg zugegebenermaßen eine Periode war, in der der Lebensstandard eine vorher noch nicht dagewesene Höhe erreicht hatte, ist die Schlußfolgerung gestattet, daß die Dekade 1922–1932 durch einen höheren Standard des Lebensmittelverbrauchs charakterisiert ist als alle früheren Dekaden im Verlauf der Geschichte.

In Mailand wird es einem leicht zu glauben, daß die Italiener so viel essen, wie man nur essen kann, ohne unter Verdauungsstörungen zu leiden. In den vom Dom ausgehenden hohen, nur nach einer Seite offenen Arkaden liegen zahlreiche Restaurants und Cafés, die mittags, zur Teezeit und abends von Tausenden schwatzender, scherzender, unablässig essender Gäste besucht sind. In diesen Arkaden, in denen man so viel frische Luft hat wie im Freien, aber bei jeder Witterung geschützt ist, konzentriert sich das gesellschaftliche Leben Mailands, und am späteren Nachmittag ist es fast unmöglich, sich einen Weg durch die Mengen zu bahnen, die hier zusammenkommen, um umherzuschlendern und herumzustehen, Zeitungen zu lesen und mit geradezu bestürzend wilden Gesten zu sprechen.

Die Gesten hätten vielleicht nicht nur bestürzend gewirkt, sondern auch wirklich Bestürzung hervorgerufen, hätten die Mailänder vor kurzem geahnt, was sich in den großen Räumen der Banca Commerciale Italiana abspielte, deren zwei imposante Gebäude einander auf dem von der Scala abgeschlossenen Platz gegenüberstehen. Die Banca Commerciale, Italiens größte Bank, die das Finanzleben des Landes beherrscht, war bis vor kurzem auch Herrin über Italiens Industrie. Heute ist der italienische Staat der Herr der Industrie Italiens. Wie diese Wandlung zustande kam, und welch dramatische Umstände zu einer wirtschaftlichen Umorganisierung führten, von der sich noch erweisen kann, daß sie die wichtigste ist, die dieses Land seit der Begründung des Faschismus durchgemacht hat – das verdient die Aufmerksamkeit eines jeden, der sich mit dem Studium Europas in der Krise befaßt.

*

Italien hat seine Krise hinter sich. Die Depression mag noch eine Zeitlang anhalten, aber der kritische Punkt ist überwunden worden, und zwar in einer Weise, die nicht nur eine neue Ära in der Volkswirtschaft Italiens einleiten, sondern möglicherweise einen Präzedenzfall von historischer Bedeutung schaffen kann.

Es war eine schwere Krise. Die Gefahr, die Italien drohte, war zumindest nicht geringer als die, in der alle anderen Länder seit Beginn der Weltdepression schweben.

Bei der Überwindung dieser Krise formte Italien sich alle Instrumente zur Schaffung eines Typus von staatlich kontrolliertem Kapitalismus, von Planwirtschaft, der vielleicht nur dem der Sowjetunion vergleichbar ist, sich von diesem aber sehr wesentlich dadurch unterscheidet, daß in ihm das Prinzip der privaten Initiative, des Privatgewinnes, erhalten bleiben kann. Bis jetzt ist die Entwicklung in dieser Richtung im großen ganzen unbewußt vor sich gegangen. Früher oder später muß die Entwicklung wohl mit Gewißheit bis zu ihrem konsequenten Ende weitergehen, und sobald einmal in Italien die staatliche Kontrolle aller Wirtschaftsvorgänge unter bewußter Leitung vor sich geht, wird die Welt vielleicht ein Experiment der nationalen Planung vor sich haben, das ebenso interessant ist wie das von der Sowjetunion unternommene.

Der Ursprung der Krise war ein Kapitel der Diktatur. Ihre Lösung war die gewaltigste Finanzoperation, die jemals in Italien durchgeführt worden ist. Ihr Erfolg bedeutet heute, daß Italien den Gefahrenpunkt hinter sich hat. Ihre Zukunft kann ein Kapitel in der Weltgeschichte bedeuten.

Eines Abends im vergangenen November saß Mussolini in seinem Büro. Bei ihm war ein Besucher, Giuseppe Toeplitz, dem Mann auf der Straße vielleicht nicht bekannt, um so besser aber den Bankiers der internationalen Finanzwelt, und in Italien berühmt als der Mann, der, seitdem Mussolini zum »Führer«, zum Duce geworden ist, nahezu so weit kam, der Wirtschaftsboss einer ganzen Nation zu werden. Signor Toeplitz hätte in der Tat die Bezeichnung Wirtschafts-Duce verdient.

Duce Toeplitz kontrollierte als geschäftsführender Direktor der Banca Commerciale, Italiens Zweimilliarden-Bank, nicht nur den größten Effektenbesitz unter allen Finanzinstituten des Landes, sondern hatte auch in den letzten Jahren allmählich die Kontrolle über den größten Anteil an der italienischen Industrie erlangt, der jemals in einer einzigen Hand vereinigt war.

Seine Bank besaß Aktien und verschiedene Industrieobligationen, die einem Pariwert von rund 5 Milliarden Lire, 1 Milliarde Reichsmark repräsentierten. Das gesamte Aktienkapital sämtlicher Gesellschaften in Italien wird auf 10 Milliarden Reichsmark geschätzt. Die Banca Commerciale hatte also in ihrem Portefeuille etwa ein Zehntel aller Aktien Italiens und übte vermittels dieses Besitztitels eine effektive Kontrolle über etwa ein Drittel der Industrie des Landes aus.

In den Büchern der Banca Commerciale wurde dieses gewaltige Portefeuille von Industriepapieren noch immer annähernd zu dem Werte geführt, den es zur Zeit seiner Erwerbung durch die Bank hatte, nämlich zu ungefähr 4 Milliarden Lire oder 800 Millionen Reichsmark. Die Industriepapiere in Italien waren aber auf die Hälfte ihrer 1929er Kurse gefallen. Die Spanne zwischen Buchwert und Effektivwert wurde mit jedem Tag größer.

In dieser unglückseligen Situation wurde die Bank plötzlich dazu aufgefordert, 200 Millionen Schweizer Franken, gegen 160 Millionen Reichsmark, zurückzuzahlen, die auf 6 Monate bei ihr angelegt worden waren. 60 Millionen Reichsmark waren alles, was die Bank aus eigenen Mitteln zusammenkratzen konnte. Sie war gezwungen, die Regierung um 100 Millionen Mark zu ersuchen. Die Öffentlichkeit wußte nichts von dieser Transaktion. Aber was wäre gewesen, wenn sie dahinter gekommen wäre?

Die Banca Commerciale war de facto insolvent, wenn nicht bankrott, und wenn nicht insolvent, so doch jedenfalls illiquid. Wie immer man es auch bezeichnen mag, ihre Direktoren kannten ihre prekäre Lage gut genug, um besorgte Blicke auf die Mengen zu werfen, die sich vor den Toren der Scala ansammelten, und bei dem Gedanken zu erzittern, daß diese Opernbesucher nur die Straße zu überqueren brauchten, um aus ihrer Ansammlung einen Bankrun zu machen.

Ganz Italien hätte mit den Direktoren zittern können, wäre dem Land bewußt gewesen, was ihm drohte. Ein Run auf die Banca Commerciale hätte Runs im ganzen Lande bedeutet. Der Krach der Banca Commerciale hätte den Krach im ganzen Lande bedeutet.

Es war keine Zeit zu verlieren. Jetzt oder etwas später, Zensur oder nicht Zensur, die Nachricht konnte sich verbreiten. Daher der Besuch des Signor Toeplitz bei Mussolini.

Der Volks-Duce sah dem Wirtschafts-Duce ins Gesicht. Niemand außer den beiden Führern kennt genau den Inhalt ihrer Unterredung. Glaubwürdig ist ein Dialog, der sich etwa folgendermaßen abgespielt haben mag:

Mussolini: »Sie, Signor Toeplitz, sind am Ende Ihrer Kräfte. Ich beobachte Sie seit Jahren. Ich habe beobachtet, wie Sie Ihre Hand ausstreckten und erst auf diesen Konzern und dann auf jenen legten. Ich habe beobachtet, wie Sie in eine Industrie eindrangen, die Kontrolle über sie erlangten, sich einer anderen Industrie zuwandten, die Kontrolle erlangten, dann einer anderen und wieder einer anderen, bis Sie glaubten, Ihre Machtmöglichkeiten seien unbegrenzt. Jetzt sind Sie am Ende. Sie wissen, daß Sie am Ende sind, und wenn Sie nicht tun, was ich Ihnen sage, wird das ein unglückseliges Ende sein.«

Toeplitz: »Ich verfolge seit Jahren Ihre Direktiven und unterstütze seit Jahren Ihr Regime. Seitdem Sie zur Macht gelangt sind, hat die Banca Commerciale alles, was in ihren Kräften stand, getan, um der italienischen Industrie zu helfen. Wir haben Industrieaktien aufgenommen. Wir haben Fabriken finanziert. Wir haben sie in Betrieb erhalten, als sie ihre Tore hätten schließen können. Es ist richtig, daß wir am Ende unserer Kräfte sind. Ich werde tun, was Sie sagen.«

Zu Beginn der Unterredung waren zwei Duci da. Bei ihrem Ende nur noch einer.

Etwas später erklärte Senator Teodoro Mayer, das Haupt des neugegründeten Instituts, das die Krise der Banca Commerciale löste, in einer öffentlichen Rede: »Italien bedarf nicht gewisser komplizierter Finanzwolkenkratzer, auf deren Spitzen Männer stehen, die, überwältigt von ihrer eigenen Höhe, schwindlig werden und in die Tiefe stürzen.«

Noch etwas später veröffentlichte die Banca Commerciale ihren Jahresbericht, an dessen Spitze die Worte standen: »Das hervorragendste Ereignis des vergangenen Jahres war die Finanztransaktion, über die Sie bereits teilweise unterrichtet sind. Sie bestand in dem ohne jeden Verlust für uns getätigten Verkauf unseres ganzen Aktienportefeuilles, das gegen einen Gesamtbetrag von 4000 Millionen Lire in den Besitz der Società Finanziaria Industriale Italiana überging …« Im weiteren Verlauf des Berichtes, nachdem über die Notwendigkeit gesprochen worden ist, ein dauerhafteres Instrument zur Durchführung dieser Transaktion zu schaffen, schreibt die Banca Commerciale: »Ein solches Instrument wurde von dem Chef der italienischen Regierung mit der ihm eigenen glücklichen Intuition im richtigen Augenblick und in angemessener Form in dem Istituto Mobiliare Italiano geschaffen.«

Hinter diesen beiden Sätzen verbarg sich eine Transaktion, die in ihren Einzelheiten kompliziert, in ihrer Bedeutung jedoch einfach war und von größter Bedeutung für die Gegenwart und die Zukunft ist. Höchst einfach ausgedrückt, bedeutete sie, daß die italienische Regierung der Banca Commerciale den Buchwert ihres gewaltigen Industrie-Portefeuilles bezahlt und sie wieder liquid und zu einer der gesündesten Banken vielleicht der ganzen Welt gemacht hatte, was sie auch heute noch ist. Darüber hinaus bedeutete sie jedoch noch, daß die italienische Regierung, die es sich ununterbrochen und unablässig zur Aufgabe machte, die Rechte der privaten Initiative zu schützen, nunmehr, ob sie wollte oder nicht wollte, in den Besitz eines Zehntels, und zur potentiellen Kontrolle über ein Drittel der gesamten italienischen Industrie gelangt war.

Die Società Finanziaria Industriale Italiana, »Sofindit« genannt, welche die Aktien für die Regierung übernahm, war ein kleines Finanzinstrument, mit welchem dem Notzustand für den Augenblick abgeholfen wurde. Das Instrument, das nachher zur dauernden Übernahme der Aktien geschaffen wurde, ist das Istituto Mobiliare Italiano, das italienische Aktieninstitut, und in seiner Organisation und seinen Zwecken liegt der Schlüssel zu Italiens wirtschaftlicher Zukunft. Es unterscheidet sich fundamental von der Reconstruction Finance Corporation.

Während die R. F. C. ein Hilfsinstitut zur Gewährung von Darlehen ist, das direkt durch budgetäre Ausgaben finanziert wird und nach der Depression liquidiert werden soll, soll das italienische Aktieninstitut sich selbst finanzieren und als permanente Einrichtung bestehen bleiben. Am wichtigsten ist jedoch folgendes: das italienische Aktieninstitut, das mit einer effektiven Kontrolle über ein Drittel der italienischen Industrie begann, ist theoretisch in der Lage, zur Eigentümerin der gesamten italienischen Industrie zu werden, und durch sein System, eigene Aktien auszugeben, welche das Publikum kaufen kann, könnte das italienische Aktieninstitut mit Leichtigkeit zum Finanzinstrument für eine Umwandlung des italienischen Wirtschaftssystemes in ein System des staatlich kontrollierten Kapitalismus werden, in dem jedoch das Prinzip der Privatgewinne erhalten bliebe.

Das wäre etwas völlig Neues auf dem Gebiete volkswirtschaftlicher Organisation. Es gestattet, fordert sogar Planwirtschaft in irgendeiner Form.

Schritt um Schritt spielte sich der Prozeß folgendermaßen ab: Die Banca Commerciale Italiana übergab der Sofindit ihre 800 Millionen Reichsmark Industrieakten. Die Sofindit übergab der Banca Commerciale 200 Millionen Reichsmark in bar und für die übrigbleibenden 600 Millionen Reichsmark Schuldverschreibungen. Die baren 200 Millionen Reichsmark kamen von der Bank von Italien, das heißt also aus dem Schatz und im letzten Grunde natürlich aus Steuern.

Das italienische Aktieninstitut, das zur Übernahme der Aktien von der Sofindit gebildet wurde, wurde mit einem Kapital von 110 Millionen Reichsmark ausgerüstet. Seine Zwecke wurden folgendermaßen definiert: »Italienischen Unternehmen gegen Hypotheken, Aktien oder andere Sicherheiten Darlehen zu geben und Investitionen in Aktien italienischer Privatgesellschaften vorzunehmen.« Es kann eigene Papiere folgender drei Arten ausgeben: a) Aktien, welche Besitztitel an Sicherheiten bestimmter Industriegruppen darstellen und infolgedessen Dividenden nur insoweit erhalten, als die in ihnen repräsentierten Gesellschaften sie einbringen; b) zinstragende Papiere, welche Besitztitel an bestimmten vom Institut innegehabten Sicherheiten darstellen und infolgedessen zur Verteilung bringen, was diese Sicherheiten abwerfen; und c) vom Staat garantierte zinstragende Papiere. Der Nominalwert der unter b) und c) aufgeführten, vom Institut emittierten Obligationen darf das Zehnfache des Gründungskapitals, das heißt ungefähr 1 Milliarde 100 Millionen Reichsmark, nicht überschreiten, für die Ausgabe von Aktien ist jedoch keine Grenze nominiert.

Alle diese Wertpapiere werden an das Publikum verkauft werden. Sie können von Banken, Treuhandfonds, Versicherungsgesellschaften und Wohltätigkeitsinstituten aller Arten gesetzlich als Anlagepapiere verwendet werden. Mit anderen Worten, sie sind de jure mündelsicher.

Die Gewinste bei Ablauf des fiskalischen Jahres werden folgendermaßen aufgeteilt: 20 Prozent gehen zur Reserve, wonach 5 Prozent des subskribierten Betrages an die Subskribenten des Ursprungkapitales geleitet werden müssen. Diese waren 34 Banken, Sparkassen, Versicherungsgesellschaften und Treuhandgesellschaften, die auf Anregung der Regierung die 110 Millionen Reichsmark Aktienkapital am Tage der Auflegung zeichneten. Alle weiteren Profite nach dem ersten Abstrich werden zu 75 Prozent auf Reserve und zu 25 Prozent pro rata unter die Subskribenten verteilt. Den fünfprozentigen Kapitalgewinn garantiert die Regierung jedoch gegen Deckung aus künftigen Einnahmen des Instituts.

Bis jetzt hat das Aktieninstitut nur mit seinem Ursprungskapital von 110 Millionen Reichsmark gearbeitet und es zur Gewährung von Darlehen an hilfsbedürftige Industrien verwendet. Insoweit läßt sich seine Tätigkeit mit der der R. F. C. vergleichen. Im kommenden Winter beabsichtigt das Aktieninstitut jedoch, Wertpapiere zum Kauf durch die Öffentlichkeit aufzulegen. Sobald es Wertpapiere emittiert und verkauft, wird es allmählich die 800 Millionen Reichsmark Aktien übernehmen, die jetzt in Händen der Sofindit sind. Sind diese einmal wieder vom öffentlichen Markt aufgenommen, so kann es daran gehen, fremde Aktien aufzunehmen, und diesem Prozeß sind keine Schranken gesetzt.

Was das für den italienischen Kapitalmarkt bedeuten kann, ist unabsehbar. Der Anerkennungsstempel der Regierung wird auf allen Emissionen des Aktieninstitutes sein. Das Institut kann, wenn es will, sämtliche Gesellschaftsaktien Italiens aufnehmen und als eigene Wertpapiere wieder emittieren. Für Investoren, die jetzt zu ängstlich sind, um Aktien welcher Art immer zu kaufen, mag es beruhigend sein, daß der Name des Aktieninstitutes auch auf seinen von der Regierung nicht garantierten Papieren steht. Es liegt auf der Hand, daß das Institut heute den Kapitalmarkt beobachtet und für seine erste Emission einen günstigen Augenblick abzuwarten wünscht. Es kann jedoch sehr wohl auch so kommen, daß die ersten Emissionen des Instituts sich als Köder erweisen, mit dem ein Teil der verhältnismäßig enormen Summe von 6 Milliarden 800 Millionen Reichsmark, die jetzt praktisch unfruchtbar in Sparkassen liegt, auf den Kapitalmarkt gelockt werden.

Hier liegt eine Möglichkeit zu Anfängen einer Erholung in Italien, einer Erholung, die der des übrigen Europa noch voranginge. Das ist natürlich einzig und allein vom finanziellen Standpunkt aus gesehen, aber was diesen Aspekt betrifft, bietet das Aktieninstitut ganz außerordentlich verheißungsvolle Aussichten für die Zukunft.

Die andere Möglichkeit des Instituts, ein Instrument für die Verwirklichung einer Planwirtschaft, für einen staatlich kontrollierten Kapitalismus, zu sein, ist von ferner liegender, wenn auch à la longue größerer Bedeutung. Man nehme an, das Institut erweitere seine Operationen so, daß sie die ganze Industrie umfassen. Man stelle sich vor, daß jeder italienische Staatsbürger einen Anteil am Aktienkapital des Instituts erwerbe, statt seine Ersparnisse in einer Sparkasse anzulegen. Jeder möge einen Anteil von 1000 Lire besitzen. Das klingt im Augenblick phantastisch, ist aber durchaus nicht unvorstellbar. Sollte es so kommen, so wären die Staatsbürger Italiens in ihrer Gesamtheit die Eigentümer der gesamten italienischen Industrie.

Der einzige, wenn auch wichtige, Unterschied zwischen dem faschistischen Eigentumssystem und dem der Sowjets wäre, daß innerhalb des Sowjetsystems alle Staatsbürger auf Grund ihrer Staatsbürgerschaft gleichermaßen Aktionäre der dem Staat gehörigen Sowjetindustrie sind und Dividenden in Gestalt der allgemeinen Vorteile beziehen, die sich aus der gesteigerten Produktion, den niedrigeren Preisen usw. ergeben, während die faschistischen Staatsbürger Aktionäre nur im Verhältnis zu den von ihnen innegehabten Institutsanteilen wären und Dividenden in bar bezögen.

Die Frage der formalen Institutsleitung ist unwichtig, insofern als dieses vom Staat erdachte und vom Staat organisierte Instrument, insbesondere unter dem Faschismus, notwendigerweise ein Organ des Staates bleiben muß. In Wirklichkeit besteht sein Kuratorium in einem Verwaltungsrat von 15 Personen, von denen sechs durch die Regierung ernannt werden und neun durch die sogenannte Genossenschafts-Versammlung, die sich aus Vertretern der Institute zusammensetzt, welche das Ursprungskapital des Aktieninstituts subskribiert haben. Der Präsident, Senator Mayer aus Triest, ist von Mussolini ernannt. Zufällig sind sowohl Senator Mayer wie der Finanzminister Guido Jung Juden – ein Umstand, der für die antisemitischen nationalsozialistischen Bewunderer Mussolinis in Deutschland beunruhigend ist.

Es liegt auf der Hand, daß die Regierung, mit oder ohne Absicht, sich mit der Schaffung des Aktieninstituts auf einen schicksalsschweren Weg zur Finanzkontrolle über die Industrie begeben hat. Senator Mayer räumte ein, es treffe zu, daß die Statuten des Instituts nichts enthalten, was es unmöglich machen würde, aus der finanziellen eine administrative Kontrolle zu machen, versicherte aber ausdrücklich, daß das nicht beabsichtigt sei. Beabsichtigt ist, wie er sagte, eine Scheidung zwischen guten und schlechten Industriekonzernen, Hilfe für die unversehrten und die im Kern gesunden Unternehmen und Nichtberücksichtigung der anderen. Außerdem beabsichtigt man, wie er besonders betonte, jede Industrie unter der Kontrolle des Instituts an unkluger Expansion zu verhindern und ihre Bestrebungen auf das Maß des Möglichen zu beschränken. Aber wie weit ist eine Kontrolle dieser Art von Verwaltung entfernt?

Diese Frage führt zur Betrachtung der beiden anderen Institutionen, welche die italienische Regierung geschaffen hat; beide eignen sich dazu, Instrumente einer Volkswirtschaft zu sein, in der ein zentrales Organ die Nachfrage oder den wahrscheinlichen Konsum im voraus zu bestimmen bestrebt ist und dementsprechend die Produktion plant.

Diese beiden anderen Instrumente sind der Rat der Korporationen und das neue Gesetz, das die Schaffung von Konsortien dekretiert. Der Rat der Korporationen, das Regierungswerkzeug des Korporationenstaates, ist ein beratender Ausschuß von Repräsentanten aller Zweige der Volkswirtschaft. Er erinnert theoretisch außerordentlich an den obersten Wirtschaftsrat der Sowjets und könnte sehr wohl als potentielles Verwaltungsorgan einer Planwirtschaft, ähnlich der der Sowjets, betrachtet werden.

Das neue Gesetz zur obligatorischen Bildung von Konsortien liefert ein potentielles Instrument zur Organisierung der Industrie im Rahmen einer Planwirtschaft. Bevor Italiens Industrie konzentriert ist, könnte keine derartige Planung durchgeführt werden. Wie außerordentlich zersplittert die italienische Industrie ist, läßt sich aus der Industriezählung des Jahres 1927 ersehen, welche 728 150 Industriekonzerne nachwies, die 3 965 501 Menschen, durchschnittlich also 5,4 Arbeitnehmer pro Unternehmen, beschäftigten. Wohl in keinem anderen Lande ist die Industrie in solchem Maße auf winzige Fabriken verteilt.

Um diesen Zustand zu ändern, der unvermeidlich zu Leistungsunfähigkeit und Vergeudung führt, hat die Regierung soeben ein Gesetz verabschiedet, gemäß dem jede Industrie gehalten ist, ein Konsortium zu bilden, wenn es von 70 Prozent sämtlicher Gesellschaften gefordert wird, die mit irgendwelchen einzelnen Produktionszweigen befaßt sind und 70 Prozent der leistungsfähigen Durchschnittsproduktion der betreffenden Branchen im Laufe der letzten drei Jahre repräsentieren; in ihr müssen, wenn nicht volle 70 Prozent der Einzelproduzenten zustandekommen, mindestens 85 Prozent der Gesamtproduktion vertreten sein. Dieses Gesetz kann sehr rasche Wirkungen zeitigen, denn im allgemeinen war das Haupthindernis, das sich der Bildung von Konsortien in den Weg stellte, der Umstand, daß eine kleine Anzahl von Konzernen es gern sehen würde, daß die Majorität ein Konsortium bilde, sie selbst aber außerhalb des Konsortiums bleiben, um durch Unterbieten Vorteile aus der dem Konsortium auferlegten Preiskontrolle zu ziehen.

Es darf vielleicht darauf hingewiesen werden, wie grundlegend diese Regierungspolitik sich von der der Vereinigten Staaten unterscheidet, wo »Assoziationen mit Monopolbestrebungen« illegal sind. Hier werden sie von Gesetzes wegen gefördert, und die logische Entwicklung des Konsortialgesetzes müßte in Italien dazu führen, daß früher oder später aus sämtlichen Industrien des Landes eine Reihe von Monopolen gebildet wird.

Auf diese Weise hat die italienische Regierung die für die Einleitung einer Planwirtschaft notwendigen Instrumente geschaffen: das Finanzinstrument in dem Aktieninstitut, das organisatorische Instrument in dem Gesetz zur obligatorischen Konsortialbildung und das Verwaltungsinstrument in dem Korporationenrat. Wann die genannten Instrumente zu diesem Zweck verwendet werden, ist eine andere Frage. Es läßt sich denken, daß der verzögernde Faktor in der Schwierigkeit liegt, sich darüber zu entscheiden, ob das Planen dem Profit vorangesetzt werden soll.

Das sind Probleme der Zukunft. Von unmittelbarer Bedeutung ist, daß Italien, indem es unverzüglich mit der Bankenkrise fertig wurde, den Höhepunkt seiner Gefahrenperiode überschritten hat, daß die Instrumente, die es zur Bekämpfung der Depression geschaffen hat, sich als wirksam erweisen, und daß der Kapitalismus sich unter dem Faschismus, wenigstens für den Augenblick, über mögliche Konflikte zwischen Planungen und Profiten keine Sorgen zu machen braucht. Für die Gegenwart erscheint die Stabilität der italienischen Finanzwirtschaft gesichert, und was die Frage der Kapitalanlagen betrifft, so hat Italien Aussichten, rascher wieder hochzukommen als die meisten anderen Länder.


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