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VI · Eine rote Abendwolke

Die Stadt taumelte im Rausch des Sieges. Lebensmittelhändler öffneten ihre verbarrikadierten Läden und verschenkten mehr als sie verkauften. Irgendein verrückter Kerl ließ die Glocken von zwei Kirchtürmen Sturm läuten.

Der Markt war zu einem Spielplatz großer Kinder geworden. Junge Burschen ahmten die Scherze wildwestlicher Filmhelden nach und knallten Löcher in die Luft. Zwei Reichswehrlastautos voll Geschrei und Gelächter fuhren wie aufgezogenes Spielzeug immerfort um den alten Brunnen.

Unterdessen wurde die Stadt gesäubert wie ein Bett vom Ungeziefer. Die Soldaten ergaben sich ohne viel Umstände. Ich hatte inzwischen mindestens die Hälfte meiner Schulkameraden aus der »Eremitage« getroffen, und Morgenstern hatte sich uns angeschlossen. Wir zogen zur Post und wollten die dort eingenisteten Soldaten ausheben. Ehe wir hinkamen, hatte ein langer, dunkelhäutiger, verwegener Kerl, ein Tierbändiger von Beruf, der auch noch Grimm hieß, den ganzen Stall ausgemistet. Er war von einer Nebenstraße her durch ein Fenster geklettert, hatte eine Handgranate in den Hof gefeuert und sich dann – ein einzelner Mann – mit erhobenem Gewehr in die Hofmitte gestellt, wie in eine Manege, und gebrüllt: Raus! Daraufhin waren die gezähmten Bestien aus ihren Winkeln gekrochen. Sie traten gerade an, als wir mit unserem schön ausgeheckten Angriff beginnen wollten. Die Gefangenen wurden nach dem Rathaus gebracht, und Grimm zog mit uns. Er blieb bei unserem Gewehr.

Später bekamen wir sogar noch einen Kavalleristen hinzu. Ich weiß heute nur noch, daß er Hans hieß oder daß wir ihn so nannten, und er hatte tatsächlich etwas von dem Hans im Glück.

Ein toller Bursche!

Er war im Feld Fahrer, hatte auch in seinem Beruf mit Pferden zu tun, und so zog er, als das Ministerium genommen war, ein Pferd aus dem Stall, einen prachtvollen derben Schimmel, sprang auf den ungesattelten Rücken und ritt vor die Volksblattdruckerei. Wenn die Besatzung dort nicht schon mürbe gewesen wäre, dann hätte sie Hans dem Schimmelreiter wahrscheinlich heimgeleuchtet. Aber so konnte er sich den Spaß leisten, wie ein Zirkusboy vor die Druckerei zu galoppieren und die dort auf ihn wartenden Feldgrauen herauszupfeifen. Er hatte sehr viel Zuschauer, und besonders die Mädels waren ganz närrisch. Hans kostete denn auch diese Chance in den folgenden Wochen bis zur Neige aus, aber er war trotzdem stets da, wenn etwas zu tun war, wobei es kein Publikum gab. Und das sollte recht bald und recht oft der Fall sein.

Als wir wieder auf den Markt kamen, drängten die Massen dort wie von einem Magnet nach der Mitte gezogen. Auf einem eroberten Lastauto der Reichswehr, auf dem Verdeck des Führersitzes, bis zu den Knien umklammert von stützenden Armen einer um ihn hockenden Gruppe, stand mein Vater und redete. Ich sah seinen heftig stoßenden rechten Arm, dessen Bewegungen von der steifgeballten Linken ausbalanciert wurden, ich sah seinen laut formenden Mund und die jede Bewegung mitmachenden grauen Haarbüschel, aber ich kam nicht nahe genug heran, um ihn verstehen zu können. Nur die zornige und anfeuernde Stimme hörte ich. Auch die um mich herum konnten nichts verstehen, aber sie alle standen und lauschten. Diese schweigende Zustimmung hatte etwas Überwältigendes. Dieses lautlose Starren von Tausenden steigerte wiederum die Kraft der Rede. Und plötzlich geriet die riesige Versammlung in Raserei, ein Schrei riß die Arme hoch, und in die Masse kam Bewegung.

»Nach der Kaserne! Nach der Kaserne!«

Es war wie ein Ausbruch unermeßlicher Freude. Die Wagen setzten sich in Bewegung, Gewehre tanzten über den Köpfen, ein Lavastrom dampfte die Marktstraße hinab.

Weißt du, ich habe manchen Angriff im Feld erlebt. Ich mache mir kein Heldentum vor. Wir lagen einmal nachts zwei Stunden lang vor dem Drahtverhau und warteten auf das Zeichen zum Angriff. Ich kenne die Sorte Gefühle. Und ich habe, als ich verwundet wurde und aus der Gefechtslinie zurücklief, die Gesichter mir entgegenkommender Reserven gesehen. Das Grauen in diesen Augen macht mich noch heute erzittern. Die Todesangst stand auf jedem Gesicht. Aber das harte Müssen, der Drill, eine unbegreifliche Allmacht trieb diese Männer in das Gefecht, das übrigens siegreich ausging, wie ich später im Heeresbericht am Schwarzen Brett des Lazaretts las ... Die Zahl der Toten stand nicht mit dabei ...

Die mit Geschrei nach der Kaserne ziehende Masse von Bewaffneten und Unbewaffneten mußte nicht. Niemand konnte es ihr verwehren, heimzugehen oder die Gewehre in eine Ecke zu lehnen. Aber sie alle rannten und suchten sich zu überholen, als ginge es zu einem Vergnügen und nicht zu einem Angriff auf eine Kaserne voll Soldaten, Zeitfreiwilligen und Maschinengewehren.

Bald merkten wir, daß ein Kommando da war. Die Masse teilte sich in zwei kochende Ströme, und ich sah, wie die Maschinengewehre zugeteilt wurden. Auch wir bekamen Order. Der Vater Morgensterns brachte uns einen Zettel:

Das Maschinengewehr Wunderlich
setzt sich durch die Ostvorstadt
in Marschmarsch
und greift
von der Westseite der Schrebergärten auf der Lorenzhöhe an.

Basta! Jedenfalls imponierte es uns gewaltig. Der Vater Morgensterns schaute erst ein wenig benommen, als er sah, daß sein Junge an dem Gewehr war, dem er den Angriffsbefehl brachte. Aber dann hielt er uns lächelnd den Zettel her, winkte und rannte weiter. Der Wisch trug keine Unterschrift, aber die Sache war natürlich in Ordnung.

Unterwegs trafen wir Dr. Schilling. Mähne und Krawatte wehten. Er winkte uns mit blitzenden Augen zu. Schade, daß kein Brandenburger Tor da war, unter dem er die jeweils Siegreichen erwarten konnte, um sich an ihre Spitze zu stellen, fertig für eine Großaufnahme der Wochenschau!

Karafiol, der vorn am Maschinengewehrschlitten trug, hielt an, ließ mich absetzen, nahm seinen Karabiner von der Schulter und reichte ihn Schilling hin:

»Ich brauche die Knarre jetzt nicht. Wir holen uns andere in der Kaserne! Komm mit, Genosse!«

Der Mann mit der Haarschleife unterm Kinn wurde seekrank:

»Ich ... ich bin Tolstoianer, verstehst du ...«

Ja, wir verstanden, brüllten vor Wonne und schauten zu, daß wir an den uns zugewiesenen Ort kamen.

Der Tierbändiger suchte uns einen schönen Platz, Morgenstern und Hans keuchten mit der Munition heran, Karafiol führte zu, und dann richtete ich das Maschinengewehr auf die Kaserne.

Es wurde allmählich dunkel. Man sah bereits das Aufblitzen der Schüsse in der Dämmerung und die zuckenden Stichflammen der M.-G.s. Die Kaserne lag in einem flachen Kessel. Ringsherum, auf allen Höhen, krochen die Angreifer langsam vor. Aus den Fenstern der um einen weiten Platz gelagerten und von einer hohen Mauer zusammengehaltenen Kasernengebäude flackerte unausgesetzt das Mündungsfeuer.

Verflucht noch mal! Hier konnten wir unsere ganze Munition verpulvern und lagen schließlich morgen früh auch noch da. Ich nahm mir ein Maschinengewehr nach dem anderen vor. Man konnte ja ihr anhaltendes Mündungsfeuer deutlich von den kurzen Funken der Gewehrschüsse unterscheiden. Aber auch wir bekamen Dunst. Es war wie im Feld: Bald war die engere Umgebung des Maschinengewehrs leer. Die Arbeiter mit Gewehren verzogen sich aus unserer Nähe.

Einmal hatte uns ein Schütze von drüben beinahe in seiner Geschoßgarbe. Der Dreck spritzte auf, und Hans wurde die Mütze vom Kopfe geschossen. Er wurde doch ein wenig blaß, feixte dann aber und schob sich das durchlöcherte Zeugnis seines Heldentums keß in die Stirn. Später machte er sehr viel Staat mit seinem Kopfputz. Ich glaube, er trägt die Mütze mit den Löchern heute noch.

Jetzt aber hieß es: Sprung auf, marschmarsch! Das Angriffsgebrüll pflanzte sich fort – gelernt ist gelernt – und dann ging es mit Hoppla über die Felder, Zäune und an die Kaserne ran. Auf unserem Abschnitt hatten wir dabei einen Toten und etliche Verletzte. Die Kaserne wurde gestürmt. Viele von unseren Leuten waren hier gedrillt worden. Sie kannten die günstigen Übersteigmöglichkeiten von ihren verbotenen Nachtspaziergängen her und beschritten jetzt vertraute Schleichpfade. Über die Mauern und durch die aufgerissenen Tore fluteten die Angreifer wie wilde Teufel.

Morgenstern und Karafiol blieben bei unserem Maschinengewehr. Hans, Grimm und ich rissen noch einige Leute mit und tobten dann in eines der langgestreckten Mannschaftsgebäude. Ein Empfang mit allem Donnerwetter hätte uns nicht überraschter zusammenfahren lassen als die Totenstille des völlig ausgestorbenen Korridors, der auf der einen Seite eine Fensterfront nach dem Hofe zu hatte, auf der anderen die Türen zu den Mannschaftsstuben. Aus den der Straße zugerichteten Fenstern dieser Zimmer war vor einer Minute noch gefeuert worden, und jetzt war alles still wie in einer nächtlichen Kirche.

Wir standen festgewurzelt und lauschten.

Nichts regte sich.

Ich ließ mir, ohne zu sprechen, von Hans das Gewehr geben, der dafür zwei Stielhandgranaten abzugsfertig hielt. Grimm hob in angewinkelten Armen das Gewehr, den Finger am Abzug. Die hinter uns standen gleichfalls bereit.

Wir schlichen uns an die erste Tür heran, und der Tierbändiger probierte mit einem Faustschlag die erste Klinke. Sie war verschlossen. Da schlug ich mit meinem Gewehrkolben donnernd gegen die Tür, und Hans stand daneben und hielt die Abzugsschnuren der Handgranaten.

Es kam ja darauf an, wer zuerst abdrückte.

Der Korridor dröhnte von den Kolbenschlägen. Die Türfüllung gab nach, ein Fußtritt legte die Türbretter um, und dann standen wir im Zimmer.

Kein Mensch regte sich. Die Soldaten lagen, Helm auf und umgeschnallt, auf ihren Etagenbetten. Viele mit dem Gesicht auf dem Kissen. Aus dem Dämmerdunkel der Stube kam schweres Atmen. Ein Maschinengewehr stand in kniendem Anschlag auf einer Holztafel, hielt die Schnauze zum Fenster hinaus, im Dampfablaßschlauch rumorte es noch, und die leergeschossenen Patronen lagen haufenweise am Boden.

So war es in jedem Zimmer. Sogar die Todesangst war hier uniform. Aber ich will darüber nicht spaßen ...

Inzwischen war es Abend geworden. Wie ich auf den Kasernenhof hinaustrat, standen die Gebäude nur noch als Silhouetten vor dem Grau des Abends, über dem ein seltsam farbiger Himmel wie eine Pastellzeichnung hing. Eine schöne rote Abendwolke löste sich langsam auf und verblaßte.

Aber ich hatte wenig Zeit, mit den Wolken zu träumen. Anstatt nun den vollkommenen Erfolg zu befestigen und sich bewußt zu sein, daß Hunderte von gefangenen Soldaten und Zeitfreiwilligen zu bewachen waren, daß überall noch Waffen lagen, verschwanden die Angreifer in der Kantine, in den Lagern und schleppten Brot und Konserven davon. Manche hatten auch Mäntel und Schlafdecken zusammengerollt. Wir riefen ihnen zu, Vernunft anzunehmen. Sie lachten oder gingen mit verbitterten Gesichtern an uns vorbei. Freilich, sie hatten ein gewisses Recht auf diese Beute. Seit Monaten gab es nichts Gescheites zu essen, alles war teuer und schlecht, und hier waren sie einmal an der Reihe. Man wollte die Tore abschließen und jeden kontrollieren. Aber da kamen wir schön an! Ich rief ihnen zu, ihr Zeug zu behalten, die Nacht aber hierzubleiben. Nichts half. Sie zogen ab. Gingen heim, legten sich zu ihrer Mutter ins Bett oder packten ihre Weihnachtsgeschenke aus. Uns blieben ganze sechzehn Mann zur Bewachung der Kaserne. Fast hätte ich geheult, so verzweifelt war ich.

War das dieselbe Masse, die wenige Stunden vorher wie eine Naturgewalt aufgebrochen war, ohne Signale, ohne Regie, ganz auf ihren Instinkt verlassen, die geblutet und in die der Tod eingeschlagen hatte, und sie wollte jetzt die Früchte dieses Blutopfers unter die eigenen Füße treten? Ich stand vor einem Rätsel. Und heute noch begreife ich das alles nicht völlig, obwohl ich später noch manches erlebt habe ...

Wenn ich daran denke, was wir am Morgen nach dieser Nacht noch für Gewehre, Handgranaten und sogar Maschinengewehre gefunden haben, dann wird mir nachträglich noch kalt. Sechzehn Mann Bewachung! Es war allerhand. Wir patrouillierten die ganze Nacht hindurch, hielten uns krampfhaft wach und vertrauten auf drei schußfertige Maschinengewehre, die wir am Haupteingang aufgebaut hatten. Weiß der Himmel, auch ich war müde. Ich hatte einem Bekannten aufgegeben, meine Mutter zu grüßen und ihr zu sagen, ich käme morgen.

Und schließlich ging auch diese Nacht vorüber.

Die Offiziere hatten wir in eine Stube zusammengetrieben. Der lange Grimm saß vor ihrer Schwelle und hielt eine Serie Handgranaten bereit.

Es blieb aber alles ruhig. Manchmal war es mir, als hörte ich die Kaserne im Schlaf atmen.

Am Morgen erfuhren wir, daß die heimziehenden Sieger von gestern abend plötzlich Lust bekommen hatten, das herzogliche Schloß anzuzünden. Etwa zweihundert Bewaffnete und Mitläufer waren bereits auf dem Weg zu diesem Freudenfeuer. Einer hatte die Idee in das Gewimmel geschrien, und im Nu war die Marschrichtung gegeben. Es hat allerhand Mühe gekostet, den Haufen von seinem Vorhaben abzudrängen. Die Argumente der Besonnenen waren freilich nicht besser als die Gegengründe, aber der alte Rumpelkasten überlebte diese kritische Nacht und steht heute noch. – Soll er meinethalben stehenbleiben, bis wieder einmal eine rote Abendwolke über ihm hängt ...

Wer weiß, wann das sein wird! –

Endlich wurden wir abgelöst. Die Parteiorganisation hatte an die zweitausend Leute zusammengetrommelt, richtig zusammengetrommelt. Die Trommler des Arbeiterturnvereins waren am frühen Morgen durch die Arbeiterviertel gezogen und hatten den Leuten den Takt der Disziplin in die Knochen gerasselt. Diese getrommelte Gardinenpredigt hatte gewirkt. Die Stadt kam früh auf die Beine.

So begann der zweite Tag.


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