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III · Schnecken

Die erste Unterrichtsstunde der Woche war vorüber. Es war eine verrückte Stunde. Ein Lehrer, der wie ein aufgezogener Kreisel um das Katheder tanzte, und eine Klasse, die vor sich hinstarrte und darauf wartete, daß einer aufstand und losschrie: Das ist doch Unfug, daß wir hier sitzen und so tun, als ob wir auf dem Mond wären!

Aber es schrie keiner los. Eine Schulordnung bleibt bestehen, und wenn die Welt einstürzt. Fenster öffnen, aus den Bänken heraustreten, der Vorturner der Klasse übernimmt das Kommando, Atemübungen! So, und nun kann die zweite Stunde beginnen. Es war Viertel nach neun Uhr. Dr. Schilling betrat den Lehrsaal.

Die Klasse nannte ihn »Jupiter«. Wegen seiner Gottähnlichkeit und wegen seiner Verwandtschaft mit dem Olympier auch in erotischen Abenteuern. Der kleine Jude Karafiol, der »Intellektuelle« in dieser Klasse von jungen Handarbeitern, hatte dem »Genossen Doktor« den Spitznamen angehängt und der Klasse die Richtigkeit des Vergleichs mit drei Sätzen Mythologie bewiesen.

Mit wehender Mähne und einer schwarzen Haarschleife unterm Kinn stieg Schilling vor der Klasse auf und ab. Er war der Vorstand der Schule, der erbitterte Gegner des Schülerrats. Seine Spezialität war die Naturwissenschaft und sein Steckenpferd die Theorie von der den Naturgesetzen folgenden Entwicklung. Die sozialistische Hochschule in der »Eremitage« verdankte seiner Anregung ihre Existenz, und er verdankte seine Existenz dieser Schule. Vorher war er Wanderredner in Vortragsabenden und Sonntagskursen, ein überall begehrter Referent. Doch für einen sechsmonatigen Unterricht reichte sein Wissen nicht aus. Den Mangel sollte der Purpur der Autorität verdecken, aber wir hatten ihn durchschaut, und das Mißtrauen saß kalt zwischen ihm und der Klasse.

Ich weiß noch heute, wie ich bei den ersten Sätzen Schillings stutzte. Die gleichgültige, manchmal gewinnend lächelnde Stimme da vorn sprach von ... von den Schneckenarten und vom »Einfluß des Lebensraumes« dieser Tiere auf ihre Größe und Vermehrung ...?

... sprach von ... Schnecken!

Der Kopf wurde mir plötzlich zu schwer. Gebeugt saß ich in meiner Bank und schämte mich, schämte mich dieser Schule, schämte mich der verlorenen Zeit, und ich mußte mich hüten, laut zu fragen und die vor sich hinbrütende Klasse zu wecken: Was haben die Schnecken mit dem Putsch und mit uns zu tun? – Da wußte ich plötzlich die Antwort:

Sie verkriechen sich!

Sie kriechen und verkriechen sich!

Kaum wußte ich, was ich jetzt tat. Ich steckte meinen Notizblock und den Stift ein und erhob mich. Der Lehrer stockte und sprach den Satz kaum zu Ende. Auf einmal fuhren alle nach den offenen Fenstern herum:

Aus der Richtung der Stadt hämmert es dumpf und abgerissen. Wir alle wußten, was das war. Wir kannten das Geräusch. Maschinengewehre ...

Es war ganz still in der Klasse. Alle lauschten. Ein einzelner Schuß klopfte dumpf. Dann war es wieder still. Etliche waren aus ihrer Bank getreten. Jetzt setzte das stotternde Geräusch in der Ferne wieder ein, überhastete sich, mehrere Maschinengewehre feuerten gemeinsam.

»Genossen ...«

Alle wandten sich nach der etwas heiser gewordenen Stimme am Katheder um.

»Genossen. Im Auftrag des Lehrerkollegiums ordne ich hiermit an: Kein Schüler verläßt das Gebäude. Kein Schüler beteiligt sich an den in der Stadt etwa beginnenden Kämpfen ...«

Etwa beginnenden ...?

»Wir dürfen der neuen Regierung keinen Anlaß geben, gegen unsere Schule einzuschreiten.«

Drei Herzschläge lang stand die Welt still, dann ging ich durch den Mittelgang und blieb vor dem Schulleiter stehen:

»Du hast wohl Angst?«

Vor Erregung konnte ich kaum sprechen.

»Du hast wohl Angst, dein Posten könnte dir davonlaufen? Meinst du, die – neue Regierung (du rechnest schon damit!) läßt die sozialistische Schule am Leben? Heute und morgen haben die Putschisten andere Sorgen, aber in vierzehn Tagen spätestens erinnert sich einer der Schule, der Anstalt für Schneckenkunde, du! – und dann wird der Laden geschlossen, ganz gleich, ob wir an den Kämpfen beteiligt waren oder nicht!«

Die Klasse geriet in Aufruhr. Dr. Schilling stand mitten unter den Zusammendrängenden. In seinem erstarrten Antlitz zuckte eine Stirnfalte. Er tat mir fast leid. Und ich sagte ganz ruhig:

»Heute spricht sich unsere Schule selbst ihr Urteil. Zweiundvierzig Genossen, jeder ein Soldat, jeder ein Sohn und ein Bruder unserer Leute, die jetzt ihr Leben einsetzen, sollen eingesperrt werden wie Hühner! Wer kein feiger Hund ist – ich gehe!«

Auf jeder Treppenstufe verlor ich ein Gewicht aus dem Ränzel, das mir diese Schule aufgepackt hatte. Ich hörte hinter mir Galopp und Hallo, aber da war ich schon durch den Meierhof, auf der Chaussee, und die Straße lief unter mir wie ein gleitender Streifen. Von der Stadt her hämmerte Gewehrfeuer. Der dumpfe Krach einer Handgranate schlug herüber. Und immer wieder stotterten die verfluchten Maschinengewehre.

Ich kannte die Melodie. Vier Jahre lang habe ich mich mit dem Stotterkasten herumgeschleppt. Jetzt fiel es mir ein, wie ich bei Kriegsende, am ersten Abend des letzten Rückzugs in Belgien, mit der Spitzhacke drei Maschinengewehre zusammenschlug. Wenn ich jetzt eins davon gehabt hätte!

Und einen von den Munitionskästen, die ich in einem Schlammloch beim Verlassen der Sommestellung ersaufen ließ, als das Rindvieh von Feldwebel glaubte, mich damit vier Stunden weit in Trab zu bringen!

Eine – wie soll ich es nennen? – etwas wie wilde Freude kam über mich. Das Schnellfeuer in der Stadt machte mich verrückt und hetzte mich die Straße entlang.

Da sangen auch schon die ersten Querschläger über die Dächer. Frauen lehnten aus den Fenstern und blickten den fremd zwitschernden Eisenvögeln nach. Auf allen Straßen rannten Leute dem Stadtinnern zu.

Eine Gruppe, die vor mir herlief, stoppte plötzlich. Aus einer breiten Seitenstraße, die von der Kaserne kommt, bogen Truppen in die Hauptstraße ein. Nicht sehr eilig, straßenbreit, in der Mitte drei Lastkraftwagen, vollgepfropft mit Mannschaften und Waffen.

Verstärkung!

Die Soldaten gingen schweigend und ohne Eile, die Gewehre mit hängenden Riemen unter den rechten Arm geklemmt. Die Menschenbündel auf den Lastautos standen dichtgepfercht und lautlos, und das schlechte Pflaster schüttelte sie durcheinander.

Verstärkung! An die zweihundert Mann konnten es sein. Mit Maschinengewehren, Minenwerfern und mehr als hundert Gewehren, geladen und gesichert. Und die Patronentaschen voll Munition.

Aus dem Fenster des seit gestern wieder zum Hoflieferanten avancierten Bäckermeisters krähte eine Frauenstimme: Hurra! Aber die Soldaten drehten kaum den Kopf, einige lachten nervös, und sie setzten ihren schweigsamen Marsch fort, dem Marktplatz zu, wo die M.-G.s ratterten und helle Einzelschüsse aufbellten. Achtung! Verstärkung kommt! Ich rannte auf einer Nebenstraße dem Geknatter entgegen, geriet in breite, hin und her schiebende Menschenhaufen, in einen Knäuel sinnloser Schreie. An einer Haustür standen zehn, zwölf Personen über einen Verwundeten gebeugt Auf einmal, wie von gewaltigen Armstößen bewegt, stürzten die straßenbreiten, erregten Gruppen auf die Seite, Gebrüll stieg auf, und aus einer Querstraße polterte ein Konsumauto heran, auf ihm eine heftig gestikulierende Gruppe. Und ehe es an der Ecke hielt, wußte es der ganze wie berauscht aufschreiende Haufen:

Sie haben die Wache in der Konsumbäckerei überwältigt, zwölf Mann! Mit den bloßen Fäusten! Die Konsumbäcker! Und ein Maschinengewehr haben sie auch!

Ein Maschinengewehr! Und sechs Kästen Munition!

Die Straße schwankte wie bei einem Erdstoß.

Ich stürzte in eine Brandung bei Sturm. Hundert Arme reckten sich den vom Auto kletternden Männern entgegen. Ich war am Maschinengewehr: »Munition hierher!«

Durch die Gasse von Menschenleibern schleppten wir die auf den Gewehrschlitten aufmontierte Knarre und die Munition.

»Nach der Ecke dort! Marktstraße! Verstärkung – da oben!«

Wie wir in Stellung gingen, scharf an die Hausecke, Mündung den sechshundert Meter entfernt um die Ecke biegenden Verstärkungstruppen entgegen, sah ich, daß der Kerl mit den Munitionskästen neben mir keine Ahnung hatte, was er am Maschinengewehr sollte.

»Mensch! Bist du M.-G.?«

Der schüttelte den Kopf. So eine tolle Marke!

»Hau ab! He! Ist hier einer vom M.-G.?«

Wie ich mich umdrehte, stand der kleine Karafiol neben mir. Seine dunklen Araberaugen – ein feines Gesicht hatte er – lachten:

»Zuführen kann ich.«

Ich lag an der Knarre, Karafiol rechts daneben, Kasten auf, Gurt in den Zuführer. Er mußte immer erzählen, der Karafiol, sogar wenn er auf dem Bauche lag:

»Bist du gelaufen! Wir hinter dir her! Die halbe Klasse.«

»Paß auf!« schrie ich ihm zu. »Jetzt!«

Das Visier zu stellen, hatte ich in der Erregung vergessen. Aber ich brauchte es ja auch nicht. Straßenbreit bog die Verstärkung in das Schußfeld.

Ratternd fraß das Maschinengewehr den ersten Gurt.


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