George Kennan
Zeltleben in Sibirien
George Kennan

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4. Kapitel.

Irving hat ganz richtig bemerkt, daß eine lange Seereise für jeden, der fremde Länder besuchen will, eine vortreffliche Vorbereitungszeit ist. Um uns seiner eigenen Worte zu bedienen: »Der zeitweise Verzicht auf die gewohnten Beschäftigungen, der Mangel an alltäglichen Ereignissen machen den Geist für neue und lebhafte Eindrücke besonders empfänglich.« Er hätte noch hinzufügen können, für günstige Eindrücke. »Das ermüdende Gleichmaß der Tage« macht den Seereisenden geneigt, alles, was seine erlahmten Geisteskräfte anregt oder ihm neuen Stoff zum Nachdenken liefert, im günstigsten Lichte zu betrachten; die uninteressanteste Gegend, die gewöhnlichsten Umstände gewähren ihm Freude und Befriedigung. Aus diesem Grunde bildet er sich auch häufig über Land und Leute ein günstigeres Urteil, als es die spätere Erfahrung rechtfertigt. Mir erscheint es als ein besonderes Glück, daß unsere ersten Eindrücke von dem neuen Lande, welche die klarsten und lebendigsten und deshalb auch die bleibendsten sind, auch zu gleicher Zeit so angenehmer Art waren; so daß, wenn wir in späteren Jahren einen Rückblick auf unsere Wanderungen werfen, das freundliche Bild mit seinen leuchtenden Farben vor unserem Auge auftauchen wird. Ich bin fest überzeugt, daß das Entzücken, mit welchem mein Auge die herrlichen Tinten der Berge Kamtschatkas bei ihrem ersten Anblick 27 einsog, die Romantik, mit der meine Phantasie sie umkleidete, die Erinnerung an alle Beschwerden überdauern wird, die ich in ihrem Bannkreis erduldet, an die Schneestürme, die mich auf ihren Gipfeln umtobt, die Regengüsse, die mich in ihren Thälern durchnäßt haben.

Die Sehnsucht nach Land, die man empfindet, wenn man fünf bis sechs Wochen auf See war, wird manchmal geradezu zur Leidenschaft. Ich glaube wahrhaftig, wenn das erste Stück Land, das wir erblickt, eine jener entsetzlichen, endlosen Moossteppen gewesen, die ich nachher so gründlich verabscheuen lernte, ich sie für den Garten Eden selber gehalten hätte. Alle Reize, welche die Natur über das Thal Tempe ausgeschüttet, hätten mir keine größere Freude machen können, als die grüne Schlucht, in welche sich die rotbedachten Blockhäuser von Petropawlowsk schmiegen.

Die Ankunft eines Schiffes an jenem entfernten und wenig besuchten Punkt der Erde ist ein Ereignis von nicht geringer Bedeutung; das Rasseln unserer Ankerkette durch die Klüse brachte das stille Dorf in sichtbare Aufregung. Kleine Kinder kamen aus den Häusern gelaufen, starrten uns einen Augenblick an und eilten zurück, um die übrige Familie herbeizurufen; dunkelhaarige Eingeborene und russische Bauern in blauen Hemden und ledernen Hosen versammelten sich in Gruppen auf dem Landungsplatze, und wenigstens hundert halbwilde Hunde stimmten unserer Ankunft zu Ehren ein fürchterliches Geheul an.

Es war schon spät am Nachmittage, aber unsere Ungeduld, den Fuß endlich wieder einmal auf festen Boden zu setzen, war so groß, daß Bush, Mahood und ich, sobald das Boot des Kapitäns ins Wasser gelassen worden, uns ans Ufer begaben, um die Stadt in Augenschein zu nehmen.

Petropawlowsk ist sehr unregelmäßig gebaut, ohne deshalb auch nur im geringsten malerisch zu sein. Weder die ursprünglichen Ansiedler noch deren Nachkommen scheinen den geringsten Begriff von einer Straße gehabt zu haben, und die schmalen Wege laufen ganz ziellos 28 um die zerstreut liegenden Häuser. Es ist vollständig unmöglich, in irgend welcher Richtung auch nur hundert Meter zu gehen, ohne gegen die Seite eines Hauses anzurennen, oder in jemandes Hof zu geraten; des Nachts fällt man durchschnittlich alle fünfzig Schritte über eine schlafende Kuh. In anderer Hinsicht ist es ein ganz hübsches, von hohen, grünen Hügeln umgebenes Dorf mit dem Ausblick auf den mit ewigem Schnee bedeckten Awatscha, der sich hinter dem Ort zu einer Höhe von 11 000 Fuß erhebt.

Herr Flüger, ein deutscher Kaufmann zu Petropawlowsk, der uns in einem kleinen Boot im Hafen begrüßt hatte, bot sich zu unserem Führer an und lud uns nach einer kurzen Wanderung durch das Dorf in sein Haus ein, wo wir uns in einer Wolke von Cigarrendampf bis zu hereinbrechender Dunkelheit über die Kriegsnachrichten aus Amerika und die neuesten Vorgänge in der Gesellschaft Kamtschatkas unterhielten. Unter anderen Büchern, die auf Herrn Flügers Tisch lagen, fielen mir Beechers »Lebensgedanken« und »die Familie Schönberg-Cotta« auf; ich wunderte mich namentlich, daß letzteres schon seinen Weg nach dem fernen Kamtschatka gefunden.

Als neue Ankömmlinge war es unsere erste Pflicht, den russischen Behörden unsere Aufwartung zu machen, und so begaben wir uns in Begleitung der Herren Flüger und Bollmann zu Kapitän Sutkowoi, dem »Hafenkommandanten«. Sein Haus, mit glänzend rotem Zinndach, lag in einem Eichenhain, durch den ein klares reißendes Bergwasser dahineilte. Wir gelangten durch ein Thor auf breitem, schattigem Kiesweg in das offenstehende Haus. Kapitän S. bewillkommte uns herzlich, und obgleich wir nur unsere Muttersprache verstanden, fühlten wir uns bald ganz heimisch. Die Unterhaltung litt natürlich darunter, daß jedes Wort in zwei Sprachen übersetzt werden mußte, ehe die Person, an die es gerichtet war, es verstehen konnte; und wie geistvoll dieselbe auch hätte sein können, so büßte sie doch durch die Übertragung aus dem Russischen ins Deutsche und dem Deutschen 29 wiederum ins Englische viel von ihrer ursprünglichen Frische ein.

Ich war überrascht, so viele Beweise eines gebildeten Geschmackes in diesem entfernten Erdenwinkel zu sehen, wo ich nur das fürs Leben absolut Notwendige zu finden erwartete. Ein Flügel russischen Fabrikates nahm die eine Ecke des Zimmers ein, und eine vorzügliche Auswahl russischer, deutscher und amerikanischer Musik legte Zeugnis für die musikalische Begabung des Besitzers ab. Einige schöne Gemälde und Stiche zierten die Wände, ein sehr schönes Stereoskop und eine große Sammlung photographischer Ansichten lagen auf dem Tisch, auf dem auch das Schachspiel stand, in das Herr und Frau Sutkowoi bei unserem Eintritt vertieft gewesen. – Nachdem wir ungefähr eine Stunde verweilt, verabschiedeten wir uns und erhielten eine Einladung zum Mittagessen auf den folgenden Tag.

Da es noch nicht entschieden war, ob wir bis an den Amur segeln oder in Petropawlowsk bleiben, und unsere Reise nordwärts von hier aus antreten würden, betrachteten wir die Brigg als unser Heim und kehrten jeden Abend auf dieselbe zurück. Nachdem wir wochenlang an das Schaukeln, Stoßen und Krachen des Schiffes, das Rauschen des Wassers und das Heulen des Windes gewöhnt gewesen, erschien uns die erste Nacht im Hafen eigentümlich still und friedlich. Es wehte kein Lüftchen, und in dem Wasser der kleinen Bucht spiegelten sich die hohen Hügel, welche dieselbe umgaben, wieder. Einige Lichter im Dorf warfen lange Strahlenstreifen auf die düstere, fast regungslose Fläche, und von den Anhöhen zu unserer Rechten ertönte in Zwischenräumen aus der Ferne das Geläute einer Kuhglocke und das langgezogene, melancholische Geheul eines Wolfshundes. Ich bemühte mich zu schlafen; aber die Neuheit der Umgebung, die Gewißheit, daß wir endlich in Asien waren, und tausenderlei Gedanken über das, was die nächste Zukunft uns bringen würde, verscheuchten lange Zeit den Schlummer von meinem Lager.

Petropawlowsk, zwar nicht die größte, aber eine 30 der wichtigsten Niederlassungen auf der Halbinsel Kamtschatka, hat eine Bevölkerung von ungefähr dreihundert Seelen, die teils aus Eingeborenen, teils aus russischen Bauern und einigen deutschen und amerikanischen Kaufleuten besteht, welche der Pelzhandel hierher geführt hat. Die Stadt ist übrigens nicht charakteristisch kamtschadalisch, denn die civilisierenden Einflüsse fremden Verkehrs haben sich hier geltend gemacht; in Sitten, Lebens- und Denkweise findet man einige Spuren von Aufklärung und modernem Unternehmungsgeist. Schon seit Beginn des achtzehnten Jahrhunderts hat es als Niederlassung existiert und wäre wahrlich alt genug, um eine eigene Kultur zu besitzen; aber hohes Alter ist für eine sibirische Stadt kein Kriterium für Entwickelung, und Petropawlowsk ist entweder noch nicht zum Stadium der Reife gelangt oder in seine zweite Kindheit eingetreten, denn es befindet sich noch in sehr entwickelungsbedürftigem Zustande. Warum es Petropawlowsk benannt worden, ist mir trotz eifriger Nachforschung nicht gelungen, herauszufinden. Der Kanon des neuen Testamentes enthält keine Epistel an die Kamtschadalen, so sehr sie derselben auch bedürften, und es liegt kein Zeugnis dafür vor, daß je einer der beiden hervorragenden Heiligen den Grund und Boden betreten, auf dem sich das Dorf erhebt. So sehen wir uns denn zur Folgerung gedrängt, daß die, an apostolischen Tugenden nicht gerade reichen Bewohner im Bedürfnis heiliger Fürsprache ihre Niederlassung nach dem heiligen Petrus und Paulus benannt, in der Hoffnung, diese Apostel würden, als Besitzer des Dorfes, ohne Rücksicht auf Verdienst für sein ewiges Heil Sorge tragen. Ich kann natürlich nicht behaupten, daß dies die Berechnung der ursprünglichen Gründer war, aber sie entspricht ganz und gar dem gesellschaftlichen Zustande der meisten sibirischen Niederlassungen, in denen der Glaube groß, der Werke aber wenige, und diese oft fragwürdigster Tendenz sind.

Sehenswürdigkeiten, wie sich ein Tourist ausdrücken würde, giebt es in Petropawlowsk nur einige uninteressante. Es besitzt zwei Denkmäler zur Erinnerung an 31 die berühmten Seefahrer Behrings und La Pérouse, und auf den Hügeln sind Spuren der zur Zeit des Krimkrieges errichteten Befestigungen, um den Angriff der verbündeten französischen und englischen Geschwader zurückzustoßen; anderer Gegenstände oder Punkte von historischem Interesse kann sich die Stadt nicht rühmen. Für uns jedoch, die wir beinahe zwei Monate in eine enge, dunkle Kajüte eingeschlossen gewesen, hatte sie an und für sich genügende Anziehungskraft, und wir begaben uns früh am anderen Morgen ans Ufer, um auf der waldigen Halbinsel, welche den Hafen von der Awatschabai trennt, herumzuschweifen Der Himmel war wolkenlos, aber ein dichter Nebel lagerte auf den Hügelspitzen und verbarg die umgebenden Berge unserem Blick. Die ganze Landschaft war smaragdgrün und triefte von Feuchtigkeit; dann und wann durchdrangen die Sonnenstrahlen siegreich den Nebelschleier, und Lichtfleckchen huschten über den glitzernden Hügelabhang dahin, wie ein freundliches Lächeln über ein thränenbenetztes Antlitz gleitet. Überall war der Boden mit Blumen bedeckt. Blaue Veilchen lugten aus dem Grase, auf moosigem Fels thronten die purpurnen Glöckchen der Akelei, und überall gab es Büsche wilder Rosen in Hülle und Fülle; der Boden war manchmal förmlich mit ihren zarten rosigen Blumenblättern bestreut.

Indem wir den Abhang des steilen Hügels zwischen dem Hafen und der Bucht hinankletterten, durch die Berührung jedes Busches einen förmlichen Sprühregen über uns entluden und Hunderte taubenetzter Blumen mit unseren Schritten vernichteten, befanden wir uns plötzlich vor dem Denkmal von La Pérouse. Ich hoffe, seine Landsleute, die Franzosen, haben das Andenken des großen Seefahrers in geschmackvollerer und bleibenderer Weise verewigt. Dieser mit Eisenblech bezogene, schwarz angestrichene Holzrahmen, der weder Datum noch Inschrift trägt, sieht eher wie der Grabstein eines Verbrechers als wie ein Monument zu Ehren eines großen Mannes aus.

Während Bush eine Skizze davon machte, wanderten 32 Mahood und ich den Hügel aufwärts nach den alten russischen Batterieen. Sie ziehen sich auf dem Kamm des Bergrückens hin, welcher die innere Bucht von der äußeren trennt, und beherrschen den Zugang zur Stadt von Westen her. Jetzt sind sie fast ganz mit Gras und Blumen überwuchert, und nur die Schießscharten unterscheiden sie von anderen Erdhügeln. Man hätte denken sollen, die weite Entfernung und das unwirtliche Klima Kamtschatkas würde seine Bewohner vor den Verheerungen des Krieges bewahrt haben. Aber selbst dieses Land hat zerstörte Forts und grasbewachsene Schlachtfelder aufzuweisen, und vor nicht gar langer Zeit hallten diese friedlichen Hügel vom Echo feindlicher Kanonen wieder. Ich überließ es Mahood, die Verschanzungen einer kritischen Besichtigung zu unterziehen – eine Beschäftigung, die seinem Geschmack mehr zusagte als meinem – und wanderte bis an den Rand der Klippe, von wo aus die russischen Artilleristen die heranstürmenden Verbündeten zurückgewiesen hatten. Der blutige Kampf, der am Rande dieses Abgrundes stattfand, hat keine Spur zurückgelassen; der Boden, der im tödlichen Ringen aufgerissen worden, ist mit einem grünen Moosteppich überzogen, und die im frischen Seewind sich neigende Glockenblume erzählt nichts von dem letzten verzweifelten Angriff, von dem Handgemenge und dem Todesschrei der Überwältigten, die von den russischen Bajonetten hundert Fuß tief auf die felsige Küste geschleudert wurden.

Mich dünkt es leichtfertige Grausamkeit von seiten der Verbündeten, daß sie einen so unwichtigen, isolierten und dem eigentlichen Kriegsschauplatz so fern liegenden Posten angriffen. Hätte seine Einnahme in irgend einer Weise die Macht oder die Hilfsquellen der russischen Regierung verringern, oder ihre Aufmerksamkeit vom Entscheidungskampf auf der Halbinsel Krim abziehen können, so wäre dieser Angriff vielleicht zu rechtfertigen, aber auf das Endresultat konnte er weder direkt noch indirekt Einfluß haben und brachte nur Elend über einige harmlose Kamtschadalen, die weder von der 33 Türkei noch von der orientalischen Frage je etwas gehört, und denen der Donner der feindlichen Kanonen und das Bersten der Bomben an ihrer Hausschwelle die erste Kunde vom Kriege brachten. Der Angriff der verbündeten Flotte wurde jedoch siegreich zurückgewiesen, und ihr Admiral, von der Demütigung, von einer Handvoll Kosaken und Bauern überwunden worden zu sein, tief gekränkt, beging Selbstmord. Am Jahrestage der Schlacht ziehen noch heute alle Bewohner mit der Priesterschaft an der Spitze in feierlicher Prozession um die Stadt und über den Hügel, von dem aus die Stürmenden zurückgeschlagen wurden, und singen Freude- und Dankeshymnen für den Sieg.

Nachdem ich noch eine Weile auf dem Schlachtfelde botanisiert hatte, kam Bush zu mir, der seine Skizze vollendet, und wir kehrten müde und durchnäßt ins Dorf zurück. Unser Erscheinen am Ufer machte unter den Bewohnern das größte Aufsehen. Die russischen Bauern und Eingeborenen zogen ihre Mützen und hielten sie in den Händen, bis wir vorüber waren; an allen Fenstern drängten sich die Köpfe, um einen Blick der amerikanischen Reisenden zu erhaschen, und selbst die Hunde erhoben bei unserem Nahen ein wütendes Gebell und Geheul. Bush erklärte, er entsinne sich keines Zeitpunktes in seiner Geschichte, da er von so großer Bedeutung gewesen und sich so allgemeiner Aufmerksamkeit zu erfreuen gehabt; er schrieb es alles dem Scharfsinn und der hohen Intelligenz der kamtschadalischen Gesellschaft zu, deren charakteristisches Merkmal sei, rasch und instinktiv hervorragenden Genius zu erkennen, und bedauerte, daß dies nicht auch bei anderen Völkern seiner Bekanntschaft der Fall sei. »Anspielung ist nicht beabsichtigt.« 34

 


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