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Der Sommerwind

Eins um die Frühlingsnachtgleiche, als das Wetter wie ein Meer über die Stadt hinbrauste, in den Telephondrähten kreischte, lag ich im Schlaf und hörte den nassen Wind übermütig durch alle Türen heulen, trunken von Hoffnung, außer Rand und Band von Reisewut, und wahrend ich schlief, stellte ich mir vor, wie das Land jetzt offen unter dem Frühlingssturm daläge und sich seinen wilden Liebkosungen entgegenbreitete, wie das schwarzblaue Tauwasser im Pflugsand, bald vom Wind, bald von der Sonne bewegt, sich schaudernd kräuselte, und wie die Krähen sich flach gegen den jungen, grünen Roggen drückten und dem Winde mit dem Rücken wehrten …

Plötzlich springt die Tür sperrangelweit auf, und das Zimmer wird von dem brausenden Wind in höchsteigener Person erfüllt, die Gardinen schlagen wie wildgewordene Segel aus dem obersten, offenstehenden Fenster hinter dem Wind her – ha, aber ich sah ihn, ich sah ihn, als ich aus dem Schlaf auffuhr, und im selben Augenblick raste er aus dem Fenster hinaus.

Es war ein junger, vollblütiger Bursche, dem nichts anderes Außergewöhnliches anhaftete, als daß er statt der Arme Flügel hatte, ein Paar mächtige Flugglieder, die die Luft mit solch explosivem Druck schleuderten, daß es wie Pistolenschüsse klang; er hatte sich in mein Schlafzimmer verirrt, wo er unter der Decke wild mit seinen Schwungfedern schlug, so daß kein Ding an seinem Platz blieb, und bevor es noch gedacht werden konnte, hatte er das offene Fenster gesehen und war echappiert, indem er mit einem gewaltigen Schlag die Flügel in ihrer ganzen Länge von der Schulter bis zu den Zehen an sich drückte und wie ein Torpedo durch die Fensteröffnung schnitt, die ihn mit knapper Not hindurchstreichen ließ.

Draußen im Raum sah ich in einem Lichtschimmer, der sich mit den Strahlen der zeitigen Morgensonne vermischte, wie er sich aus den Rucken legte, indem er noch immer wie ein Luftschwimmer die Flügel an sich drückte, wie er flüchtig lächelte und mit Windeseile lotrecht über die Straße schoß; dann öffnete er die großen, gelben Flügel, als wolle er alles, was es an Himmel und blauer Unendlichkeit und Wolken gab, an sich drücken, und im nächsten Augenblick wirbelt er in wilder Umarmung mit der Luft aufwärts und ist verschwunden.

Ein starker Geruch von dem Talg auf seinen Flügelfedern blieb im Zimmer zurück, ein Aroma, das an die fetten Knospen der Kastanienbäume erinnerte und an die ersten Maulwurfshaufen, die von der Sonne durchwärmt werden.

Und dann kam und ging der Sommer.

Einmal in der Eisenbahn, als ich irgendwo hinfuhr, brüllte jemand wie ein wilder Eber im Telegraphen, Sturmgesang, Freudengeheul, und ein nackter Sonnengott tummelte sich im Tanz mit den Dampfwolken der Lokomotive; es war der starke Juni, der Sommerwind auf dem Gipfel seiner Kraft, ganz toll vor Jugend.

Ein andermal fuhr ich irgendwo an der Küste von Nordseeland auf meinem Rad über einen Hügel, und plötzlich war mir, als ob jemand hinter mir ritte, jemand, in dem sich alles vereinigte. Ich merkte ihn durch den Duft des Ackersparkes, der brenzlig ist wie der Rauch von der Achse des Sonnenwagens, ich fühlte sein Wesen durch das unterirdische, schwere Scharren am Strande, wo die Kieselsteine auf dem Grunde unter den Wellen wie die Backenzähne der Erde gegeneinanderreiben.

Er war in der heißen Windstille, die einem um die Ohren weht, wenn man mit dem Sturm radelt, und er war in dem rieselnden Galopp des Kornes, das mir meilenweit übers Land folgte.

Er war in den Mohnblumen des Wegrandes, in ihrer errötenden und süßen Vergänglichkeit, er weilte flüchtig wie die gewitterblauen Schwalben auf den Telephondrähten, die tönten und auf denen eine kupferrote Flamme aufloderte und mit der Sonne lief; er war in dem tropischen Duft des blühenden Roggens und in dem Honiglüftchen aus dem Kleefelde, auf dessen Grunde Stare, Würmer suchend, umherwackelten. Heute aber brüllte er keine lachlustigen Lieder, er lag reich und still in allem, was da wuchs. Die Wolken brüteten gewitterschwanger über dem Sund und Schweden. Es war Juli. Und dann war auch der Juli vorbei.

Und nun heute abend, als ich bei geschlossenen Türen in der kalten Augustdämmerung dasaß, hörte ich es ganz leise und ohnmächtig durch das Schlüsselloch lange – schließlich ging die Tür von selbst auf. Sie öffnete sich ohne einen Laut, wie eine Tür sich bisweilen öffnen kann, sprang weit auf und gähnte mit einer großen Dunkelheit. Man meint, daß jemand hereinkommen muß, ein Gespenst, die Nacht, aber es ist nur der Zugwind, der hereinkommt.

Ja, er war es. Es war der Zugwind – alles was von dem stürmenden Sommer übriggeblieben war. Wie war er dünn geworden! Ich glaubte zuerst, daß es nur ein Streifen verirrte Gicht sei, die sich durch die Tür geschlichen hatte.

Die früher so prachtvollen Flügel umschlotterten ihn in einem traurigen Zustand von Zerzaustheit, aus dem die Knöchel, grell hervorstachen, er war naß, und sein ausgezehrter Körper spielte in allen Farben. Längs seiner armen Beine aber hatten sich dunkle Fetzen Flor festgesetzt, wie eine Art ätzenden Schimmels. Das war die Dunkelheit, die auf ihm zu wachsen begann.

Er schlich sich ins Zimmer, völlig außer Atem, nicht so, daß er nach Luft rang, sondern erschöpft, daß man weder sehen noch hören konnte, ob er atmete; man erriet seine Atemnot nur an dem leeren, hoffnungslosen Blick. Er legte sich geradeswegs auf die Erde nieder und streckte sich aus. Nach Verlauf einiger Minuten kam er mit einem tiefen, hoffnungslosen Seufzer wieder zu Atem, aber er blieb noch etwas liegen.

Und bevor er mich verließ, erzählte er mir seine Geschichte. Er konnte nicht schweigen, er mußte die unsagbar glückliche Erinnerung verraten, die ihn in hoffnungslosen Sturmreisen durchs Land und über die Belte und mit dem Regen weit über den Kattegat und die Nordsee und wieder zurückjagte. Plötzlich erhob er sich etwas vom Fußboden, sein leidendes Gesicht wurde von einem Lächeln erhellt, und dann mußte er es sagen. Ich will nicht verraten, was er mir in einem innig flüsternden Ton, das Herz in der Kehle, von einer verzweifelten, wunderbaren Schuld anvertraute, einer Kapitalsünde, die er im Korn, zwischen einem Urwald von Roggenhalmen mit Tausenden von blühenden Ähren überm Kopf begangen hatte. Kein anderer Laut von der Welt als die rieselnde See des Kornes war zu vernehmen gewesen. Doch, die Schwalben hatten es gesehen! Sie sangen krivit – krivit über dem üppigen Korn! Und nun die Folgen! Die Frucht! Er hatte sich natürlich aus dem Staube gemacht, aber darum war Jungfrau Erde nicht weniger trächtig, und der Herbst, der Herbst würde alles an den Tag bringen! .. wie gesagt, ich will seinen Kummer und seine Sünde nicht weitererzählen.

Aber nachdem er sich von seinem kolossalen Geheimnis entlastet hatte, versank er in tiefe Gedanken, schüttelte sachte den Kopf und bekam feuchte Augen. Ein heißer Dank durchzog sein Herz, wobei er sein ganzes übel zugerichtetes Gerippe wie einen Span im Feuer krümmte. Dann blieb er ruhig liegen.

In dem Glauben, daß er schliefe, wie er da lang hingestreckt auf dem Fußboden lag, erhob ich mich vorsichtig und schloß die Tür. Er aber hörte es, war wach und sah sich gefangen; mich hatte er ganz vergessen. Seine Augen, voll von schwacher, aber dennoch zwingender Reiselust, suchten die augustblauen Fensterscheiben, er glitt in die Luft, irrte umher, unruhig wie eine Larve, die sich verpuppen, die wandern muß, er strich über die Wände wie ein flackernder Schatten.

Und als kein anderer Ausweg da war, sah ich ihn vor das Schlüsselloch schweben und sich dünn machen, sich wie einen Streifen armselige Gicht strecken, bis er dünn genug war. Dann pfiff er mit einem Seufzer hinaus, langgezogen und einsam wie die dunklen Nächte, die nun herannahen.


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