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Der Kondignog

Ich bin einmal auf allen Vieren gegangen, und dessen erinnere ich mich bisweilen, wenn auch unklar in solchen Augenblicken, wo das Gefühl für die Zeit mich aus Müdigkeit oder Überanstrengung im Stich läßt. In meiner Jugend hatte der Tag oder das Jahr nicht denselben Wert für mich wie für Leute im allgemeinen; ich befand mich immer über oder unter, oder im Umkreis der gegenwärtigen Zeit. Nur einmal bin ich auf ganz unerklärliche Weise außerhalb der Zeit geraten, und zwar fühlte ich mich so durchgreifend isoliert, daß ich, ohne eigentlich Kummer darüber zu empfinden, mich auf die Vorderglieder legen und abseits gehen mußte, ins Freie hinaus, um Gras zu fressen, oder unter einen Busch, um zu sterben. Noch jetzt empfinde ich zuweilen den eigenartigen Kälteschauer, das innere, unendliche Gefühl der Verlassenheit, das mich wie ein Gift schüttelte, die seelische Übelkeit, die mich ganz kraftlos machte, bevor der Anfall kam. Noch heute rieselt es mir manchmal über den Rücken, wie es mir damals in meine Borsten kroch, ich fühle eine Art Erinnerung in meiner Haut an das beginnende und kalte Gefühl, an den tödlichen Anfall von »Gänsehaut«, womit es anfing, und dann weiß ich, daß es die Zeit war, die mich verließ, daß die namenlose Einsamkeit mir eine andre Haut gab und mich aus dem Dasein hinausführte, während ich gleichzeitig mitten drin blieb.

Wenn einst der bittre, unvermeidliche Schauder zurückkehrt, der letzte Kälteschauer in der Seele, bei dem man stirbt, dann werde ich meinen Zustand von damals wiedererkennen.

Es war in Madrid, mitten am Tage und im Sonnenschein auf dem Prado, als ich auf einer Bank saß und plötzlich verwandelt wurde, ohne daß ich oder irgend eine Macht der Welt es verhindern konnte. Ich war übrigens in einer ziemlich jämmerlichen Verfassung, hatte seit fünf Tagen nichts gegessen und mochte wohl für ein Krankenhaus reif sein. Mir aber schien es nicht, als ob mir etwas fehle, ich hatte alle meine Kräfte beisammen, und es behagte mir, hier so schweigend zu sitzen und die Leute im Sonnenschein an mir vorüberziehen zu lassen, Leute, die eine Sprache redeten, von der ich nur den Laut auffing. Ein Kennzeichen, daß ich nicht im Gleichgewicht war, bestand darin, daß der Tag mir ungewöhnlich wertvoll erschien, obgleich es nur ein ganz gewöhnlicher, sonniger Maitag war, mit Wärme am Morgen und zunehmender Hitze. Der Himmel war wolkenlos, aber weißlich unter der Herrschaft der Sonne, die Bäume auf dem Prado blähten sich in all ihrer neuentfalteten grünen Laubpracht wie Wesen, die um einander werben. Von den kreideweißen Häusern drüben auf der andern Seite des Alameda kam ein stechender Geruch von Kohlensäure, den die Sonnenhitze aus den Mauern lockte, und man konnte gleichzeitig einen leisen Hauch spüren, eine Kelleratmosphäre von den Steinen drüben, die noch Kälte in sich bargen und sie nun um sich verbreiteten. Ein Mann ging mit einem Kühler auf dem Rücken an den Bänken vorbei und bot Wasser feil, agua, sagte er und sah mich verständig, menschlich an – agua como la nieve, und ich weiß nicht, weshalb ich ihn wegen seines Blickes lieb gewann, weshalb ich mich so plötzlich und heftig zu dem einfachen Mann mit dem Wasserkübel hingezogen fühlte, daß ich hätte schreien und weinen können. Ach, und ich war so arm, daß ich nicht einmal ein Glas Wasser von ihm kaufen konnte. Während ich so dasaß, wurde ich immer mehr von stiller Liebe zu allem erfüllt, was ich sah, aber gleichzeitig wurde ich immer kränker. Nicht, daß mir etwas fehlte, aber ein versinkendes, ein hoffnungsloses Gefühl war mit dem Atmen verbunden, während die Zeit verging. Ja, während die Zeit verging. Es war, als sei ich es allein, der die Verantwortung trug, daß die Bäume so grün waren, daß die Sonne auf den Kies schien, daß der Springbrunnen so unaufhörlich irgendwo hinter dem Laub plätscherte … Wenn ich nun müde würde und versagte? Wenn die kleinen Kinder, die auf dem Kies dahintrippelten, stumm vor üppigem Wachstum, wenn niemand sie mehr lieb haben, wenn ich nicht mehr mit überquellendem Herzen und einem Meer von Freude auf den Lippen nach ihnen sehen würde? … Ja, dann würden sie wohl trotzdem dort trippeln. War ich es vielleicht, der sterben mußte und darum an all diesen kleinen, wunderbaren Dingen der Erde hing? Sterben … im Gegenteil, ich war ja von einer inneren göttlichen Kraft erfüllt, von einer panischen Schöpferkraft, die mich überall hinzuführen imstande war. Es war ein Schicksal in der Nähe, es lag etwas in der Zeit, nicht in der Luft. Ein andres Wesen rührte sich in meinem Innern, ich fühlte hin und wieder eine dunkle Qual, die umso unerträglicher wurde, als ich sie ganz gleichgültig kommen und gehen ließ.

In dem schmerzreichen Augenblick, als ich auf der Bank saß und die gegenwärtige Zeit mir zu entschwinden begann, war ich bei völlig klarem Bewußtsein. Ich dachte etwas Ähnliches wie: jetzt werde ich verrückt, oder jetzt sterbe ich, weil der Himmel eine andre Farbe annahm und ich ganz kalt wurde, während sich tausend feine Nadeln durch meine Poren zu ziehen schienen … O, jetzt konnte ich die Bäume nicht mehr sehen, ich war blind, und wo waren meine Hände? Übelkeit … es gingen krampfartige Zuckungen durch meine Eingeweide, ich merkte, wie mein Hals vornüberfiel – so schwer war also mein Kopf – der plätschernde Springbrunnen wurde zum Weltenmeer, das mir durch die Ohren sauste, ich war in der Ewigkeit, dem schneidenden Nichts, der Stille, die mir durch die Seele dämmerte … Und mitten in dieser grenzenlosen Ohnmacht war ich bei vollem Bewußtsein, hatte hin und wieder die Vorstellung, daß ich sehen konnte. Sah ich nicht Bäume mit den Augen, obgleich ich nicht lebte und es nicht erfaßte, saß ich nicht auf einer Bank? Vielleicht konnte ich leben, wenn ich es noch wollte, obschon ich abwesend war, gebunden, ohne Sinne, ohne Körper und Glieder … und doch immer bei vollem Bewußtsein. So verlassen war ich.

Da geschah es, daß ich mich auf allen Vieren niederlegte und zu gehen begann, um fortzukommen. Und indem ich mich fortbewegte, kehrten meine Sinne zurück. Noch klang es fern in meinem Kopf vom Ewigkeitssturm, aber im übrigen lebte ich wieder und fühlte mich als der, der ich war. Ich bewegte meine kurzen, dicken Beine und sah, daß sie so waren, wie sie sein sollten, schmutzig fleischfarben und mit schiefrigen Pigmentflecken hier und da, auch die Hornnägel an meinen roten Klumpfüßen kannte ich wohl. Ich fühlte meinen Schwanz, meine Flughaut und meine Mähne, ich öffnete und schloß meinen Mund mit den schuppigen Lippen, und konstatierte einen sehr echten Hunger.

Ob ich ein Drache oder ein Basilisk war? Nein, entschuldigen Sie, ich war ein Kondignog, eine recht seltsame Menscheneidechse, ein in allen Zeitperioden heimatloses Geschöpf. Ich hatte nichts Böses im Sinn, würde mich in der Wahl meiner Nahrung nicht irren oder etwas umstoßen, ich war auf einem Spaziergang begriffen und hatte mich auf den Prado verirrt, hatte aber selbst den Wunsch, mich wieder zu entfernen, wenn man mich nur passieren lassen wollte …

Noch erfaßte ich nicht mein Unglück. Erst als ich ein Stückchen gegangen war und dem Mann mit dem Tonkühler begegnete, wurde es mir klar. Er betrachtete mich mit genau demselben Blick wie vorhin und machte mich höflich auf das aufmerksam, was er trug – agua, senor … agua fresca – wie zuverlässig und alltäglich seine Stimme klang, ich habe sie nie wieder vergessen können, wie gutmütig sein einfältiges Gesicht unter den grünen Bäumen leuchtete … Er aber sah mich, den Kondignog, nicht; nicht die geringste Scheu in seinem Blick verriet, daß er mich für das Fabeltier hielt, zu dem ich geworden war! Ich selbst konnte ja an meinem Schatten sehen, wie es um mich stand. Es war mir ein bitterer Kummer, daß er mich nicht sehen konnte, wie ich wirklich war.

Viele Menschen, sowohl Herren wie Damen, gingen an mir vorbei und streiften mich mit einem Blick, ohne augenscheinlich etwas andres zu sehen, als daß ich ein menschliches Wesen war, wie sie selbst. Da wußte ich, daß ich verloren sei. Es siedete mir durch alle Nerven vor Schreck, ebenso wie vorhin, als ich verwandelt wurde, der Himmel veränderte seine Farbe, und statt der Häuser und Bäume schienen mir ringsum hohe, wehende Farngebüsche aufzutauchen und kupferfarbige Sumpflöcher gerade vor mir; der Anblick wich wieder, schien aber gleichsam in ahnenden Umrissen hinter den sonnenbeschienenen Häusern stehen zu bleiben. Ich atmete tief auf, und verließ die Stadt.

Draußen in den warmen Mondnächten, auf dem wüstentrockenen, weiten Land, das Madrid umgibt und wo nur Mohn wächst, fand ich meine Kräfte wieder und ergab mich in mein Schicksal. Dort hörte ich zum erstenmal meine richtige Stimme, in einer Mitternachtsstunde, als ich mein Maul zum Mond erhob und mich ausweinte; ich hatte eine tiefe, brüllende Stimme, ein Jammergeheul, das mich als Ausdruck für die Einsamkeit in der Welt ziemlich befriedigte. Wie mein Kopf aussah, das erfuhr ich niemals; ich hätte mich leicht in einer Pfütze spiegeln und mir auf diese Weise Gewißheit verschaffen können; aber das wagte ich nicht, ich wußte, daß ich außerdem noch genug Entsetzen zu tragen hatte.

Übrigens grämte ich mich nicht weiter; ich war ja selbst der Schmerz. In der Gestalt des Tieres, zu dem Schwermut und Angst mich verwandelt hatten, amüsierte ich mich während der öden Nächte recht gut. Ich verfiel darauf, zu spielen, unterhielt mich ganz allein im Mondschein mit den Fertigkeiten, die ein Kondignog besitzt, und über die ich zu meinem Staunen verfügte. Meine Kraft war phänomenal, und im Verhältnis dazu war ich geschmeidig; ich konnte Luftsprünge von zwanzig bis dreißig Metern Höhe machen, wobei ich mich sowohl meiner Flughaut wie meines Schwanzes bediente. Dieser Schwanz, mit dicken Hornknoten besetzt, war so kräftig, daß ich lange Löcher damit in die Erdkruste schlagen konnte. Wenn ich in die Höhe gesprungen war, machte ich mit einem Schlag in der Luft kehrt und hatte Zeit mich umzusehen, wo ich landen wollte, bevor ich wieder herunterkam. Einmal stürmte es, da begann ich zu bellen und in den Staubwolken zu galoppieren, bald in der Luft und bald auf der Erde; bevor ich es selbst recht wußte, war ich auf dem besten Wege nach der Sierra de Guadarama – Himmel und Hölle, wie war es herrlich, seine Kräfte so auszutoben, ich flog mehr als ich sprang, und bei so einem gewaltigen Flugsprung landete ich nicht auf der Erde, sondern in einem kleinen Binnensee … Oh, das war gar nicht unangenehm, denn ich schwamm ja wie ein Wesen, das nie ein andres Element wie das Wasser bewohnt hatte, ich schlug den ganzen See zu Schaum, kreiste auf einer Stelle herum, bis der Grund bloß lag und der See über seine Ufer trat, galoppierte darauf weiter in die Berge hinauf und wieder herunter, tat bisweilen einen Sprung von mehreren hundert Metern Tiefe die Abhänge hinab, landete immer auf meinen vier soliden Beinen und konnte jeden Stoß vertragen, ob ich auf Felsen oder auf weichen Boden fiel. Ich fand Geschmack daran, mich zu tummeln, ich sprang ins Meer, bei Gewitter, bei Nebel, ich vermischte meine Flughaut und meine Mähne mit den Wolken, schnappte nach den Hagelkörnern in der dünnen Luft, setzte in fliegenden Känguruhsprüngen über Wälder … Und immer sehe ich blitzartig die eigentliche Wirklichkeit hinter den Dingen, in denen ich lebe, andre Farben, andre Gewächse, Schattenrisse im Nebel, wie von turmhohen Schachtelhainen in einer dampfenden Atmosphäre, blaue Spiegelungen von Seen, worin es kochend brodelt wie von heißen Steinen auf dem Grund, Wirbel von springlebendigen Wolken am Himmel, um das blendende Feuer der Sonne herum, … bis ich die Küste erreiche und mich von den Klippen in die Brandung stürze. Ich streife meilenweit im Atlantischen Ozean umher, streite mich mit den grünen Wogen, hüpfe hoch daraus empor, um den Mond zu erreichen, und grabe mich tief, tief, tief zu der ewigen Wassermacht des Grundes hinab, wo das Element wie ein bleiernes Gewand drückt, und wo blinde Ungeheuer, halb Pflanze und halb Tier, das schleimige Maul nach aufwärts gerichtet, hin- und herwogen, während sie das schwarze Wasser durch ihre Kiemen trinken. Ich lasse mich weit draußen treiben, bis die Flut mich weckt und mich an das Land erinnert, ich sehe große, dunkle Dinge tief drunten in dem glasgrünen Wasser dahinziehen, Walfische, oder sind es die Schatten der formlosen Meerungeheuer einer andern Welt? Ich werfe mich zwischen schäumenden Wellenköpfen hin und her, die sich berghoch erheben und wieder gewichtlos verschwinden, ich lege mich mit meiner ganzen gespreizten Flughaut über die Sturzseen, bis jeder zitternde Tropfen im Meere dem feinsten Pulszweig meines Blutes zu begegnen scheint, schließlich gehe ich an Land und sitze vor Entzücken jammernd am Strande, rufe und brülle lange zum Sonnenuntergang hinüber, weine tranige Tränen und befinde mich außerordentlich wohl dabei.

Jetzt aber wanke ich wieder auf den nackten, sonnenbeschienenen Feldern in Madrids Umgebung umher, oder ich trotte mit meinen Klumpfüßen auf den Fußsteigen der Stadt, wobei mir die Flughäute zwischen den Beinen schlottern, Straße auf und Straße ab, und suche den Blick jedes Menschen, der mir begegnet, sehe tausend verschiedenen Menschen in die Augen, ob es nicht einen einzigen darunter geben sollte, der mich kennt, der mich sieht; alle aber begegnen meinem Blick ohne ihre Miene zu verändern, alle sind dem Kondignog gegenüber blind. Und ich weiß, daß es meine einzige Rettung ist, wenn ein Mensch, ein ganz gewöhnlicher Mensch mich sieht, wie ich bin, dann wird die Verzauberung weichen, früher nicht. Ich finde keinen. Trotzdem kann ich Madrid nicht verlassen, denn es will mir scheinen, daß ich hier, wo ich verwandelt worden bin, meine menschliche Gestalt zurückerlangen muß. Hier bin ich der Zeit verlustig gegangen, und hier muß sie mir zurückgegeben werden.

Inzwischen hungre ich noch immer, denn in der Welt, in der ich lebe, gibt es keine Nahrung für mich, und die andre Wirklichkeit, die eigentlich zu mir gehört, kommt mir nie so nah, daß ich in sie eingehen kann – glücklicherweise, denn nur in den Augenblicken großer panischer Angst rückt sie mir nahe; es ist, als müsse ich noch einmal sterben, um in sie einzugehen. Hin und wieder kommt es wie ein Schwindel über mich, und dann treten die Farnengebüsche über meinem Kopf auseinander, dann sehe ich etwas wie dunkle Flecke im Tageslicht, Schatten von den Raubungeheuern einer andern Welt, ich sehe, wie sie zueinandergleiten, und höre Laute, als ob sie düster husten und die Erde scharren – ich muß alle meine Kräfte zusammennehmen, um zu bleiben, wo ich bin. Bei plötzlichen Wendungen sehe ich einen Schimmer von olivengrünen Hälsen und Köpfen mit Entenschnäbeln, die sich wie Fabrikschornsteine über die Häuser der Straßen recken … Soll ich bei denen enden, soll ich Tausende und aber Tausende von Jahren zurückversinken, bis ich meine Heimat als Kondignog gefunden habe? Begegne ich niemand, der mich sieht und mich erlöst und mir meine menschliche Gestalt zurückgibt?

Ich habe auf einem Schneegipfel in der Sierra de Guadarama gesessen und mich mit dem jammervollsten Konzert unterhalten, das jemals aus der Kehle eines unseligen Geschöpfes gedrungen ist, ich habe die einsamen Tränen des Kondignogs vergossen, die am besten zu wilden Gegenden passen. Bisweilen sehne ich sie wieder herbei.

Außerhalb von Madrid liegt auf dem kahlen Felde ein Pulverturm, in der Nähe eines halbausgetrockneten Teiches, und dort fand ich meine Erlösung.

Ich hatte den Ort liebgewonnen, weil es dort so nach Einsamkeit roch. Der Teich lag immer still wie ein Metallspiegel in seiner Einfassung von rissigen Lehmufern da, das Wasser sonderte eine dünne Haut von Schlamm und Salz auf den spärlichen Grashalmen ab, die darauf wuchsen, und der Wasserspiegel rauchte immer mit einem bittern Dunst unter der Strahlenwärme der Sonne. Dicht dabei lag das Pulvermagazin, ein fensterloses, blindes Haus von Zement mit verrosteten Eisenbolzen. An seinem Fuß wuchsen große Kletten mit Spinngeweben in den scharfen Samenständern; das Ganze roch so öde. Und in weiter Ferne hinter den unfruchtbaren, mohnbewachsenen Lehmfeldern erhoben sich die Vorposten von Madrid, hohe, klotzige Arbeiterkasernen und Fabriken, den Rauch der Stadt über sich im Sonnendunst.

Hier ließ es sich gut sitzen, mitten im schwirrenden Sonnenschein, der die Welt nach allen Seiten bloßlegte.

Und hier sah ich eines Mittags, als ich mich dem Ort näherte, einen feuerroten Punkt, wie eine riesengroße Mohnblume. Alles war Sonnenschein, alles lag im offnen, blendenden Licht; nur ich brachte Dunkelheit mit mir, wo ich ging. Was war das für eine feuerrote Riesenblume, die sich am Ufer meines Teiches entfaltet hatte? Ich setzte mich in Trab, schlug die trockne Erdkruste mit meinem Schwanz, daß es dröhnte, tanzte auf meinen roten Klumpfüßen … was war es für eine große, gaffende Mohnblume, die an meinem Teich stand?

Es war ein roter Rock. Ein junges Weib saß am Ufer des Teiches, ein armes, obdachloses Mädchen, das wahrscheinlich aus einem der elendesten Hinterhöfe von Madrid stammte und eine Umherstreiferin geworden war wie ich selbst. Sie war achtzehn Jahre, dünn wie ein Weidenzweig, aber mit dickem, schwarzem Haar, das unbedeckt in der Sonne glänzte. Sie hatte ihre noch kindlichen, verhungerten Züge blau geschminkt, wie vornehme Spanierinnen es zu tun pflegen, aber ihre Blässe konnte dadurch nicht verdeckt werden. Sie saß ganz still da, hatte sich wohl aus Hunger niedergesetzt. Vorher aber hatte sie sich diesen Platz ausgesucht, meinen Platz! Ich konnte ihr ansehen, daß ihre Eingeweide vor Hunger schrien, ebenso wie die meinen … sie hatte eine Winde gepflückt und hielt sie in ihrer schlaffen Hand; sie war wahrscheinlich auf deren reichen, metallischen Duft aufmerksam geworden, weil die Not ihre Sinne empfänglich und dankbar gemacht hatte. Consuelo hieß sie.

Consuelos Augen, die so traurig leer und unschuldig waren, wie die eines Kindes, für das es keine Sünde gibt, und so verzagend, wie die Augen derjenigen, die in der Sonne sitzen und hungern, begegneten den meinen, und sie erkannte mich gleich. Was intelligente und allwissende Männer in Madrid nicht sehen konnten, wofür gefühlvolle Damen blind waren, das verstand dieses arme, leidende Proletarierkind, das durch das Hungerfieber sehend geworden war. Wir waren beide gleich verzweifelt. Sie erkannte mein ganzes Elend als Kondignog. Ich wälzte mich vor ihr auf der Erde in einem Sturm von Schmerz … und während sie mir in die Augen sah, fühlte ich, wie meine menschliche Gestalt zurückkehrte, ich war gerettet.


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