Wilhelm von Humboldt
Wilhelm von Humboldt im Verkehr mit seinen Freunden
Wilhelm von Humboldt

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Staatsmann in der Notzeit des Vaterlandes (1808–1819)

An F. G. Welcker.Welcker war 1806–1808 Hauslehrer bei Humboldts in Rom. Darüber hinaus blieb er ihnen zeitlebens in anhänglichster Freundschaft verbunden. W. wirkte als Schulmann und Professor in Gießen.

Ferrara, 20. Oktober 1808.

Ich habe den großen Schritt über Ponte Molle getan, wie Sie sehen, liebster Welcker, und bin den letzten Schritten aus Italien sehr nahe. Es fällt mir mit vieler Rührung in Ihrem Brief vom 12. August, den ich eben wieder überlese, auf, daß Sie mir einen leichten Abschied wünschen; leicht, Lieber, kann er nicht sein, wenn man von allem scheidet, was man liebt. Die Notwendigkeit der Gegenwart und die Hoffnung der Zukunft bleiben da die großen Göttinnen, von denen die eine schlecht tröstet und die andere oft täuscht. Das habe auch ich gefühlt. Es hat mich tief geschmerzt, meine Frau auch nur auf Monate zu verlassen; die heftige und rührende Anhänglichkeit der Kleinen, die sich nie so gezeigt hatte als in den letzten Monaten, und die stille Karolinens haben mir das Weggehen sehr sauer gemacht, und nun dazu Rom und die Gegend, an die ich vieles in mir geknüpft und die vieles in mir entwickelt hatte. Mit jedem Tage meiner Reise ist der Schmerz und die Sehnsucht gewachsen, und doch ist mir noch oft, als wären beide noch gar nicht, was sie sein sollten; als würde noch einmal so das schreckliche Gefühl kommen, so die recht innige Einsicht, daß es nun nicht mehr möglich ist, die Kolosse zu sehen, nach dem Vatikan zu gehen, den Aventin zu besuchen. Indes denke ich gewiß und selbst fast ohne allen Zweifel, im April oder Mai zurückzukehren. Nur ist alle Zukunft so ungewiß, und alle Ungewißheit in dem, was einem so unendlich angelegen und teuer ist, so peinigend. Dabei gehe ich doch nicht ohne Interesse und nicht ohne Liebe nach Deutschland. Ich liebe Deutschland recht eigentlich in tiefer Seele, und es mischt sich in meine Liebe sogar ein Materialismus ein, der die Gefühle manchmal weniger rein und edel, aber darum nur stärker und kräftiger macht. Das Unglück der Zeit knüpft mich noch enger daran, und da ich fest überzeugt bin, daß gerade dies Unglück Beweggrund werden sollte, für die einzelnen, mutiger zu streben, für alle, sich mehr zu fühlen, so möchte ich sehen, ob die gleiche Stimmung auch bei andern herrschend wäre, und dazu beitragen, sie zu verbreiten. Was mich schmerzt, ist, daß ich bei dem Wege, den ich, da meine Geschäfte äußerst dringend sind, habe nehmen müssen, nicht hoffen kann, Sie, mein Liebster, zu sehen. Überall bin ich zu weit von Gießen ab, um Sie veranlassen zu können, zu mir zu kommen, oder Sie selbst bei sich aufzusuchen. Theodor, der mit mir reist, hat schon auch viel davon geredet und viele Projekte gemacht; aber ich sehe die Möglichkeit nicht ein. Ich werde übrigens vermutlich oder vielmehr gewiß am 30., 31. in München sein, da drei bis fünf Tage bleiben und dann über Bamberg nach Erfurt zu meinem Schwiegervater reisen, an den ich Sie bitte, Ihre Briefe für mich zu adressieren. Wie ich es mit Theodor einrichten werde, weiß ich noch nicht. Am liebsten brächte ich ihn mit einem brauchbaren Menschen, der ihn erzöge, zurück. Aber wie einen solchen finden? – Im April oder Mai denke ich selbst zurückzureisen, und dann hoffe ich, einen Weg nehmen zu können, der mich zu Ihnen selbst oder wenigstens in Ihre Nähe führt. Karolinen habe ich für das Griechische in Zoegas Hände gegeben, und, obgleich er ein wenig darüber den Kopf schüttelt, daß ich nicht die Aorista und Futura usf., die man gewöhnlich an eine Form klebt, in ein Schema zusammengepreßt, so hat er eine besondere Freude an ihrer Art zu lesen, und findet, wie auch wahr ist, daß sie viel Wörter weiß. Da er auch der Manier, mit ionischen Schriftstellern anzufangen, nicht hold ist, wird er recht bald zu attischen übergehen. Im Hause bei meiner Frau sind Crelius und Küster, der schon in Albano mit uns wohnte, geblieben. Beide übernehmen den Musikunterricht, und Crelius wird sich noch außerdem mit den beiden Kleinen beschäftigen. Adelheid singt ihre Skala schon recht gut und wird nun mit Rauch zeichnen. In Theodor ist noch immer das seltsame Phänomen großer Wißbegierde und großer Lernscheu zugleich vorhanden. Mit Vergnügen bemerke ich noch oft, und noch in diesen letzten Tagen, viele sichtliche Spuren Ihres Umgangs und Ihrer Beschäftigungen mit ihm. Crelius hat ihn wirklich mit eiserner Geduld in die Paradigmata der Deklinationen und Konjugationen eingeweiht, aber sonst schwerlich viel in ihm zurückgelassen. Seine ganze künftige Bildung wird jetzt sehr von der Wendung abhängen, die er nun einnehmen wird. – Ich, mein Liebster, habe ein neues Gedicht, ungefähr in gleichem Umfange mit »Rom«, gemacht an Alexander, eine Art Antwort auf seine Dedikation der Naturansichten an mich. Ich habe gesucht, die alte und die neue Welt, und in beiden die Kunst und den Menschen und die rohe blinde Natur einander gegenüberzustellen und Blicke auf die Schicksale der Nationen und Weltteile zu werfen. Aber der Stoff war für meine Kräfte zu widerstrebend und ich fürchte, er ist nicht genug poetisch geworden. Auch trägt das Gedicht wohl Spuren der Eile an sich, da ich es in acht Tagen gemacht. Auch in den Strophen habe ich etwas Neues versucht. Ich schreibe Ihnen zum Scherz die letzte hierher:

Glücklich bist du gekehrt zur Heimaterde,
Vom fernen Land und Orinokos Wogen.
O! wenn – die Liebe spricht es zitternd aus –
Dich andern Weltteils Küste reizt, so werde
Dir gleiche Huld gewährt, und gleich gewogen
Führe das Schicksal dich zum Vaterherde,
Die Stirn von neuerrungnem Kranz umzogen.
Mir gnügt, im Kreis der Lieb', im stillen Haus,
Daß mir den Sohn zum Ruhm dein Name wecke,
Mich einst ein Grab mit seinen Brüdern decke!

Hiermit, mein Liebster, als mit dem schönsten Wunsch, den ein Mann, der schon bis Ferrara verschlagen ist, fassen kann, lassen Sie mich diese Zeilen schließen. Verzeihen Sie, wenn ich heute nicht Ruhe genug gehabt habe, eigentlich den Inhalt Ihres Briefes zu beantworten, der mich sehr interessiert hat, den ich sehr wahr halte und auf den ich öfter allein und mit Ihnen gern zurückkehren werde.

Ewig Ihr H.

An Karoline.

Erfurt, 19. November 1808.

... Goethe war äußerst freundschaftlich und herzlich gegen mich, aber sonst in keiner guten Stimmung in den beiden Tagen. Er hat unendliche Trakasserien wegen des Theaters, und was wirklich schrecklich ist, so war ihm gerade, als ich da war, vom Hofe erklärt worden, er solle zwar die Theaterdirektion behalten, aber sich nicht mehr darum bekümmern, was ihn sehr verdroß. Goethe hat eine lange Unterredung mit dem französischen Kaiser gehabt, von der er sehr voll ist. Schlicht historisches Erzählen ist, weißt Du, seine Sache nicht. Aber Werthers Leiden und französische Bühne sind die Hauptgegenstände der Unterhaltung gewesen. In Werthers Leiden hat der Kaiser eine Stelle getadelt, die, nach Goethes Versicherung, allen übrigen Lesern entgangen ist. Es ist, sagt Goethe (die Stelle selbst wollte er nicht anzeigen), eine, wo er die wahre Geschichte und die Fiktion aneinander genäht hat, wo er die Verbindung mit großer Kunst gemacht zu haben glaubt, wo indes der Kaiser doch etwas Spielendes bemerkt hat. Das französische Theater soll der Kaiser unglaublich genau von Vers zu Vers kennen und nicht so unbedingt verehren. Vorzüglich streng soll er in der Beurteilung der Konsequenz der Charaktere und in der Gegeneinanderhaltung der historischen und poetischen Motive sein. Am meisten aufgefallen ist Goethe an ihm, daß er, auch in poetischen und literarischen Dingen, nie etwas getadelt hat, ohne gleich zu sagen, was an die Stelle gesetzt werden müßte; wirklich ist auch bei Dingen, wo es auf Handeln ankommt, nichts so desolant, als wenn man nur immer anzugeben weiß, was nicht recht ist. Unendlich weh tut es einem, daß Goethe nicht wegen des fremden Einflusses, sondern wegen des inneren Unwesens an allem literarischen Heil in Deutschland verzweifelt. Jeder, sagt er, will für sich stehen, jeder drängt sich mit seinem werten Ich hervor, keiner will sich an eine Form, eine Technik anschließen, alle verlieren sich im Vagen, und die das tun, sind wirklich große und entschiedene Talente, aus denen aber eben darum schlechterdings nichts werden kann. Er versichert darum, daß er sich nicht mehr um andre bekümmern, sondern nur seinen Gang gehen wolle, und treibt es so weit, daß er versichert, der beste Rat, der zu geben sei, sei: die Deutschen, wie die Juden, in alle Welt zu zerstreuen, nur auswärts seien sie noch erträglich. Ich habe ihm gesagt, daß ich für mich das schon angefangen habe, und daß er nur zu uns kommen dürfe, um es auch an seinem Teil zu vollenden. Seinen Faust hatte ich hier, noch ehe ich nach Weimar ging, gelesen. Er hat vier an niemand gerichtete Zueignungsstrophen, die ich Dir, weil sie in der Tat wunderschön sind, in Abschrift zuschicke. Darauf kommt ein Vorspiel und ein Prolog. In diesem unterhalten sich die Erzengel, Gott der Vater und Mephistopheles, der die Szene mit den Worten beschließt:

Von Zeit zu Zeit seh ich den Alten gern
Und hüte mich, mit ihm zu brechen;
Es ist gar hübsch von einem großen Herrn,
So menschlich mit dem Teufel selbst zu sprechen.

Dann folgt das Stück. In diesem sind nicht bloß hinten Szenen angehängt, sondern auch in der Mitte eingeschaltet, wie z.B. die, welche er uns vorlas. Ausgelassen ist, soviel ich ohne Vergleichung bemerkt habe, nichts. Es sind himmlische neue Szenen, vor allem die letzte, wo Gretchen als Kindmörderin im Kerker sitzt, Faust sie mit Mephistopheles zu retten kommt, sie aber solche Hilfe ausschlägt, durch eine Stimme von oben von der Verdammnis gerettet wird, Mephisto aber mit Faust abfährt. Gegen das Ende ist eine Blocksbergszene und ein Marionettenspiel daselbst, die füglich hätten wegbleiben können, wo wieder die Xenien, Nicolai und sogar Tegel vorkommen.

Vorgestern abend, als wir bei Goethe waren, las er uns eine Art Märchen vor. Aber leider fielen Karoline und mir gar sehr die Ausgewanderten dabei ein. Es ist eine der Kompositionen, die nur zum Ausruhen bestimmt sein können. Vieles von dem Neuen im Faust ist uralt. Die letzte Szene ist 30 Jahre alt, aber es hatte nie ein Sterblicher sie gesehen. Goethe hat noch mehr Szenen, die ein andermal werden eingeschaltet werden ...

An Jacobi.

Erfurt, den 21. November 1808.

... Von Erfurt werden Sie nicht erwarten, daß ich Ihnen etwas sage. Nicht leicht mag es in Deutschland eine zweite solche Gedankenöde, einen solchen Todesschlummer aller geistigen Kraft geben. Aber ich war in Weimar und sah Goethe zwei Tage lang, sprach viel von Ihnen mit ihm und soll Sie herzlich von ihm grüßen. Ich fand ihn wohl, und wie Sie ihn kennen, beschäftigt, indes ziemlich zornig über so manches literarische Unwesen in Deutschland. Er klagt so ernstlich über Anarchie, Formlosigkeit und Mangel an Technik in den neuen Poeten und Autoren, daß es ihn doppelt verdrießt, so viel wahres Talent in ihnen zu finden und zu Grabe gehen zu sehen, und daß er nah daran ist, mancherlei Beschränkungen, die jenseits des Rheins Mode sind, wenigstens nicht sonderlich zu tadeln. Übrigens fährt er fort, um sich her, soviel er kann, zu wirken, und liest z. B. alle Mittwochvormittag einem ausgewählten Zirkel, unter dem sich auch die Herzogin befindet, die Nibelungen vor. Mit dem Kaiser Napoleon hat er eine lange Unterredung gehabt, über seinen Werther und das französische Theater. Über den ersteren, versichert er, habe der Kaiser sehr wahre, frappante und ihm sonst nie vorgekommene Bemerkungen gemacht; das letztere kenne er bis zur Bewunderung genau und habe alle historischen und poetischen Motive der bekanntesten Stücke bis in ein ungeheures Detail hinein verfolgt. Sehr viel haben wir auch Bettinas erwähnt, die er nach Würden, wie wir, schätzt. Sagen Sie ihr das, liebster Jacobi, und erhalten Sie mein Andenken bei ihr, wenn in diesen ewigen Wellen irgend etwas zu erhalten ist.

Von der Zusammenkunft der Kaiser hat man hier eine Menge, aber größtenteils unmerkwürdige Anekdoten. Eine interessante ist mir die gewesen, daß der Kaiser das Schlachtfeld von Jena nicht gleich wiedererkannt und sich mit Mühe darauf orientiert hat. Den Moment zu benutzen und den vorhergehenden immer im gegenwärtigen untergehen zu lassen, habe ich immer für das echte Gepräge des praktischen Genies gehalten ...

An Karoline.

Erfurt, 7. Dezember 1808.

... Ich habe diesmal bei Goethe gewohnt, und er war außerordentlich freundschaftlich, vertraulich und herzlich. Ich bewohnte eine seiner sogenannten Putzstuben im ersten Stock und Theodor mit Zimmermann eine mit einer Kammer im zweiten neben Riemer. Die Händel mit dem Theater dauern noch immer fort und haben dem armen Goethe nun schon volle vier Wochen Unruhe gekostet, in denen er schlechterdings nichts hat vornehmen können. Er möchte es dahin bringen, daß Oper und Schauspiel getrennt und letzteres ihm allein überlassen würde. Allein der Herzog wird diesen Vertrag schwerlich eingehen, und vermutlich geht Goethe ganz vom Theater, das dann in weniger als nichts zerfallen wird, ab. Vermutlich gewinnt aber dann dabei das Publikum. Denn er freut sich schon jetzt, dann mehr arbeiten zu können, und denkt auf eine Fortsetzung der natürlichen Tochter, zu der schon alles fertig liegen soll. Die Geheimrätin,Christiane Vulpius; die bürgerliche Ehe schloß Goethe mit ihr 1806 (19. Okt.) in der Schloßkirche zu Weimar. die jetzt von Frankfurt a. M., wo sie wegen des Nachlasses der verstorbenen Mutter Goethes war, zurückgekommen ist, ist ein ganz leidliches Wesen, und Goethe tut alles, um zu machen, daß die weimarschen Damen mit ihr umgehen sollen. Karoline tut es ohne Anstand, da sie mit Recht sagt, daß sehr viele von jeher aufs rechtmäßigste verheiratete Damen um kein Haarbreit amüsanter sind, und andere folgen ihr. Goethe ist darum auch äußerst gut mit Karolinen und lobt sie über alle Maßen. Für Theodor hat die Geheimrätin wirklich zärtliche Sorgfalt gehabt.

In Weimar war ich auch, und wirklich mit recht viel Freude zum ersten Male in Deutschland im Theater. Es war Schillers Tell. Das Spiel war nicht eigentlich vorzüglich, da kein recht ausgezeichnet großes Talent da ist. Aber der Tell wurde doch recht gut vorgestellt; Schiller hat ihn noch dem Schauspieler einstudiert, und im ganzen sieht man, daß Goethe die Sache versteht. Da Talma und die übrigen französischen Akteurs hier in Erfurt und ein paarmal auch in Weimar gespielt haben, so ist wieder im Publikum viel Gerede über den Vorzug von Deutschen und Franzosen entstanden, und Du kannst denken, daß die letzteren viele auf ihrer Seite haben. Auch mein Aufsatz in den Propyläen ist bei dieser Gelegenheit wieder in Anregung gekommen und in einer Beschreibung der berühmten Zusammenkunft neu abgedruckt worden.

An Karoline.

Weimar, den 28. Dezember 1808.

Ich bin seit dem ersten Weihnachtsfeiertag hier, liebe Li, und wohne bei Goethe, der Dich sehr grüßt und oft mit recht eigentlicher Liebe von dir spricht. Karoline sehe ich alle Morgen, da ich meistenteils bei ihr frühstücke, und so geht mir das Leben so hin, daß mir zum Schreiben recht wenig Zeit übrig bleibt. Ich habe hier erst Goethes neuestes Produkt, Pandoras Wiederkunft, kennengelernt. Er hat es uns bei Karolinen vorgelesen. Es ist erst die Hälfte fertig, in welcher nur erst die weggegangene Pandora betrauert wird. Von dieser Hälfte ist wieder etwa die Hälfte in einem Journal »Prometheus« gedruckt, die andere noch Manuskript. Es ist eine der wunderbarsten Produktionen, aber der allerschönsten und größesten. Die Hauptsache beruht auf dem Kontrast der beiden ungleichen Brüder, des kalten, rastlosen, gewerbfleißigen Prometheus und des empfindsamen, unglücklichen und müßigen Epimetheus. Dieses letzteren Frau ist Pandora gewesen, die ihn verlassen hat. Er hatte mit ihr zwei Töchter, Elpore (Hoffnung) und Epimeleia (Fürsorge). Beim Scheiden hat sie ihn genötigt, zwischen beiden zu wählen und eine zu behalten, eine ihr zu lassen. Er hat Epimeleia gewählt. Nun erscheint ihm Elpore nur von Zeit zu Zeit auf Augenblicke. Das Neue und Schöne ist, daß alle Urtöne der Leidenschaften, der Gefühle, alle Elemente der menschlichen Gesellschaft darin vorkommen und mit einer Reinheit, ja man kann sagen Nacktheit dargestellt sind, daß daraus selbst eine ungeheure Größe hervorgeht. Dann ist die Sprache, die in den verschiedensten Silbenmaßen abwechselt, himmlisch. Wenn ich kann, lasse ich Dir bis morgen noch etwas daraus abschreiben. Goethe selbst hat mich ausdrücklich gebeten, Dir etwas davon zu schicken.

Mit des armen Schillers nachgelassenen Papieren beschäftige ich mich des Morgens mit der Wolzogen. Es ist höchst merkwürdig zu sehen, mit welch großer Sorgfalt er gearbeitet hat. Der Plan mehrerer Stücke ist sehr ausführlich da, von einem besonders, von dem auch zwei Akte ausgearbeitet sind. Demetrius, eine russisch-polnische Geschichte. Ein Monolog, das letzte, was er schrieb, ist sehr schön. Noch im Delirium seiner Krankheit hat er sich unglaublich viel mit dem Stück beschäftigt, und einige seiner letzten Worte sind gewesen: »Ist das euer Himmel? Ist das eure Hölle?« Es ist zweifelhaft, ob er dies in eigener Wahrheit oder wie im Stück gesagt, doch hat er überaus heiter und verklärt dabei ausgesehen. Er bleibt der größte und schönste Mensch, den ich je gekannt; wenn Goethe auch noch dahingeht, dann ist eine schauerliche Öde in Deutschland. Doch ist der jetzt überaus wohl.

... Stell' Dir nur vor, als ich gestern hier bei Hofe esse, bringt mir der Herzog die Liste, von der ich Dir hier Abschrift schicke, mit und fragt mich, ob meine ErnennungDie Kabinettsorder mit Humboldts Berufung hatte der König am 15. Dezember erlassen, die Entscheidung über die Annahme aber Humboldt anheimgestellt. wahr ist. Seitdem weiß sie die ganze Stadt, und ich habe den Ekel, sie von allen Ecken widerschallen zu hören. Ich leugne Dir nicht, liebe Li, daß es mich sehr trüb macht. Kann man Gutes zu wirken hoffen in dieser Lage? Opfert man nicht bloß sich ohne reellen, viel weniger ohne großen Nutzen? Alles das geht mir entsetzlich im Kopf herum, und ich weiß noch nicht, ob ich nicht entschieden, was auch daraus werden möge, nein sage. Aber ich fürchte das Geschrei von Undankbarkeit, Mangel an Vaterlandsliebe, Verlassen der Unglücklichen. Ich fürchte, man wird sagen, der Posten, zu dem man mich rufe, sei welcher er wolle, so sei ja damit nicht gesagt, daß ich sonst keinen Einfluß haben werde; es sei der erste Schritt zu jedem anderen; wenn ich nicht annehme, entziehe ich mich nicht bloß diesem Geschäft, sondern aller Teilnahme an der jetzigen, in hohem Grade sorgenvollen Lage. Und Wahrheit ist freilich unleugbar darin. Man tut im Leben oft etwas anderes als das, wozu man ursprünglich berufen war, und wirkt oft schon durch seine bloße Gegenwart. Ich werde also vorzüglich meine Aufmerksamkeit darauf richten, ob man in der Tat Vertrauen auf mich setzt, ob dem König, seiner Umgebung an meinem Bleiben gelegen ist. Ist das, so nehme ich an; im entgegengesetzten Fall reiße ich mich, sei es auch mit einiger Gewalt, los. Was mir von allem das Schmerzhafteste ist, das ist, liebe Li, daß ich Dich selbst bitten muß, Deine Lage der meinigen nachzugeben und noch in Italien zu bleiben. Dies Frühjahr könntest Du so nicht kommen, und den Herbst würde ich es für die kleinen Mädchen besonders sehr fürchten. Die armen holden Geschöpfe sollten einem eisigen Himmel im Winter entgegengehen? Auch Dir selbst wäre es sicherlich nicht gut. Bleibe also und erhalte auch mir eine Zuflucht dahin. Haben wir uns ganz verpflanzt, dann ist die Rückkehr in vielfacher Rücksicht unglaublich schwer. Wie die Sachen stehen, kann ich nicht hoffen, im Frühjahr zurückzukommen. Selbst, wenn ich den möglichen Ausweg fände, wenn ich mich losmachen könnte, würde es immer länger dauern; man würde doch vermutlich darauf bestehen, daß ich erst einen neuen Mann ausfindig machen sollte, daß ich selbst noch die ersten Einrichtungen träfe. Daß es sich mit Dir bis zum Frühjahr 1810 hinziehen läßt, bin ich gewiß. Auch wüßte ich wahrlich nicht, was man in Deutschland machen wollte. Man muß hier sein, um die Torheit zu fühlen, die es ist, von Rom wegzugehen. Über die Finanzen kann ich Dir jetzt, liebe Li, noch nicht bestimmt schreiben. Muß ich fürs erste bleiben, so gebe ich Dir das ganze Gehalt, liebe Seele. Es hängt natürlich ganz von Dir ab, welche Einschränkungen Du machen willst. Nur bitte ich Dich inständigst: die Pferde behalte im alten Glanz. Es ist schon nicht anständig, sie abzuschaffen. Es gibt andere Dinge, durch die Du viel besser sparen kannst. Du kannst zum Beispiel anfangen, nach und nach nicht mehr zu Tisch zu bitten, und mußt besonders, wodurch bei uns sehr viel erspart wird, schlechterdings niemandem mehr leihen; eine Menge halb erzwungener und unvermeidlicher Geschenke und Almosen fallen auch hinweg, und im ganzen muß einige Ersparung doch durch meine Abwesenheit bewirkt werden. Den Finanzen ist die neue Anstellung immer gefährlich.

Die Nächte sind mir jetzt über alles lieb. Da denk ich, so lang und oft ich wache, unaufhörlich an Dich, und bin dem Tag oft am Morgen gram, daß er mich aus diesen wehen Träumen reißt ...

Berlin, 11. März 1809.

... Jetzt ist eine Verordnung hier herausgekommen, die eine sehr unangenehme Sensation macht. Man soll nämlich entweder alles Silber, Gold, Juwelen und Perlen, die man hat, bis auf den letzten Teelöffel zur Münze einliefern und gegen Münzscheine, ein neues Papier, das man aber bei Käufen von Domänen usf. brauchen kann, verkaufen, oder sie behalten, stempeln lassen und vom Lot eine Abgabe von sechs Groschen bezahlen. Das Edikt hat den allerwidrigsten Eindruck gemacht, und das Publikum ist gestern im Schauspiel, am Geburtstage der Königin, sehr kalt gewesen. Etwas trug auch IfflandsAugust Wilhelm Iffland, geb. 1759, Schauspieler und Dramatiker, nach 1811 Generaldirektor aller Königlichen Schauspiele; gest. 1814. dumme Wahl des Stücks dazu bei. Er gab ein Stück, wo ein verschuldeter Landedelmann von seinem Pächter unterstützt wird, also gleichsam ein dramatisiertes Silberedikt. Viele Leute haben, da man das Geheimnis nicht bewahrt hatte, ihr Silber verkauft, worüber nun ein großes Geschrei von Mangel an Patriotismus entsteht. Sehr viel Silber ist außer Landes geschickt worden. Ich habe natürlich nicht verkauft, werde aber die Abgabe zu bezahlen und nicht zu verkaufen suchen. Der dicke Hagen, die Hagen und Emma oder nach Alexanders Benennung der Speckkäfer, die Käferin und der Knixkäfer, schreien fürchterlich dagegen. Ich fürchte noch mehr als ich schreie, daß, weil man es so linkisch angefangen hat, sehr wenig bei der Sache herauskommen wird. Merkwürdig ist es, jetzt alle Gesandten hier vereinigt zu sehen, ohne Hof und irgendeinen Menschen, sei es auch der unterste Rat, an den sie sich offiziell wenden könnten oder der sich einigermaßen um sie bekümmerte. Sie gehen wie die verlorenen Schafe umher.

Über den römischen Posten ist noch nichts beschlossen und wird auch so leicht wohl nicht werden. So wie man hier einen Menschen finden soll, ist immer eine Not und eine Qual. Die göttliche Art, wie man bisher regierte, hat es wirklich dahin gebracht, daß fast niemand recht Brauchbares da ist.

Über Krieg und Frieden ist immer die gleiche Ungewißheit. Aber die meisten halten den Krieg für so gut als gewiß ...

Königsberg, 15. August 1809.

... Die Wolzogen gehört zu den wunderbarsten und am schwersten zu begreifenden Naturen. Noch bei meinem neulichen Besuche bei ihr habe ich mich davon überzeugt und viel über sie, vorzüglich in Vergleichung mit Dir, nachgedacht. Sie ist unleugbar unendlich viel, sie hat in Geist und Einbildungskraft, was unglaublich anzieht, beschäftigt, oft in Bewunderung versetzt; allein es ist wunderbar, daß doch gerade das Tiefste und Beste ihr abgeht. Es ist und bleibt immer eine Natur, die mehr mit der veränderlichen Oberfläche der Dinge und mit allem, was sie anzieht, wie mit bunten Seifenblasen spielt, und da sie durch ihre wirkliche Genialität eine große Unabhängigkeit gewonnen hat, so erscheint sie manchmal hart und wirklich minder weiblich und lieblich, vorzüglich seitdem die Jugend das nicht mehr wie sonst bedeckt. Bei Karolinen liegt aber viel gewiß in den ersten Schicksalen ihres Lebens. Wäre sie gleich in eine eigentlich innerlich beglückende Lage gekommen, so wäre sie sicherlich ganz anders geworden; allein sie hat nie eine Verbindung gehabt, in der innerlich und äußerlich auch nur irgend große Harmonie gewesen wäre; bei einem anderen Charakter hätte sie das freilich unglücklicher, aber auch tiefer gemacht – allein nagender Kummer, hohe und schöne Empfindung des Schmerzes ist ihr fremd, sie ist dazu wirklich nicht groß genug; ihre Phantasie knüpft immer wieder scheinbar zusammen, was innerlich schrecklich zerrissen war, und wenn man es genau nimmt, so sind die Schicksale des Lebens an ihr vorübergegangen, ohne mächtig auf sie zu wirken. Allein in Klugheit und Charakterkraft ist sie viel stärker geworden, und darin findet man gegen die früheren Jahre einen gewaltigen Unterschied. Wolzogens gewiß nicht ferner Tod wird anfangs sehr zerreißend auf sie wirken; aber hernach kann er ihr nur wohltätig sein. Auch geht dann gewiß noch eine neue Epoche für sie an.

Königsberg, 28. November 1809.

... In Berlin muß und wird sich alles entscheiden. Das Alte und Neue wird da einen Krieg anfangen. Eine Entscheidung wird erfolgen, und leicht kann mancher den Hals brechen. Mich amüsiert es. Für uns bin ich gleichgültig; mein Prinzip ist nur, dem Mittelmäßigen und Schlechten überall den Krieg anzukündigen, wo ich es finde, und lieber selbst zu helfen, daß die Dinge, wie sie jetzt sind, zusammenstürzen, als jenes stehen zu lassen. Daß mich das nicht beliebt macht bei vielen, kannst Du denken. Auch steht niemand in einer so sonderbaren Lage wie ich. Da ich mich sehr unabhängig gesetzt habe und mich der Hof offenbar vorzieht, und da ich mit Fleiß Äußerungen nicht schone, so habe ich heimlich viele Neider und Feinde, die ich aber durch offenen, unbefangenen und freundschaftlichen Umgang öffentlich entwaffne, so daß es mit keinem zum Ausbruch kommt. Es ist gewiß und ich weiß es historisch, daß man mich hinausdrängen möchte. Dazu biete ich nun gewissermaßen selbst die Hand, indem ich oft vom eignen Abschiednehmen rede. Aber eine gewisse Scheu hält wieder alle zurück. Sie wissen, welche Sensation mein Abgehen machen würde, sind selbst überzeugt, daß sie niemand haben, an meine Stelle zu setzen, und zögern also auf diese Weise. In meiner Geschäftsführung vermeide ich Blößen zu geben und habe bessere Räte als irgendeiner; diese hängen mir an, ich gehe mit ihnen so um, daß wir freundschaftlich und vergnügt sind und in unserm Vortrag oft gelacht wird, und daß doch jeder seine Schuldigkeit und gerade das tut, was er am besten zu tun imstande ist. So ist es gang und gäbe geworden zu sagen, daß mein Departement das einzige ist, was recht ordentlich geht.

Der König ist mir persönlich wirklich selbst über Verdienst gewogen, und noch gestern wollte einer, der gerade das ist, was ich bin, mit mathematischer Gewißheit wissen, daß der König nur auf eine Gelegenheit warte, mich zum Minister zu machen und es gesagt habe. Er wollte mit mir wetten, daß ich es in drei Monaten sein würde. Ich glaube daran nicht ...

An Welcker.

Erfurt, 23. Dezember 1809.

... Sie glauben nicht, liebster Welcker, wie recht eigentlich gut ich Ihnen bin. Ihr lebendiges Wesen in unserem Umgange hat für mich, wie Ihre Briefe noch jetzt, immer etwas zugleich Erweckendes und Beruhigendes gehabt, und es ist mir eigentlich nie vorgekommen, daß jemand bei so viel unleugbarer Reizbarkeit und Tiefe des Gefühls so viel Leichtigkeit, Frohsinn und Empfänglichkeit für jede Idee und jede Beobachtung bewahrt. Dann haben Sie, wie ich nicht leugnen will, mein Herz sehr dadurch bestochen, daß Sie gleich am Anfang so rein und richtig erkannt haben, was eigentlich in meiner Frau von Geist und Gemüt liegt, worüber Sie sich noch in Ihrem letzten Brief so richtig ausdrücken. Es ist wirklich ein unglaubliches Glück, solch ein Wesen gefunden zu haben, und in vielen Sonderbarkeiten, die uns zusammengeführt, liegt wirklich mehr als zufälliges Glück, wahres Schicksal. Eine Heirat hat selten auf einen Mann einen günstigen Einfluß. Mich aber, kann ich wohl sagen, hat die meinige gerettet. Ich habe eine ordentlich unselige Fähigkeit, mich jeder Lage anzupassen, und stand, als ich mich versprach, eben auf dem Punkt, ganz und rettungslos in äußere Verhältnisse unter uninteressanten Menschen zu versinken, als mich meine Verbindung und der sich darauf notwendig gründende Plan, selbständig und für mich zu leben, plötzlich, wie aus einem Schlummer herausriß. Indes wäre dies noch wenig. Allein der Umgang mit gewissen Naturen, und keine darf man dabei so nennen, als die meiner Frau, hat durch sich selbst etwas unmittelbar und in jedem Moment Bildendes. Bei meiner Frau kommt aber noch hinzu, daß, da einer der Hauptzüge in ihr Ehrfurcht für jede innere Freiheit ist, das Bildende nur immer jeden in seiner Natur weiterführt.

... Es würde mich sehr freuen, wenn Sie an dieser Untersuchung über die Urbewohner Hispaniens und der Art, wie ich sie geführt habe, Gefallen fänden. Für mich hat dieser Teil der Geschichte, der aller Überlieferung vorausgeht und wo man den Zustand der Völker nur aus Namen und Denkmalen erkennen kann, etwas ungemein Anziehendes. Die Völker und das Menschengeschlecht sind in ihrem frühesten Leben und in ihren Wanderungen in dieser Epoche mehr der Natur selbst gleich und noch frei von allem Kleinlichen und Willkürlichen, was das individuelle Leben hinzufügt. Diese Neigung zur Urgeschichte, um es kurz zu bezeichnen, hat mich auch bewogen, seit einiger Zeit das Sanskrit zu studieren. Man hat dabei mit sehr schlimmen Schwierigkeiten zu kämpfen, woran noch mehr die unbequeme Einrichtung der Hilfsmittel als die Sache selbst schuld ist; aber man wird auch schon bei jedem Schritt, möchte ich sagen, dafür reichlich durch die Sprache selbst belohnt. Sie öffnet sich einem vom ersten Moment an als der Urquell der Sprachen, die man am eigentümlichsten kennt und am liebsten treibt, und es mischt sich dadurch zu dem bloß linguistischen Interesse ein bedeutendes historisches. Über die Literatur möchte ich nicht so günstig urteilen. Doch mag es sein, daß ich noch zu wenig davon weiß. Allein, was ich bis jetzt kenne, reproduziert mir weder den Genuß, den das Griechische gewährt, noch stellt es etwas Neues, gleich Erhebendes an dessen Stelle. Es fehlt ihm, dünkt mich, die freie, einfache, allgemeine Ansicht des Universums, die tiefe Menschlichkeit und das Maß, wodurch das Erhabene sich vom Riesenhaften unterscheidet. Wie die indische Poesie nun aber einmal ist, so muß man auch ihre Eigentümlichkeit beibehalten. In dem neulich durch Schlegel übersetzten Stück scheint mir schon ein gewisses Akkommodationssystem zu sein, das ich nicht billigen kann. Selbst der Hexameter gibt, ohne daß etwas Einzelnes geändert sei, einen griechischen, der Eigentümlichkeit schädlichen Anklang. Dennoch ist es sehr gut, daß gerade Schlegel sich bei uns des Indischen angenommen hat. Er wird ein allgemeineres Interesse dafür erwecken, als eine bloß sprachgelehrte Behandlung getan hätte.

Die Schrift, von der ich eben redete, wird Ihnen, liebster Freund, einen Begriff meiner jetzigen Lebensweise und meiner Beschäftigungen geben. Ich arbeite außerdem, wenn auch unterbrochen, an einer so viel als möglich vollständigen Darstellung der amerikanischen Sprachen fort. Es ist ein weitläufiges Unternehmen, das einen, wenn auch nicht einmal von der Arbeit, aber selbst von der mit vielen Schwierigkeiten verknüpften Herausgabe abschreckt. Allein ich bin einmal nicht unbedeutend vorgerückt und mag auch leicht jetzt mehr Hilfsmittel zusammen gebracht haben, als sonst einer in Europa besitzt. Daher möchte ich nicht gern von dem einmal Begonnenen ablassen. Ich habe schon gegen ein Dutzend Sprachlehren fertig ausgearbeitet liegen, wovon die ausführlichste und interessanteste die der mexikanischen Sprache ist. Ich bin auch schon in der vorläufigen Kenntnis der noch nicht völlig ausgearbeiteten so weit gekommen, daß ich übersehen kann, daß die Übersicht des Ganzen zu nicht unwichtigen Resultaten führen wird ...

An Johanna Motherby.

Johanna Charlotte geb. Thielheim, 1783 – 1842, war die Tochter eines Handwerkers in Königsberg i. Pr. und heiratete 1806 den Dr. William Motherby, englischer Herkunft. Das Motherbysche Haus wurde der geistige Mittelpunkt der Stadt der reinen Vernunft. Johanna, die sich trotz ihrer beiden liebreizenden Kinder von ihrem vielbeschäftigten Wann nicht ausgefüllt fühlte, hat viel geliebt. Humboldt faßte eine leidenschaftliche Zuneigung zu der seelisch gewandten jugendlichen Frau seines Freundes, bis diese die Beziehung löste; Ernst Moritz Arndt trat als dauerhafter Erbe ein. Nach mancherlei wunderlichen Abenteuern heiratete sie 1824 den Arzt Dr. Dieffenbach, der elf Jahre jünger war als sie. Mit diesem verdienten Chirurgen führte sie in Berlin bis zur Scheidung auch dieser Ehe ein großes Haus – natürlich nicht ohne Hausfreund.

Berlin, 7. März 1810.

... Nichts in der Gegenwart hat die Eindrücke verlöscht, die mir jene so kurze, aber so himmlische Zeit geschaffen hat, nichts wird sie verlöschen. Ich sehne mich unbeschreiblich nach Ihnen zurück; es ist mir, als finge das Jahr nur mit dem 8. September an und endete mit dem traurigen 6. Dezember, und als gäbe es sonst keine Zeit. Mitten in der Nacht beim Arbeiten ergreift es mich manchmal auf eine unaussprechlich wehe Weise ...

Es hat mich unendlich gefreut, daß Sie sagen, daß niemand Sie so kenne wie ich, niemand sich Ihrer so annimmt. Sie sind so weich und zart, so leicht erregbar, daß Sie oft der Hilfe bedürfen, und das ist ein vorzüglicher Reiz in Ihnen, da Sie dabei auch wieder sehr fest und selbständig sind und das, was Ihnen einmal teuer ist, Sie weder im Inneren noch Äußeren verleugnen ... Mir ist ein Wesen wie Sie nie erschienen; Sie haben wieder Gefühle in mir erschlossen, die ich für tot und abgestorben hielt. Ich bin auch so unendlich gewiß, daß das immer gleich und unverändert in mir bleiben wird, daß ich die Erinnerung dieser Vergangenheit und die Hoffnung selbst einer gleich schönen Zukunft nicht mehr von meinem Dasein abtrennen kann. Auch in Ihnen muß jeder Zweifel deshalb Vergangenheit sein. Sie müssen gefühlt haben, daß jeder meiner Blicke, jedes meiner Worte tief aus meinem Innern hervorkam; daß die Gefühle, die ich mich nicht scheue einzugestehen, mit allem übrigen tief und fest in mir Gewurzelten harmonisch verbunden waren; daß ich nie von Ihnen etwas forderte, ja nie gern in Ihnen nur geduldet hätte, was die gleiche Harmonie in Ihnen hätte stören können. Und Sie sehen jetzt, daß es ebenso, auch da ich abwesend bin, in mir geblieben ist. Auch in der unbeschränktesten Freiheit, die man der Empfindung ewig erhalten muß, gibt es ein mir die Unveränderlichkeit verbürgendes Gefühl und wieder ein Zusammenstimmen der Wesen, über das hinaus es nun kein Höheres mehr geben kann.

... Ein wunderbarer Zufall oder vielmehr ein Schicksal, dem ich immer dankbar sein werde, hat mir Sie zugeführt; es ist durch Sie vieles in mir entstanden, das ich nie gedacht hatte, und nichts, was ehemals in mir war, hat sich gehemmt und unterdrückt gefühlt; ich gäbe mein Leben darum, Sie zufriedener und glücklicher zu machen, ich weiß auch, daß ich nicht leicht je aufhören kann, in Ihr Empfinden und Denken verwebt zu sein; ich fühle noch lebendiger, daß ich Ihnen noch viel sein kann, wenn Sie nur in sich den Glauben an mich erhalten, und so bin ich, seit ich Sie kenne, unendlich reiner mit mir selbst, abgeschlossener in allen Wünschen und Erinnerungen, oft weniger glücklich, aber doch mehr eins mit mir und allem, was mich umgibt. Das weniger glücklich muß Sie nicht schmerzen, liebe Freundin. Es gibt leidenschaftliche Augenblicke, von denen Ruhe und Glück fern sind, die aber, wer das wahre Leben versteht, nie aus sich wegwünscht. Es ist nicht notwendig, glücklich zu sein, aber unerläßlich, seine eigentliche, tiefe Bestimmung zu erfüllen; auch der Seidenwurm mag mehr glücklich sein, wenn er sich einspinnt – aber es gibt ein Gefühl, das weit mehr als Glück ist, die Ruhe der Wehmut, und die geht allemal aus der Erfüllung der Bestimmung hervor. Die Bestimmung aber ist in jedem Menschen eine eigene, auch findet man sie nie, wenn man danach sucht; aber in Momenten der Rührung, im Zusammensein mit Gleichgesinnten oder in der Einsamkeit mit sich selbst geht sie hervor wie eine Flamme im Dunkel, und wer nicht willkürlich die Augen verschließt, verkennt sie nie. Daran halten auch Sie sich, meine Liebe, wenn Sie sich verlassen fühlen. Eigentlich sind Sie es nie. Es gibt Gedanken, die Sie immer umgeben, und Gedanken stärken auch in der Ferne. Ihre Lage ist, wie Sie selbst sagen, eigentlich, wie man es gewöhnlich nennt, glücklich. Sie ist sogar noch mehr. Denn es ist unleugbar, daß Motherby sehr gut ist, und daß er an Liebe und Schonung für Sie oft, selbst ohne seine Überzeugung, aus seinem Kreise hinausgeht. In den Kindern blüht Ihnen ein neues Leben auf. Sie tun in beiden Verhältnissen alles, was so natürlich aus Ihrem liebevollen, treuen Wesen hervorgeht. Sie sind nie mit sich selbst in Widerspruch, Sie bilden es sich manchmal ein, Sie fühlten sich darum manchmal zerrissen, gespannt, aber das war kränkliche Einbildung – es ist Ihnen, was selbst so liebenswürdig ist, sehr eigen, sich leicht Vorwürfe zu machen – oder Folge ungerechter Forderungen, die man an Sie machte. Aber das freilich ist gewiß: die Sie umgeben, kennen Sie nicht, und es ist unendlich schön von Ihnen, daß Sie nie Bedürfnis haben, gekannt zu sein. Dafür gibt es nun freilich nur zwei Mittel, Einsamkeit und Erinnerung. Es ist wirklich nicht Eigennutz, wenn ich Sie an diese beiden verweise. Im Grunde ist doch jeder Mensch eine abgeschlossene Welt, und auch wo man sich am besten und innigsten versteht, bedarf doch jeder noch oft der Einsamkeit und kennt etwas, das die Mitteilung flieht. Das ist traurig und kann nicht anders empfunden werden als so. Denn es ist immer eine Schranke im Verständnis. Allein es ist zugleich doch auch schön. Denn die, welche wirklich eins sind miteinander, sind es immer durch noch viel etwas anderes, als was sie aneinander wirklich verstehen und begreifen; und wer Sinn für diese Gefühle besitzt, in dem ist zu viel, als daß es so einzeln übergehen könnte, und nicht vielmehr in sich zurückströmen müßte – ein Zurückströmen, wozu man allemal der Einsamkeit bedarf. Darum fühlt man sich gegenseitig oft einander näher in der Einsamkeit als in der Gegenwart. Dennoch gäbe ich unendlich viel darum, Sie nur einmal, selbst nur auf einige Augenblicke wiederzusehen. Ich denke es mir so oft, wie ich an Ihr Haus gehen, wie dann in Ihre Stube eintreten, wie Sie am Fenster, wo Sie gewöhnlich saßen, finden würde, und wieviel Zeit wird noch verstreichen, ehe ich wieder bei Ihnen bin! Ich mache zwar viele und manchmal nützen Projekte; dann sehe ich aber wieder die Hindernisse, und vor dem Sommer des künftigen Jahres darf ich kaum eine leise Hoffnung nähren. ... Meine Frau kommt nun gewiß Ende Juni. Sie kann leicht an unserm Hochzeitstag gerade ankommen. Ich freue mich sehr darauf, ob es mir gleich für sie sehr leid tut. Ich habe indes ein Haus gemietet, was wohl den schönsten Garten hat, der in Berlin ist, und ihre Fenster gehen unmittelbar auf den. Sie wird sich auch freuen, mich und Theodor wiederzusehen. Wir waren nie so lange voneinander getrennt und hängen beide gleich stark an unserm Zusammensein und an unsrer Familienexistenz. Es gibt keine Sache in der Welt, über die wir nicht miteinander reden oder uns stillschweigend verstehen, und schwerlich ist einer von uns beiden von einem anderen tiefer und richtiger empfunden worden als wir voneinander. Ich wüßte auch nicht einmal das Mindeste anzugeben, worin, seit unsrer ersten Bekanntschaft, unsre Empfindungen für einander anders geworden wären. Sie haben sich nur durch Glück und Unglück, durch Genuß und Entsagung fester ineinander verwebt. Ich fand heute früh auch einen Brief von ihr bei meiner Ankunft. Sie ist wohl und die Kinder gesund und munter ...

An Karoline.

Berlin, 7. April 1810.

Ich fange an, ein bißchen mehr in Ordnung zu kommen, liebe Li, und unsre neue Wohnung gefällt mir recht gut. Hedemann wohnt jetzt in Deinen Stuben, weil die ihm bestimmten noch geweißt und zurechtgemacht werden. Ihn im Hause zu haben, macht mich sehr froh. Wir frühstücken zusammen, sehen uns die Abende, reiten zusammen spazieren und gehen nicht leicht aus, ohne voneinander Abschied zu nehmen. Das Abschiednehmen ist meine Passion, wie Du weißt; Du kannst Dich also immer ein bißchen mokieren, liebe Seele.

Er ist einer der reinsten, edelsten, nach allen Höhen ohne Affektation strebendsten Menschen, die mir je vorgekommen sind. Wie er an mir hängt, davon kannst Du Dir keinen Begriff machen. Der kleine Tatar, den ich von ihm gekauft habe, hat die Unart, wenn man sich aufgesetzt hat, immer einige Sprünge zu machen. Ich habe ihn schon geritten, wenn er auch länger gestanden hat, und mache mir nichts daraus. Aber wenn Hedemann mir irgend abmerken kann, daß ich reiten will, so reitet er ihn vorher, damit mir gewiß nichts begegnet, und so in allen Stücken. Er wird Dir sehr gefallen und freut sich unglaublich auf Dein Herkommen. Mir ist es sehr angenehm, einen Menschen hier zu haben, den ich wahrhaft liebe, und der mir ebenso gut ist. Es ist sonst immer kalt und öde um einen.

Ich habe diese Tage fürchterlich zu tun gehabt. Aber es ging nicht anders, und ich konnte es nicht hindern. Der König und die Königin beweisen mir wirklich ein sehr großes Zutrauen, und Du weißt, daß es einmal meine Art ist, wenn ich etwas übernehme, zu machen, daß man auf mich rechnen kann. Aber ungeachtet dieses Zutrauens ist auch meine individuelle äußere Lage sehr prekär; ich rede nicht mehr davon, weil das Reden übers Ungewisse nichts hilft; allein wenn sich eine Änderung zuträgt, erfährst Du es sogleich und auf einmal. Sei überzeugt indes, mein einzig teures Wesen, daß ich nicht unvernünftig, nicht übereilt, am wenigsten unedel handeln werde. In dem, was einem immer das Liebste sein muß, geht mir noch alles sehr gut. Das Publikum liebt mich, zeichnet mich aus und setzt sein Vertrauen auf mich. Meine Geschäfte gehen glücklicher, schneller und regelmäßiger wie alle anderen von statten, und man erweist mir die Gerechtigkeit zu bekennen, daß meine Partei die einzige fortschreitende ist. Sei sicher, daß ich es dabei erhalten werde. Das übrige Drückende, Ärgerliche, Störende ertrage ich und ertrage es eigentlich leicht. Seitdem ich im Dienst bin, habe ich mich nicht einmal geärgert. Der große Grundsatz, nie auf das einmal Geschehene zurückzukommen, und was abzuändern unmöglich ist, und wäre es auch böser Wille der Menschen, wie eine Naturbegebenheit anzusehen, hilft mir immer durch.

Du glaubst gar nicht, welch ein Trost es mir nun schon ist, in Stuben zu sein, von denen ich hoffen kann, daß Du sie betreten wirst.

Berlin, 21. Juli 1810.

Es hat dies Land wieder ein großes Unglück betroffen, liebe Li. Die Königin ist vorgestern, am 19., um 9 Uhr morgens gestorben. Sie reiste vor einigen Wochen mit dem König und mehreren ihrer Kinder nach Strelitz zu ihrem Vater und war erstaunlich glücklich über diese Reise. Sie war seit vier Jahren nicht in ihrer Familie gewesen. Wenige Tage nach ihrer Ankunft, am 25. vorigen Monats, gingen alle nach Hohenzieritz, einem Lustschloß des Herzogs. Hier wurde die Königin am zweiten oder dritten Tag krank, und es hieß gleich, es sei eine Lungenentzündung. Der Arzt des Herzogs, ein gewisser Hieronimi, auf den die Familie viel hält, behandelte sie und ließ ihr gleich zu Ader. Der König kam nach Charlottenburg, auch an einem dreitägigen Fieber krank, zurück. Die Nachrichten von der Königin schienen zwar nicht bedenklich, indes wurde doch Heim hingeschickt. Der eigentliche Arzt des Hofes ist zwar Hufeland. Allein dieser ist vom König von Holland nach Amsterdam berufen worden und noch abwesend; auch hatte die Königin immer großes Zutrauen auf Heim für Brustkrankheiten. Heim kam nach einigen Tagen zurück und versicherte, es sei keine Gefahr, Hieronimi behandle die Krankheit gut, allein die Krankheit sei immer bedeutend, und die Königin werde noch mehrere Wochen dort bleiben müssen. Auf einmal aber stellten sich Krämpfe ein, die entsetzlich bedenklich schienen.

Am 17. wurde Görcke geholt, weil er einmal in Memel der Königin in solchen Krämpfen viel Erleichterung verschafft hatte. An demselben Tage reiste auch Heim abermals hin. Am 18. kamen sehr schlimme Nachrichten. Heim schrieb dem König, der indes zwar vom Fieber befreit, aber doch noch immer nicht ganz besser war, die Gefahr sei dringend; er müsse ihn inständig bitten, sogleich hinzukommen. Der König beschloß, um 9 Uhr den Abend wegzufahren. Gegen 6 Uhr aber kam eine neue Estafette mit einem Briefe der alten Gräfin Voß: die Königin sei ohne Hoffnung, man könne auf nichts rechnen. Nun fuhr der König gleich mit den beiden ältesten Prinzen fort. Der dritte und die älteste Prinzessin folgten mehrere Stunden später. Der König ist um 6 Uhr früh am 19. angekommen und hat die Königin noch bei Besinnung angetroffen. Er hat noch eine Unterredung allein mit ihr gehabt. Sie ist, wie man sagt, sanft gestorben.

Von Anfang herein hatte sie ein Lungengeschwür; man fürchtete daher, die Krankheit könne in eine galoppierende Schwindsucht ausarten. An so plötzlichen Tod dachte man viel weniger. Noch am 18. schrieb mir der Prinz George, daß die Ärzte viel Hoffnung hätten und die Krämpfe abnähmen. Er grüßt Dich sehr. Er hat der Königin noch von mir und einem Briefe, den ich ihm gerade geschrieben hatte, gesprochen, und sie hat freundlich aufgeblickt und mit der Hand gewinkt. Sie hatte wirklich immer außerordentlich viel Güte für mich, und es ist auch für uns ein sehr großer Verlust.

Der König ist sehr untröstlich. Er hat gesagt, er wäre auf alle Unglücksfälle jeder Art gefaßt gewesen, nur auf diesen nicht. Er kommt heute abend nach Charlottenburg zurück. Die Prinzessin Charlotte und Prinz Carl sind erst nach dem Tode angekommen und haben diesen auf die schrecklichste Weise erfahren. Ein vorüberreitender Bauer hat ihnen die Nachricht in den Wagen geschrien.

Die Betrübnis ist sehr allgemein. Wenn wir uns sehen, werde ich Dir noch mündlich viel über die Königin und das, was sie für uns getan, erzählen. Überhaupt sind die Folgen, die dieser Todesfall haben wird, nicht zu berechnen.

Soeben, teures Wesen, bekomme ich Deinen Brief vom 27. Juni. Du bist doch auch ganz besser wieder, mein einzigliebes Leben? Ach, noch jetzt bei dem Tode der Königin ist es mir unendlich schmerzlich aufs Herz gefallen, was ich wäre, wenn es mir wie dem König erginge. Ich vermöchte es nicht auszudenken. Lebe innigst wohl!

An Karoline.

Berlin, 24. Juli 1810.

Ich habe Dir neulich, liebe Li, von dem am 19. erfolgten Tode der Königin geschrieben. Man ist in der ganzen Stadt mit nichts als damit beschäftigt. Die Betrübnis ist allgemein. Auch hört man nunmehr nach und nach immer mehr Einzelnes von ihrem Tode. Den Tag vorher ist sie noch unbegreiflich heiter und voll Hoffnung gewesen. Darum hat Prinz George mir einen so beruhigenden Brief geschrieben, und Heim hat ordentlich immer sagen müssen, daß Gefahr sei, weil niemand es geglaubt hat. Auch in der Nacht zum Todestage, dem Donnerstag, ist es ebenso geblieben. Sie hat sich von Heim, der die Nacht wachte, vieles von seiner Familie erzählen lassen. Doch ist der Puls von Stunde zu Stunde schneller, kleiner und bedenklicher geworden. Heim war zweimal während der Krankheit dort. Bei seinem ersten Weggehn hatte die Kranke nur 95 Pulsschläge, bei seiner Rückkunft 120, und das ist bis zu 160 gestiegen.

Die große Betrübnis des Königs, der drei Stunden vor ihrem Tode ankam, hat sie zuerst ängstlich gemacht, doch ist auch das wieder übergegangen. Noch fünf Minuten vor ihrem Tode hat sie Heim gefragt, ob Gefahr sei. Er hat es verneint. Aber wenig Augenblicke darauf ist ein starker Krampf gekommen, und sie hat gesagt: »Gott, wie kannst du mich so verlassen?« und da es zugenommen: »Mach es kurz.« Das sind ihre letzten Worte gewesen. Der König hat sie im Sterben bei einer, die Prinzessin Solms bei der anderen Hand gehalten, und Frau von Berg hat ihren Kopf unterstützt.

Der König soll unendlich gerührt sein, man hat ihm allerlei Aufenthalte und Reisen vorgeschlagen. Er hat aber gesagt, er wolle nach Charlottenburg gehen, wo er zuletzt mit ihr gewesen sei, und die Kinder nahe haben. Er ist, wie man sagt, ziemlich gefaßt, wenn Leute da sind, geht aber oft in seine Stube, um allein zu weinen. Die beiden Tage, die er noch nach ihrem Tode in Hohen-Zieritz zugebracht hat, ist die ganze Familie fast nicht aus dem Zimmer, wo die Tote stand, gekommen. Sie haben fortgefahren, darin zu leben.

Freitag, den 27., wird die Leiche hergebracht. Wir gehen ihr alle bis zum Tor entgegen und begleiten sie in die Stadt. Am 31. wird sie im Dom beigesetzt. Bis zum 31. wird sie im Schloß in den Zimmern des vorigen Königs ausgestellt ...

An Karoline.

Berlin, 31. Juli 1810.

Ich bin dem Tage meiner Abreise jetzt sehr nahe, nur kann ich ihn noch nicht genau bestimmen. Ich wollte am 4. August, dem Tag nach Königs Geburtstag, abgehen; allein der König will mich noch sprechen, und da er jetzt sehr wenig zu Geschäften gestimmt ist, so kann mich das sehr leicht noch acht Tage länger aufhalten. Du fühlst, daß man in dieser Zeit nicht dringend sein kann. Der arme König leidet entsetzlich; noch gestern sah ich ihn in einer wirklich entsetzlichen Situation. Es war der Abend der Beisetzung der Königin. Der König folgte selbst, und wie er und die Prinzen durch die Zimmer des Schlosses gingen, hatte man es versehen und den Sarg nicht vorausgelassen. Er mußte also in einem Fenster stehen bleiben und den Sarg dicht an sich vorbeilassen. In dem Gedränge, es war gerade in einer Tür, stand ich, da die Minister gleich hinter dem Hof gingen, unmittelbar neben ihm. Das Tragen des Sarges ging langsam, er wandte sich ab und sah doch immer wieder hin; er wollte gefaßt scheinen und schien es im Gesicht, aber die Knie zitterten ihm hin und her.

Mit mir – ich hatte ihn seit dem Tode nicht gesehen – sprach er sehr freundlich, aber gleich über sie. Äußerst rührend waren die beiden kleinsten Kinder, Luise und Albrecht. Beide waren still, aber sahen ganz unschuldig und ohne zu wissen, was ihnen geschah, heiter in das Gewimmel. Der kleine Albrecht auf dem Arm der Amme, ganz schwarz angezogen, flößte ein unglaubliches Mitleid ein. Unzählige Male sind mir die Verse aus der Glocke eingefallen. Ach! liebe Li, wenn ich nur Dich nie verliere! Das Sterben eines Mannes kann gar nicht so etwas Rührendes haben, wenn er auch gleich innig geliebt wird. Daß Losreißen der Kinder von der Mutter ist schon durch seine Unnatürlichkeit herzzerschneidend.

Die Trauerzeremonien waren eigentlich peinlich. Die Königin ist wirklich und aufrichtig geliebt worden, und eine Zeremonie dieser Art hat immer etwas Schauspielartiges. Doch hat sich das Publikum gestern bei der Beisetzung und auch am 27. beim Einholen der Leiche ungemein still und gut betragen. Einzelne Momente beider Zeremonien hatten etwas Schönes und Tiefergreifendes. Am 27. nämlich traf die Leiche hier ein. Das überaus zahlreiche Gefolge war auf dem Exerzierplatz versammelt und erwartete die Königin. Der Augenblick der Ankunft war sehr rührend. Wir waren noch nicht in Ordnung gestellt, und ich stand zufällig fast allein mit Hardenberg unter den Bäumen, als sie kam. Prinz Carl, der Stiefbruder des Erbprinzen,von Mecklenburg-Strelitz. folgte mit. Er war so betrübt, daß er wirklich nur schwankte. Nun bildete sich der Zug und ging in der Mitte der Linden, ganz zu Fuß, bis auf die von Strelitz mitgekommenen Damen vom Hofe, die fuhren, bis zum Schloß. Zu beiden Seiten waren Reihen Soldaten, an einigen Orten Sängerchöre, an den anderen Militärmusik und Trommeln, die gedämpft und etwas in der Ferne sehr melancholisch klingen. Auf dem Brandenburger Tor, wo sonst die Viktoria stand, wehte eine große schwarze Fahne, alle Glocken gingen. Der Zulauf der Menschen war unglaublich; aber eine Stille, die man sich kaum vorstellt, man hörte nicht einmal das sonst bei großen Haufen fast unvermeidliche dumpfe Gemurmel. Der Lustgarten, wo sich der Zug übersehen ließ und die Garden standen, sah am feierlichsten aus.

Unten an der Schloßtreppe empfing der König mit dem ganzen Hofe den Sarg und begleitete ihn hinauf, bis er an seinen Platz in dem Thronzimmer gestellt war. Das Zimmer war nicht schwarz ausgeschlagen, aber erleuchtet; es ist von violettem Samt mit starken Vergoldungen und nahm sich gut aus. Die anderen Zimmer des Schlosses waren dunkel. Es hatte etwas Schauerliches, die Prinzessinnen alle in der tiefen Trauer mit Krepp und langen Flören, die meisten weinend und sehr angegriffen in dieser halbdunklen Abendzeit zu sehen. Sie waren im Spiegelzimmer versammelt, das die Trauergestalten noch schauerlicher vervielfältigte.

Vom 27. bis gestern abend konnte jedermann aufs Schloß gehen, den Sarg zu sehen. Er war aber verschlossen. Gestern abend ging nun der Zug, ganz zu Fuß, der Leichenwagen ausgenommen, nach dem Dom. Leider ist der Dom ein so geschmackloses, unkirchenartiges Gebäude, daß sich nichts darin ausnimmt. Ich hätte als Kammerherr eigentlich die Leiche mittragen müssen; aber da man den Schlüssel ablegt, wenn man Minister wird, so ging ich mit dem Ministerium.

Ich leugne nicht, daß mich diese Tage sehr erschüttert haben. Die Königin war, auch bloß als Frau betrachtet, von einer seltenen Harmonie in ihrem ganzen Wesen; sie hatte wirkliche Größe und alle Sanftmut, die nur aus den herzlichsten häuslichen Verhältnissen hervorgehen kann; sie war dabei uns sehr gut, und wir haben unendlich viel mit ihr verloren. Dem armen Erbprinzen habe ich noch gar nicht zu schreiben gewagt, er reist nach Schwaben zur Fürstin von Thurn und Taxis. Prinzessin Luise leidet sehr. Sie liebte die Königin ausnehmend und verliert auch außerdem viel mit ihr. Ich gehe jetzt meist alle Abend zu ihr, weil sie doch gern die um sich sieht, die am vertrautesten im Hause sind. Aber sie bleibt selten zum Abendessen. Prinzessin Wilhelm ist noch in Homburg. Sie wollte zum Geburtstag des Königs wiederkommen; aber die Königin ließ ihr noch in ihrer Krankheit schreiben, es würden nun doch keine Feierlichkeiten am Geburtstage sein, sie möchte sich nicht genieren. Der Erfolg macht es wirklich sehr rührend.

Närrisch ist es, daß auch Vorbedeutungen des Todes gewesen sind, die, wenn man sie auch nicht streng erwiesen nennen kann, doch mehr als bloße Einbildungen sind. Den ganzen Winter hindurch sagte man immer, daß sich die weiße Frau bald hier, bald dort im Schloß sehen ließ. Einmal hieß es zwar, man sei der Sache auf die Spur gekommen, und wirklich hatte ein Offizier eine Frau ergriffen, aber weil sie sich zu erkennen gab, wieder gehen lassen. Indes hatte diese nicht einmal das Geisterkostüm, und die weiße Frau ist öfter und an mehr Orten erschienen, wenn man dem glauben wollte, was wenigstens diesen Winter, wo niemand vom Hofe krank war, oft erzählt wurde. Dann soll in Potsdam acht Tage vor dem Tode die Orgel der Stadtkirche in der Nacht Totenlieder gespielt haben. Daß man bestimmt einzelne Töne gehört, ist ausgemacht. Man sagt aber jetzt, die Tür habe offengestanden und der Wind habe sie hervorgebracht, auch daß viele Fledermäuse sich auf die Tastatur geworfen hätten, kurz, man sucht zu erklären, was man nicht ableugnen kann.

An Karoline.

Wien, 3. Oktober 1810.

Ich kann Dir, liebes Herz, die große Nachricht geben, daß unsere Kisten wirklich angekommen sind. Es sind 26 Stück und wirklich 69 7/8 Zentner, davon zirka 20 Zentner Wäsche, 10 Zentner Betten, 15 Zentner Bücher. Der ganze Transport mit allen Unkosten von Berlin bis hierher beträgt 300 Taler preußisch ungefähr, die ich dem König in Rechnung setze. Du siehst, daß es keine übermäßige Ausgabe ist.

Du willst unser Quartier wissen. Leider, teures Herz, weiß ich es selbst noch nicht. Du kannst Dir die Marter nicht vorstellen. Nirgends findet man, und über das allereinzige, ungeheuer teure, was ich in der Stadt möbliert bis zum Mai vielleicht haben kann, ist noch Zank und Streit, der sich erst in einigen Tagen entscheidet.

Ich habe vielleicht Unrecht gehabt, mich zu kaprizionnieren, nicht in die Vorstadt zu ziehen. Allein, wenn Du die Unbequemlichkeit kenntest! Man ist von Gott und Menschen abgeschnitten. Kein Lehrmeister geht als für den fünf-, sechsfachen Preis hin, es ist fürchterlicher Staub im Sommer und schändlicher Kot im Winter, kurz alles Angenehme der Stadt fällt hinweg.

Die Teuerung ist in einigen Stücken (Holz, Zucker, Kaffee) groß, in anderen gar nicht. So gebe ich für meinen Mietswagen monatlich 460 Florin = 76 Taler unsres Geldes. In Rom kostet er 60 Skudi wenigstens, die 90 Taler machen. Das Rindfleisch kostet 29 bis 30 Kreuzer = 2 Groschen unsres Geldes, und das Pfund ist größer als bei uns. Zucker werde ich aus Breslau verschreiben, Kaffee ebenso. Die Unterhaltung der Pferde ist teurer gegen Berlin, das Pferd kommt auf 13 bis 14 Taler monatlich. Im ganzen, denke ich, sollen wir auskommen. Holz ist unmäßig teuer, aber man verbraucht vermutlich auch weniger. Einmal ist der Winter weniger lang. Dann bewohnt man meist den zweiten Stock, der schon gewärmte Zimmer unter sich hat und überall doppelte Fenster und in den meisten Küchen Sparherde.

Mit dem Verkaufen der Möbel richtest Du es gewiß sehr gut ein. Bringst Du aber gar nichts mit? So z.B. gibt es eine Not hier. Man kann gar kein Porzellan haben, und Steingut ist schlecht. Die Fabrik hat keinen Vorrat, und die Bestellungen dauern jahrelang. Mir tut es äußerst leid, daß ich nicht wenigstens einige Dutzend sehr hübsche weiße Tassen von Berlin mitgebracht habe. Ich will hierüber vor Deiner Ankunft, da das Kind in so etwas viel weiser und klüger ist als ich, keine Anstalten machen; aber ich glaube, wir werden müssen Berliner Porzellan holen lassen. Es hat mich sehr lachen gemacht, daß Du sagst, Du hättest über die häuslichen Dinge jetzt mehr Überblick wie ehemals. Du hattest immer sehr viel, mein liebes Seelchen; wenn Du mehr hättest jetzt, wäre es ordentlich, weil Du nun zwei Jahre allein hast leben müssen, Wirkung meiner Abwesenheit. Ich will Dich gewiß ganz frei walten lassen. Es wird gar nicht leicht sein, sich mit wenig hier einzurichten. Wenn Du nur den Verstand dazu machst und befiehlst, so will ich für das Herumgehen und Ausführen schon sorgen. Zu viel Anstalten mache ich gewiß vor Dir nicht, mein Liebes. Wenn es irgend geht, findest Du ein möbliertes Quartier. Ich kaufe dann nur das Unentbehrlichste, alles übrige machen wir zusammen. Ach! es wird so hübsch sein, viel zusammen zu tun; ich freue mich wie ein Kind darauf.

Der Kaiser ist noch immer nicht hier, und ich bin also auch noch nicht in Funktion getreten. Indes schreibe ich meine Depeschen und habe bis jetzt noch keinen Posttag versäumt. Wenn aber meine Geschäfte nicht zunehmen, so hätte ich eigentlich gar nichts zu tun. Meine Depesche kostet mich zwei Stunden am Abend vor dem Posttag, ehe ich zu Bett gehe, dann übergebe ich sie am andern Morgen P., und er macht das übrige. Die deutschen Sachen sehe ich an, schreibe mit wenig Worten darauf, was darauf geschehen und geschrieben werden soll, und übergebe es Herrn v. M. und habe auch weiter nicht viel damit zu tun. Außer diesen beiden ist noch ein tauber Kanzlist zum Abschreiben. Dies ganze Personal aber kostet mich bloß 100 Dukaten.

Die guten, kleinen Mädchen, die sich auf die Reise zu mir freuen! Aber Deutsch werden sie wieder nicht lernen. Noch gestern war ich in einer Musikgesellschaft, wo rund herum Italienisch gesprochen wurde. Wenn man erst weiß, daß sie nichts anderes reden, spricht es jeder mit ihnen. Sage, daß ich mich sehr freue, sie oft ins Theater mitzunehmen. Es ist hier eine ganz italienische Oper und dann ein Theater, das ihnen Freude machen wird, weil immer viel Spektakel, Pferde, Wasser und alle Elemente in Bewegung sind.

Ich werde die erste Zeit gar nicht von Euch wegkommen, Ihr Lieben. Erinnerst Du Dich wohl, süßes Kind, daß Du, als Du von Paris kamst, mich auch erinnern mußtest, daß ich gar nichts mehr tat, sondern immer bei Dir war? Wärst Du nur erst hier! Wie der kleine Hermann nur aussehen mag? Von einem solchen neuen Geschöpf ist es durchaus unmöglich, sich einen Begriff zu machen. Theodor soll am 20. abends hier eintreffen.

Lebe innigst wohl und komme bald. Gott! welch ein Augenblick, wo ich Dich zuerst wieder in meine Arme schließen werde.

Ewig, ewig Dein. H.

An Christian Gottfried Körner.Schillers Charakteristik Körners: »Ich habe sein Herz noch nie auf einem falschen Klange überrascht; ein kühnes und philosophisch aufgeklärtes Gewissen für die Tugenden und Fehler andrer, ein ängstliches für sich selbst.«.

Wien, 26. Januar 1811.

Ihr Anerbieten, liebster Freund, Ihnen wenigstens, wenn auch nur in Form eines Briefes, einige Gedanken über Schiller mitzuteilen, schlage ich nicht aus und nehme es nicht an. Der Gedanke spricht mich sehr freundlich an; aber je kürzer etwas der Art ist, desto mehr muß es von der Stimmung des Augenblicks abhängen. Warten Sie also nicht und erlauben Sie mir, nichts zu versprechen. Man hält alsdann manchmal weit eher. Auch ohne die herzliche und tiefe Liebe, die ich zu Schiller hegte, kann ich nie ohne große Erschütterung an die Zeit meines Lebens mit ihm denken. Ja, ich gestehe es offenherzig, nicht ohne Scham. Mein ganzes Leben seitdem kommt mir leerer, unbedeutender und weniger befriedigend vor, und doch habe ich nicht umhin gekonnt, in dieser langen Zeit Entwickelungen in mir selbst zu erfahren, die mich minder deutlich fühlen lassen, daß ich auch jene Zeit hätte anders aufnehmen und anders bearbeiten können. Ich habe mir überhaupt oft gedacht, daß es sehr gut wäre, wenn man seinen Tod drei, vier Jahre vorher wüßte. Solange man das Leben als eine unbestimmte Größe ansieht, kann man nicht anders, selbst im höchsten Alter, als es wie ein Kontinuum zu behandeln, sehr vieles zu tun, was nur auf das Leben selbst, nicht auf seine höheren Zwecke, Bezug hat, auch für dieses vieles zu beginnen, oft zu wechseln, wie der Strom, der dem Meere zugeht, immer fortzufließen, und natürlich da oft, sehr oft, sich etwas zu verlaufen. Ganz anders aber wäre es, wenn man das Leben als eine geschlossene Größe betrachtete. Alles Unnütze würde weggeschnitten, die Spannung wäre größer, weil sie kürzer wäre, die Welle strömte in sich zurück, und man wüßte, was man gewesen wäre und werden könnte. Sie wundern sich vielleicht, wie ich diese Betrachtung gerade an Schiller anknüpfe. Aber es geschieht nur, weil es gerade Schillers Eigentümlichkeit mehr als jedes andern Menschen war, sein Streben und sein Leben als etwas Unendliches zu betrachten, indem es ihm genug war, wenn jedes seiner einzelnen Werke einen bedeutenden Moment bezeichnete, ohne daß er je, das erste innere täuschende Feuer zur Arbeit ausgenommen, nur dachte, daß irgendeins das höchste Resultat dessen wäre, was er der Kunst gegenüber hervorbringen konnte. Es lag dies unmittelbar in der höheren Ansicht, die Schiller von allem geistigen Wirken hatte. Jedes erschien ihm immer in seiner ganzen Unermeßlichkeit, alle in ihren vielfachen Verbindungen oder vielmehr in ihrer unzertrennlichen Einheit. Nie hat jemand die Menschheit höher und nie immer so ganz in der Flüchtigkeit ihrer ewig wechselnden Erscheinung aufgenommen. Dies rastlose geistige Fortbewegen eignete ihn auch so vorzugsweise der Poesie und in ihr der dramatischen. Es war eigentlich seine Eigentümlichkeit. In Gang, Miene, Gespräch, in allem drückte es sich aus. Selbst die Kenntnis der Wirklichkeit und der Natur schöpfte er nicht aus der Anschauung, sondern schuf sie mehr durch seine eigene Phantasie. Sie hatte daher auch oft eine andere Farbe, schien minder treu als sie es war. Bewundernswürdig war dann zugleich an ihm die Ruhe und Milde. Niemand kann weniger zerstreut, weniger unstet, mit mehr Liebe bei einem Gegenstande bis zur Erschöpfung verweilen, mehr frei von der abgebrochenen Heftigkeit sein, welche andere Nationen, da nur die Deutschen die eigentliche Leidenschaft kennen, Leidenschaften zu nennen pflegen. Darin lag seine unendliche, sich immer gleiche Liebenswürdigkeit, die, wenn sie mit der Größe zusammenschmolz, ihn, da kein Mensch sich immer gleich sein kann, manchmal im Gespräch so werden ließ, wie ich nie einen andern gesehen habe und mir keinen andern, wenigstens nicht höher, denken kann. Es ist wirklich unbegreiflich, wie unendlich kleiner immer alle andern, die man sonst noch so sehr liebt und ehrt, mir hierin gegen ihn vorkommen, wie beschäftigt mit ihrem Ich, wie beschränkt auf eine einzelne Zone, wie befangen an irgendeiner Seite, wie wenig begeistert durch das augenblickliche Gespräch und dadurch fruchtbar an neuem Stoff, wie nur immer mit dem Herumdrehen des alten beschäftigt. Alles das läßt sich öffentlich nicht sagen, und darum verdrösse es mich, von ihm zu reden. Schiller hatte eine Überlegenheit, die, obgleich niemand so billig und gerecht war als er, obgleich vor keinem Richterstuhl niemand so sehr sein volles Recht empfing, doch eigentlich alle, die eine Empfindlichkeit dieser Art haben, aufregen mußte. Er konnte alle richtig und allseitig beurteilen, ihn eigentlich keiner ganz, weil er auf einer ungleich weniger niedrigen Bahn wandelte, weil man ihn aus jedem Kreise hätte verdrängen können, und er noch immer im Durchschauen aller gleich groß geblieben wäre, weil sein gewöhnliches Leben vom Moment seines Erwachens bis zum Abend so war, daß er alles Gewöhnliche, womit sich doch auch die besten viel und gern und angelegentlich beschäftigen, wie Staub unter sich ließ, und zwar nicht so, daß er irgendeine Beschäftigung, ein Vergnügen, wenn es sich darbot, abgewiesen hätte, immer nur dadurch, daß er jedes anders behandelte. Was andern, auch den hervorstechendsten, begegnet, daß sie zwischen den bessern Momenten Lücken haben, und sie auf wesensfremde oder mechanische Beschäftigungen verfallen, war ihm immer fern. Es ging, in buchstäblichem Verstande, kein Augenblick für seine geistige Tätigkeit verloren. Auch hat dies natürlich ihn früher aufreiben müssen. Auf diese Weise wird Schiller mir immer die merkwürdigste Erscheinung im Leben bleiben, und seine eigenen Briefe an mich geben mir in vielen Stellen das kaum erfreuliche Zeugnis, daß ich mich nicht leicht in Enthusiasmus über die einfache Gestalt der Dinge hinaus hinreißen lasse. Aber wie will, wie kann man ihn so darstellen? Und wie man es anders tut, gibt man der Kritik Blößen. Man kann ihn nur retten, wenn man ihn in seiner ganzen, durchaus nicht abzuleugnenden Größe zeigt. Die Wolzogen und ich haben oft gesagt, man müßte Schilderungen der Menschen, mit denen man gelebt hat, für sich machen und hinterlassen. Und nur so kann man wirklich über Personen reden, die man tief gefühlt hat. Der selbsterlittene Tod muß erst alles versöhnt haben, um Wahrheit als Wahrheit gelten zu lassen. Wenn die Zerstreutheit des Lebens Zeit und Stimmung dazu vergönnte, wäre nichts so hübsch, als solche Erfahrungen niederzulegen und immer wieder umzuschreiben, bis der letzte Zeitpunkt, in dem alles erstarrt, auch das zuletzt Geschriebene fixierte und andern zu weiterm Gebrauch übergäbe. Das, mein bester Freund, ist meine Ansicht von der Sache. Herzlich aber freut es mich, daß dieser Gegenstand, der uns beide näher angeht als sonst irgendjemand auf Erden, uns wieder zusammengeführt hat. Ihr Leben Schillers sähe ich sehr gern vor dem Druck; aber ich fühle, daß Sie eine Handschrift nicht so weit schicken können.

Leben Sie innigst wohl. Humboldt.

An G. H. L. Nicolovius.

Georg Heinrich Ludwig Nicolovius, 1767 geboren, war Humboldts Gehilfe, später Nachfolger in der Leitung des preußischen Kultus- und Unterrichtsdepartements innerhalb des dem Grafen Dohna-Schlobitten übertragenen Ministeriums des Innern. Am 20. November 1810 wurde Nicolovius durch Hardenberg zum Direktor in den Abteilungen des Kultus und öffentlichen Unterrichts ernannt, während Kaspar Friedr. von Schuckmann Chef der Sektion wurde – er stellte die Berliner Universität auf ganz andere Grundlagen als Humboldt, ihr Begründer.

Wien, den 26. Februar 1811.

Unter manchem, was ich seit meinem Hiersein aus Berlin erhalten habe, hat mir nur Ihr Brief, teurer Freund, Mut eingeflößt und für öffentliche Tätigkeit einige Freudigkeit gegeben. Nicht daß Sie mir viel Tröstliches melden; fast im Gegenteil. Aber weil ich sehe, daß Sie mit allem Eifer an dem hängen, was wir zusammen betrieben; daß in Ihnen der Geist ist, der das Gute ohne kleinliche Rücksichten fördert, und daß Sie wenigstens bis jetzt noch einigermaßen haben handeln können.

... Wegen Schuckmann (ich kann Ihnen in diesem Briefe frei reden) kann ich Sie nur bedauern. Ich habe zwar wirklich einen Augenblick im Sinne gehabt, ihn statt meiner (ehe ich annahm) vorzuschlagen. Aber ich habe mich auch gleich geschämt, und ich selbst übersah damals die Sache nicht. Es kann niemand unvorbereiteter in einen Posten kommen, als ich in meinen vorigen. Erst wie ich ihn hatte, hat mich eigenes Nachdenken (wofür ich Königsberg, wo mir Einsamkeit und hübsche Natur Gelegenheit dazu gaben, ewig dankbar sein werde) auf die eigentlichen Gesichtspunkte geführt. Schön hat vielleicht zu schneidend, aber wahr über ihn gesprochen. Er hat und kann nur niedrige, nur Nützlichkeits- und nur Aufklärungsprojekte aus der alten Berliner Periode geben. Im übrigen kann ich ihn nicht beurteilen. Die Sektion war in sich trefflich. Selbst die Elemente, die man bekämpfen mußte, waren noch gut und konnte man noch achten; eins ausgenommen, das, mit einiger Kraft behandelt, sich leicht abfinden ließ. Warum hat man Sie nicht zum Chef gemacht? Ich höre jetzt, daß Sie Ihren Abschied gefordert haben. Ich tadle Sie gewiß nicht, ich glaube aber auch nicht, daß Sie ihn erhalten werden. Man hat Leute von Kraft und Selbstbewußtsein nicht gern, aber man läßt sie auch nicht gehen. Ich fürchte aber etwas andres: Trennung des Kultus und Unterrichts. Ich muß Sie noch einmal davor warnen. Ich habe es, wie Sie wissen, schon immer getadelt, daß Sie wirklich bereits einmal den Plan dazu gemacht hatten. Sagen Sie mir recht bald, welchen Ausgang dies genommen hat.

Von der Lage des Ganzen bei uns kann ich mir, trotz vieler einzelnen Berichte, doch keinen vollkommenen Begriff machen. Aber was mich erschreckt, ist, daß ich um Hardenberg in den ersten Posten keinen Menschen von wahrem Kopf sehe; daß die, die ich für die Klügsten und Besten gehalten habe, gar keine Rolle, und fortwährend keine, spielen; daß dagegen jüngern, die (wie Raumer) mir nur mit vieler Vorsicht gebraucht werden zu müssen scheinen (und doch nenne ich mit Fleiß noch einen der besten), viel eingeräumt wird; daß Landstände auf eine Weise versammelt sind, daß sie weder Vermittler zwischen Regierung und Volk, noch Leiter der ersteren, noch Beförderer eines selbsttätigen Geistes in der Nation sein können; daß endlich die Zügel doch schlaff genug gehalten werden, daß ein Aufstand wie der im Plessischen möglich ist. Ich meine es gewiß gut und treu, ich bin zufrieden mit meiner Lage und verlange keine andre. Ich bin seit langen Jahren gewohnt, Hardenberg zu achten und zu lieben; ich kann nicht so unglücklich sein, schwarz zu sehen, wenn die Sachen gut stehen. Das macht mich fürchten und immer mehr von öffentlichen Geschäften absehen, um eine Privatruhe zu suchen, die in einem Amt, selbst bei vieler Muße, doch Besorgnis und eine unvermeidliche ängstliche Aufmerksamkeit rauben.

Auch studiere ich, soweit ich bei den nicht zu verhindernden Zerstreuungen kann, und suche mich in mich selbst einzuspinnen. Meine Familie ist dabei heiter und wohl und mein Los so glücklich, daß ich mich dessen schämen würde, wenn nicht jeder Tag mehr bewiese, daß ich recht hatte, eine Änderung meiner Lage zu suchen.

Von der Universität kann ich nur die Wunder erwarten, die manchmal ganz unerwartet die gute Konstitution eines Siechenden hervorbringt. Ein Institut, für das noch so viel geschehen mußte und das doch nur, auch so, mit dem allmählichen Heben der ganzen Staatsmaschine und der Nation selbst getragen werden konnte, kann wohl jetzt nicht gedeihen. Es ist genug, wenn es so bleibt, daß die Zeitungen rühmen können, ohne daß sie geradezu Lügen gestraft werden.

Leben Sie herzlich wohl und glücklich, liebster Freund, mit den Ihrigen. Vergessen Sie mich nicht und erhalten Sie mein Andenken auch bei unsern gemeinschaftlichen Freunden. Mit inniger Achtung und Freundschaft

Ihr H.


 << zurück weiter >>