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Leibniz

Im Zwielicht seiner Zeit steht der große Leibniz, wie Luther ebensosehr der Vergangenheit verhaftet, wie Wege in die Zukunft weisend. Vergleicht man die beiden Männer, fällt zunächst das Gegensätzliche ins Auge: Luther bei großem Verstande doch ganz unsystematisch, ein Prophet, hingerissen und andere mit sich fortreißend, oft ungerecht, aber seinem Genius treu, das Schöne liebend, ein träumerisches Kind und ein entfesseltes Element, zwischen Himmel und Hölle nachtwandlerisch gefährliche Wege wandelnd; Leibniz, ein Gelehrter, ein Denker, schöpferisch auf dem Gebiete der Mathematik, bedächtig, immer geneigt auszugleichen und zu versöhnen. Man wird eher an Albertus Magnus erinnert, wie sehr auch der Umkreis des Wissens und der Charakter der Wissenschaft sich seitdem verändert hatte, dem er ähnlich ist in der Universalität und in dem Bemühen, entzweite Volksgenossen zu vereinigen. Alle drei Männer glichen sich in dem Gefühl der Verantwortlichkeit für ihr Volk. Wie Luther hätte auch Leibniz sagen können: Für meine Deutschen bin ich geboren, und ihnen diene ich auch. Deutschland war aber für ihn das Reich, und das Reich war nicht in sich abgeschlossen, sondern strahlte aus in den Erdkreis.

Wie viele seiner grundlegenden Anschauungen wurzelte Leibnizens Ansicht vom Staat im Mittelalter. Er hätte für gut gehalten, wenn Papst und Kaiser gemeinsam an der Spitze der Christenheit gestanden hätten, weil das der Menschheit zum Segen gereichen würde. Er meinte, daß, wie man Geistliches und Weltliches nie ganz trennen könne, Papst und Kaiser einander ergänzen müßten. Der Absolutismus, den die Gelehrten seiner Zeit mit Gründen stützten und den die Herrscher ausübten, war ihm zuwider. Wohl bestimmte er das Wesen des Staates gelegentlich als Person mit einheitlichem Willen; aber im Gegensatz zu Pufendorf, der die Verfassung des Reiches für monströs erklärte, nennt er das absolutistische und zentralisierte Frankreich ein Zerrbild und meint, eine gemischte Verfassung wie die des Reiches sei nicht zu verwerfen, könne vielmehr gut und schön sein wie ein wohltemperierter Chor in der Musik. Ein Zusammenwirken vieler verschiedener Stimmen zu einem wohlklingenden Akkord, das war, was ihm gefiel. Wünschte er auch die kaiserliche Zentralgewalt verstärkt, so wollte er doch die Selbständigkeit der einzelnen Glieder namentlich in ihrem kulturellen Leben erhalten wissen; die große Zahl der freien Städte hielt er für eine Zierde Deutschlands. Unbeschränkte Herrschaft, vollends Willkürherrschaft, widersprach seiner Idee vom Gottesreich als eines Reiches der Gerechtigkeit, das die Menschheit mit Gott verbindet und dessen Abbilder zu werden die irdischen Reiche sich bemühen sollen. Daß er Gott als absolut faßte, bewahrte ihn davor, irdisch-menschliche Einrichtungen für absolut zu halten. Die Verwirklichung des Rechtes, das göttlich und über allem irdischen ist, einem Polarstern gleich, ist nach ihm der Zweck des Staates. Von einer Gleichsetzung des Staates mit der Person des Herrschers nach dem bekannten Ausspruch Ludwigs XIV. wollte er nichts wissen. Der Herrscher, sagte er, sei ein Glied des Staates, nicht der Staat selbst, das Gottesgnadentum lehnte er ab. Da immer ein Mißbrauch der Staatsgewalt zu fürchten sei, müsse man sich bemühen, sagte er, Gesetze zur Verhinderung von Willkürhandlungen zu schaffen. Es sei kläglich und gefährlich, wenn das Heil und die Freiheit vieler Millionen einzig und allein von gehoffter Treue und Wohlverhalten eines einzigen, wenn auch tüchtigen Mannes abhingen. Er sei ein Mensch, veränderlich und der Verführung ausgesetzt, und »solange Menschen«, schrieb er, »nicht Engel sind, ist es rätlich, seinen eigenen Willen für sich zu behalten, statt ihn an die Regierung ganz auf- und hinzugeben, erscheint es rätlich, wenn man sich erlaubt, für sein eigenes Heil selbst zu sorgen.« Er ging so weit, den Untertanen im Notfall ein Widerstandsrecht zuzubilligen. Das Volk sei nicht genötigt, sich durch Laune und Bosheit eines Einzigen verderben zu lassen.

Es ist bei diesen Ansichten nicht zu verwundern, daß er gelegentlich eine Vorliebe für die Staatsform der Republik äußerte, wie sie damals Holland und die Eidgenossenschaft darstellten. Die Monarchen haßten sie, sagte er, weil sie sich nicht leicht über den Stock stoßen ließen und weil sie das Asyl der Emigranten seien, die sich bei Monarchen übel befinden. »Sie machen ihren Nachbarn das Maul nach gleicher Freiheit wässerig, lassen alle Religionen zu, so andere neben sich leiden können, sie lassen sich den gemeinen Nutzen heftig angelegen sein, sind keinen Korruptionen unterworfen, sind Seminaria herrlicher Ingeniorum, so nicht nur Galanterien erfinden und von der Eloquenz Profession machen, sondern Realitäten prästieren, weil in ihrem Vaterland nichts anderes ästimiert wird, auch zu nichts anders erzogen. Es mangelt ihnen niemals an Leuten, haben aus der ganzen Welt Zulauf.« Er meint, daß namentlich Holland diesem Idealbild entspreche.

In der Auffassung des Staates befand er sich in bewußtem Gegensatz zu Hobbes und Spinoza, den Vertretern des strengen Absolutismus, die er beide übrigens hoch schätzte; Spinoza hat er kurz vor dessen Tode besucht.

Daß jedem Bürger Freiheit des Denkens und Glaubens zustehe, hielt er für selbstverständlich. Bei dem ursprünglichen Vertrage, der in bezug auf die Entstehung des Staates vorausgesetzt wurde, haben die Untertanen eine von der Staatsgewalt freie Sphäre sich vorbehalten. Zwang gegen Andersgläubige, ob er nun vom Staat oder von der Kirche ausgehe, hielt er für verwerflich. Je älter er wurde, desto ausgesprochener wurde seine Empfindlichkeit gegen Unrecht, seine Liebe zur Freiheit. Freiheit, aus dem göttlich-natürlichen Recht sich entfaltend und innerhalb des Staates heilig gewahrt, sollte die Grundlage der Kultur sein, die er für das Reich sich wünschte.

Je tiefer die Kultur des deutschen Volkes seit der Glaubensspaltung gesunken war, desto ernstlicher arbeitete er mit Rat und Tat auf Besserung hin. Auf alle Gebiete erstreckte sich seine Einsicht und seine Tätigkeit, beide gleich staunenswert. Um das Schulwesen, den Unterricht der Jugend hatte schon sein Lehrer Weigel in Jena sich bemüht, er folgte dessen Anregungen. Der Unterricht sollte realistisch und volkstümlich sein, das Übergewicht, das die Protestanten dem Humanismus eingeräumt hatten, tadelte er. Die Gründung des Waisenhauses in Halle durch Francke und die damit verbundene Schule begrüßte er um so freudiger, als er selbst ähnliches geplant hatte. Er empfahl Handwerkerschulen, damit die Lehrlinge nicht mehr den Quälereien der Meister preisgegeben wären. Auch zu besserer Ausbildung der Offiziere sollten Schulen eingerichtet werden, damit die deutschen Offiziere an Bildung und Tüchtigkeit den französischen gleich würden. Für die Verpflegung der Soldaten, für Feldärzte und Feldlazarette müsse besser gesorgt werden. Der Armut solle durch Schaffung von Arbeitsmöglichkeiten vorgebeugt werden. Werkhäuser sollten errichtet werden, in denen Müßiggänger, Bettler und Übeltäter zur Arbeit angeleitet werden, anstatt an die Galeeren geschmiedet oder zum Tode verurteilt zu werden. Sehr beklagte er, daß die Volkswirtschaft in Deutschland so ganz im argen liege. »Ich bin schon längst überzeugt«, schrieb er, »daß die Volkswirtschaft die wichtigste unter den Staatswissenschaften ist, und daß Deutschland über deren Unkenntnis und Vernachlässigung noch zugrunde gehe.« Die Landwirtschaft betreffend riet er zur Herstellung geeigneten Bodens für die verschiedenen Pflanzengattungen, zur Erhaltung der Forsten, zu Anpflanzung von Bäumen, von Klee und Kartoffeln. Bedeutend war seine Wirksamkeit für das Bergwesen. Überall dachte er an Hebung des Wohlstandes und der Tätigkeit in geistiger und materieller Hinsicht an Hand von Vernunft, Erfahrung und Wissenschaft. Alle die Anleitungen, die er auf den verschiedensten Gebieten gab, waren nicht zufällig aufgelesen oder geistreiche Einfälle, sondern beruhten auf gründlicher Kenntnis. Es war ihm eigentümlich, jede Sache, mit der er sich abgab, von Grund auf kennenzulernen, fast in jeder hatte er eine eigene, fruchtbare Auffassung. Ihm eigentümlich war es ferner, wie es schon aus den eben geschilderten Bemühungen hervorgeht, die Wissenschaft auf das praktische Leben anzuwenden. Das macht sich auch in allen seinen Plänen für wissenschaftliche Akademien geltend. So sehr er Denker war, so wenig war er, was man sich unter einem Stubengelehrten vorstellt.

Wie in der Ansicht vom Staate, so war er auch in der Philosophie noch vom Strome mittelalterlichen Denkens berührt. Bei seiner genialen mathematischen Begabung hätte er leicht von der mechanischen Richtung des Zeitalters ergriffen werden können. Die damalige Wissenschaft neigte dazu, das gesamte menschliche Geistesleben auf mathematische Formeln zu bringen; die Welt als ein Uhrwerk, Mensch und Tier als Maschinen aufzufassen. Der berechenbare Zusammenhang von Ursache und Wirkung, der Zwang der mathematischen Beweise, schien alle Erscheinungen in der Natur und alles menschliche Geschehen zum notwendigen Ablauf machen zu können. Die Versenkung in das Mysterium des heiligen Abendmahls, in die praesentia realis Christi im Brot und Wein, soll den jungen Leibniz zu der Einsicht geführt haben, es müsse im Körperlichen etwas Geistiges, Ewiges und Unzerstörbares sein, das er in der Folge Substanz nannte. Wie es sich mit dieser Überlieferung auch verhalten möge, es ging ihm die Idee des Geistes als einer lebendigen Kraft auf, die von der Natur verschieden, aber nicht von ihr zu trennen sei, sie vielmehr erfülle. Es ist bekannt, daß er dem Ausspruch Lockes, nihil est in intellectu quod non fuerat in sensu mit der Entgegnung widersprach: nisi intellectus ipse. Seine Idee von der menschlichen Seele als eines eigentümlichen, unzerstörbaren Kraftmittelpunktes und des allumfassenden Kraftmittelpunktes Gott ist eine Übertragung christlichen Glaubens in philosophisches Denken. Indessen blieb ihm, wenn er auch das Urrecht des Geistes wahren wollte, die Neigung, das Quod erat demonstrandum auch auf das Göttliche anzuwenden.

Bei aller oft betonten Anhänglichkeit an das Christentum hatte er Luthers Glaubenskraft nicht, ja man kann zweifeln, ob er überhaupt im lutherischen Sinne gläubig war, wenn er sich auch gern von lutherischer Gläubigkeit erwärmen ließ. Er hatte eine außerordentliche Verehrung für Luther und hing an seinem protestantischen Bekenntnis. Ein Gegner des Katholizismus war er so wenig, das er vielfach für einen heimlichen Katholiken gehalten wurde, aber sein Grundgefühl war protestantisch, wenn er sich dessen auch nicht von Anfang an bewußt war. Zu seiner Zeit war das Wesen des Protestantismus, nämlich das Absehen von der Kirche und ihren Dogmen in der Beziehung zu Gott und dem Überirdischen überhaupt, bereits so stark in die Bevölkerung eingedrungen, daß man von einer protestantischen Grundauffassung sprechen kann, von der der einzelne sich loszulösen kaum imstande gewesen wäre. Leibnizens Duldsamkeit gegenüber anderen Bekenntnissen, sein Eingehen auf abweichende Meinungen war nicht durch religiöse Gleichgültigkeit oder durch Unbestimmtheit des eigenen Standpunktes bedingt, sondern durch die Höhe desselben. Gemäß dem Worte Christi: »In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen«, wollte er der Individualität Spielraum lassen, wenn er nur der gemeinsamen Unterordnung unter das göttliche Absolute gewiß war.

Wie schwer ist es, das geistige Leben eines Menschen, und besonders eines bedeutenden Menschen, der sich in einem langen Leben entwickelt, auf eine Formel zu bringen! Kann man Leibniz fromm nennen? Es sind Züge einer beinah kindlichen Frömmigkeit an ihm wahrzunehmen, er las viel in der Bibel, bewunderte und liebte sie; überwiegend aber haftet seinen Äußerungen über Religion doch die Trockenheit und Beschränktheit seiner rationalistischen Zeit an. Die geoffenbarte Religion ließ er gelten; aber er hielt sie für überflüssig, da das Wesentliche der Religion in der Vernunft gegeben sei; die Religion mußte sich seiner Meinung nach vor der Vernunft ausweisen. Es lag ihm am Herzen, die Vorwürfe zu entkräften, die viele Menschen Gott vorzuhalten pflegen, weil er das Böse in der Welt zulasse, und er unternahm das in einem gründlichen Werke, der Theodizee. Kann der Gläubige schon diesen Rettungsversuch beanstanden, so müßte ihn vollends die Art der Beweisführung abstoßen: Gott wird bei ihm bedenklich einem Professor ähnlich, der mit logischen Kategorien hantierend den Nutzen und die Glückseligkeit der Menschen auf zureichenden Gründen aufbaut. Wenn wir leiden, sollen wir doch erkennen, daß unser Leiden vernünftig und darum notwendig und befriedigend ist. Gott kann nichts dafür. Leibniz wußte sich gut in Gott einzufühlen und die Beweggründe, warum er das Übel in der Welt leidet, klug nachzuweisen; aber war das noch Gott, dem die Menschen so auf die Finger sehen können? Der denkende Leibniz betrachtete Gott zwar mit Respekt, aber doch, als verstehe sich das von selbst, als einen Gegenstand, den die Vernunft nach Maßgabe ihrer Regeln untersuchen und einordnen kann. Auch die Würde und Macht des Bösen verkannte er; es war für ihn nur ein Triebrad, das den guten Zweck des Ganzen befördern muß. Leibniz hat von sich gesagt, daß er bei den Worten und den übrigen Zeichen der Seele immer die Klarheit, bei den Dingen aber den Nutzen suche, ferner daß er das Tragische nicht liebe, sondern nach einem friedlichen Ausgleich suche. Für das Tragische der christlichen Religion fehlte ihm in der Tat der Sinn. Er sah eine helle Religion, in die der scharfe Schatten des Satans nicht hineinfällt.

Und doch hatte der Mann des friedlichen Ausgleichs ein tragisches Leben. Als Jüngling kam er unter den Einfluß des Kurfürsten von Mainz, der unter dem Schutze Frankreichs eine große Rolle im Reich zu spielen hoffte. In seinem Auftrage schrieb er das Consilium Aegyptiacum, das bestimmt war, Ludwig XIV. von Angriffen auf Holland abzuhalten, indem man ihm die Vorteile ausmalte, die ihm durch Eroberung Ägyptens und damit des Handelsweges nach dem Orient zufallen würden. Der König hat die Schrift, die Leibniz selbst nach Paris brachte, nicht gelesen, und sein Minister hat sie nicht ernst genommen. Es ist begreiflich, daß der hochbegabte und strebsame junge Deutsche sich in Paris wohl fühlte, wohler als in der Enge und Gebundenheit der Heimat. In Paris war eine Atmosphäre von Kultur, war wissenschaftlicher Betrieb, waren Gelehrte, die ihm liebenswürdig und wohlwollend entgegenkamen, seine Begabung bald erkannten, seine Leistungen bewunderten, mit denen er in einen anregenden Austausch von Gedanken und Erfindungen treten konnte. Es gab hier einen Kreis von Menschen, die das Gefühl beherrschte, daß durch die Wissenschaft Allergrößtes zu erreichen, jedes Problem zu lösen sei. Er fühlte sich beschwingt und frei in einem Reich jenseits nationaler Schranken.

Die europäische Lage brachte ihm bald die nationalen Gegensätze zum Bewußtsein und zugleich sein Deutschtum. Die Raubkriege des Königs von Frankreich weckten seinen patriotischen Zorn und seine Kampflust, die deutschen Verluste seinen bitteren Schmerz. Wie leidenschaftlich er aber auch für Deutschlands Ehre eintrat, so blieb ihm doch jene Art der Vaterlandsliebe fremd, die die anderen Länder wesentlich in ihrem Gegensatz zum eigenen betrachtet. Für den kultivierten Menschen hält er es für selbstverständlich, daß er sich über »die Affekte der Parteien« erhebt und das gemeinschaftliche Vaterland des menschlichen Geschlechtes im Auge hat. Und doch hat er sein ganzes Leben hindurch bewiesen, wie erpicht er auf die Deutschen war! Zugleich Deutscher und Weltbürger zu sein, war ihm natürlich, es war kein Problem für ihn. Einen Brief seines Bruders, der ihn, als er in Paris war, ermahnen zu müssen glaubte, daß er die Pflicht gegen sein Vaterland nicht vergesse, wies er mit ziemlicher Schärfe zurück; im Bewußtsein ein Deutscher zu sein, wollte er sich von niemandem vorschreiben lassen, wie er als Deutscher denken und handeln müsse. Er fühlte sich als Glied des deutschen Volkes, das zum Träger des Reiches auserlesen war, des Reiches, dessen Bestimmung war, dem Gottesreich ähnlich zu werden.

Allerdings, was hatte die Zeit aus dem herrlichen Riesengewächs des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gemacht! Die Feinde, die an den Wurzeln der Weltesche nagten, hatten ihre Äste morsch und ihre Blätter welk gemacht. Leibniz wäre gern in den Dienst des Kaisers getreten; aber am Hofe zu Wien hatten die Jesuiten Einfluß, die seine Gegner waren, auch hätte er sich nicht zum Glaubenswechsel bequemt, der unerläßliche Bedingung war, wenn er eine hohe Stelle bekleiden wollte. So mußte er denn an dem kleinen Hofe von Hannover bleiben als Diener eines jener Fürsten, deren hauptsächliches Bestreben war, sich über den Nachbar zu erheben, die das Wohl des Reiches ihren mehr oder minder kleinlichen Sonderinteressen aufopferten. Das Interesse, das der eine oder andere für die Wissenschaften hegte, war nah verwandt mit der Lust am Kuriosen, für andere waren die Gelehrten eine Unterhaltung bei Tisch, wenn nicht eine Art Hofnarren. Leibniz genoß wenigstens den Umgang der Kurfürstin Sophie und ihrer Tochter Sophie Charlotte, die beide den Geist und die persönliche Anziehungskraft aller der Sprößlinge Friedrichs von der Pfalz und der Elisabeth Stuart hatten. Wie oft geschlechtlich nicht besonders reizbare Männer war er ein Freund der Frauen. Solange Ernst August, Sophiens Gatte, lebte, machte sich ihr Einfluß in der Achtung geltend, die Leibniz gezollt wurde, für dessen Sohn und Nachfolger, Georg, den späteren König von England, war der große Mann nicht mehr als ein ziemlich überflüssiger Diener, der rüden Befehlen zu gehorchen hatte. Am Glanze des Hofes, am Verkehr mit dem Hofadel lag ihm nichts; wenn er trotzdem sein Leben am Hof und im Fürstendienst zubrachte, so war das die Folge davon, daß mit wenigen Ausnahmen die Höfe die Mittelpunkte geworden waren, von denen eine Wirksamkeit ausgehen konnte. Der Hof gewährte ihm eine Stätte, wo er unbehelligt, wenn auch nicht immer nach freier Wahl, arbeiten konnte; da lebte er wie ein Adler im Käfig. Denkt man an seine Leistungen und liest man seine Worte, so spürt man den Hauch eines hohen, freien, tiefeindringenden, umfassenden Geistes, eines mächtigen Willens; durch die Gassen von Hannover ging ein zurückhaltender, genügsamer Mann, von dem bei aller Hochachtung nicht viel Notiz genommen wurde. Als er im Jahre 1716 siebzigjährig starb, wurde sein Tod kaum bemerkt, man weiß nicht mit Sicherheit, wo seine Gebeine ruhen. Seinem Sarge folgte nur sein Sekretär. Während sein Gedächtnis in der Pariser Akademie der Wissenschaften gefeiert wurde, schwieg die von ihm gegründete in Berlin.

Mögen uns über das einsame Ende des großen Deutschen die Worte trösten, die er selbst einmal niedergeschrieben hat, vielleicht in einer Stunde, wo ihn das Gefühl der Verlassenheit bewegte: »Ein Hauptsatz meiner Philosophie im Einklang mit der Heiligen Schrift ist, daß keine Kraft sich verliert, sie wird nur verpflanzt, sie zerstreut und sammelt sich wieder, nicht bloß die Seelen dauern, sondern noch mehr, selbst alle Handlungen leben fort, die vorangehenden reichen den kommenden die Hand. Und so wünsche ich nur als Grabschrift den Vers: Was ich besaß im Geist, was freudig vollbracht, war mein eigen – – Was ich gesät, ich laß es ruhig: mir folgen die Werke.«


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