Annie Hruschka
Der Feind aus dem Dunkel
Annie Hruschka

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XXII.

Oberst von Eltz saß in seinem Arbeitszimmer am Fenster und las wie jeden Morgen um diese Stunde die Morgenzeitung.

Das heißt, er hielt sie in der Hand und warf ab und zu einen zerstreuten Blick darauf. In Wahrheit waren seine Gedanken mit ganz anderen Dingen beschäftigt als mit Politik oder den Neuigkeiten des Tages.

Die letzte Aussprache mit Serena hatte einen tiefen Eindruck in ihm hinterlassen, und jedesmal, wenn er seitdem in ihr stilles bleiches Gesichtchen blickte, das so deutlich den Ausdruck trauriger Ergebenheit trug, erfaßte ihn dieselbe heimliche Unruhe, wie damals am Schluß jener Unterredung.

Stand er nicht im Begriff, sie zu verlieren, wenn er seinen eingeschlagenen Weg weiterging? Hatte er sie nicht schon zum Teil verloren, und zwar seit langem schon?

Es hatte eine Zeit gegeben, da sie alles, was sie bewegte, mit ihm zuerst besprach, wo ihre Seele vor ihm lag wie ein aufgeschlagenes Buch.

Jetzt war es zugeschlagen. Ihre Liebe, ihr Leid, ihre Sorgen – sie sprach nie darüber, machte alles still mit sich selber aus.

Sein Herz litt unsagbar darunter, viel mehr als er je für möglich gehalten hätte.

Er war ehrlich genug, sich einzugestehen: Ich selbst bin schuld daran! Alles wäre heute anders, hätte ich von Anfang an mein Herz allein zu Worte kommen lassen, anstatt des Verstandes!

Aber diese Erkenntnis in Worte zu kleiden, einzugestehen: Ich war im Unrecht und möchte heute gutmachen – das lag nicht in der Natur des Obersten. . . .

In diesen Gedanken wurde Herr v. Eltz gestört durch den Eintritt seiner Tochter.

Serena war zum Ausgehen angekleidet, und in ihren Zügen lag ein seltsames Gemisch von schmerzlichem Bangen und fester Entschlossenheit.

»Papa,« sagte sie, »hättest du ein paar Minuten Zeit für mich? Ich möchte dir etwas sagen.«

Der Oberst war aufgestanden und seiner Tochter entgegengegangen. Jetzt führte er sie an den Kamin, wo zwei Klubstühle standen.

»Welche Frage, mein Kind! Als ob ich für dich nicht immer Zeit hätte! Nimm Platz und sprich! Kann ich dir einen Wunsch erfüllen?«

»Nein, es handelt sich nur um eine Sache, die ich dir mitteilen möchte, ehe ich an ihre Ausführung gehe. Du wirst dich erinnern, daß ich seinerzeit zuerst durch dich erfuhr, welch schwerer Verdacht auf Hartwig Henter ruht und daß man von seiten der Behörde die Absicht habe, ihn beobachten zu lassen.«

Auf der Stirn des Obersten waren ein paar Falten erschienen, doch sagte er nichts als: »Ja. Ich hatte es vom Untersuchungsrichter Dr. Wasmut erfahren.«

»Und damals«, fuhr Serena mit gesenktem Blick fort, »packte mich eine namenlose Angst, wie Hartwigs Stolz diesen Verdacht und die sich daran knüpfenden Maßnahmen ertragen werde. Wir hatten einander seit zwei Jahren weder gesehen noch geschrieben, er konnte also nicht wissen, wie ich selbst mich zu diesem Verdacht stellen werde . . ., möglicherweise konnte er glauben, meine Liebe sei irgendwie dadurch berührt worden . . ., kurz, ich schrieb ihm damals, daß ich ihn unbedingt sprechen müsse, und bestellte ihn für denselben Abend in den Ybbenburger Park. . . .«

»Serena! Das hast du getan? Und . . . hinter meinem Rücken?!« rief der Oberst schmerzlich betroffen.

»Ich konnte nicht anders, Papa! Hätte ich es dir vorher gesagt, würdest du es gewiß mit allen Mitteln verhindert haben. Und doch mußte ich mich mit Hartwig aussprechen . . ., mußte ihm sagen, was sich drohend gegen ihn zusammenbraute, ehe er es von andern erfuhr. Wenn er mich auf seiner Seite wußte, würde er es leichter ertragen, dachte ich. So war es auch. Aber glaube nicht, daß es mir leicht wurde, etwas hinter deinem Rücken zu tun! Es war mir furchtbar schwer und ich könnte und möchte es kein zweitesmal tun, darum kam ich heute zu dir.«

»Was willst du tun?« fragte der Oberst tonlos.

»Meine Pflicht. Jene Zusammenkunft im Ybbenburger Park wurde beobachtet, nur daß man mich dabei nicht erkannte, sondern glaubte, Hartwig habe ein Stelldichein mit Lydia Holzmann. Man erblickt nun darin einen Beweis, daß er tatsächlich ein Verhältnis mit Lydia gehabt habe, um so mehr, als Hartwig jede Auskunft über die Dame, in deren Gesellschaft er sich damals befand, verweigert. Natürlich schweigt er nur aus Rücksicht auf mich und ahnt wohl nicht, wie sehr er durch dies Schweigen den auf ihm ruhenden Verdacht verstärkt. Ich habe dies alles gestern erst von Major v. Marchstätten erfahren, und natürlich ist es nun meine Pflicht, dem Untersuchungsrichter die volle Wahrheit zu sagen. Ich stehe im Begriff, dies jetzt zu tun, aber ich kann es nicht tun, ohne erst dir die Wahrheit zu sagen. Lieber Papa, ich weiß ja, daß es dir sehr schwer sein wird, wenn ich mich und meinen Ruf nun der Öffentlichkeit preisgebe, aber . . ., ich kann doch nun einmal nicht anders handeln!«

Tiefes Schweigen folgte diesen Worten. Der Oberst blickte unverwandt auf das Teppichmuster zu seinen Füßen.

Serenas Herz klopfte bang. War das die Ruhe vor dem Sturm? Würde ihr Vater nun gleich von Schmerz und Zorn übermannt losbrechen und sie mit Vorwürfen überschütten, vielleicht gar sich von ihr lossagen wollen?

Aber kein Wort unterbrach die lastende Stille. Nur ein schwerer Seufzer hob die Brust des Vaters, . . . traf das Herz der Tochter so tief, daß es erbebte, und . . . verklang im Raum.

Dann aber erhob sich der Oberst plötzlich, wie unter einem jäh gefaßten Entschluß.

»Willst du mir eines gestatten, Serena? Daß ich dich . . . auf diesem Weg begleite?«

Und auf ihren bang und unsicher erhobenen Blick setzte er rasch hinzu: »Fürchte nicht, daß ich dich hindere! Wenn es mein Wunsch ist, mit dir zu kommen, so geschieht es nur aus dem Gefühl heraus, daß ich mein Kind nicht allein wissen möchte in einer schweren Stunde!«

»Papa . . .!?« Serena stammelte es leise und beklommen, während ihr Blick ungläubig den des Vaters suchte. Aber was sie in dessen Augen las, überwältigte sie so völlig, daß sie kein Wort mehr hervorbrachte, sondern sich aufschluchzend an des Obersten Brust warf. Seit langer Zeit zum erstenmal war es Freude und nicht Schmerz, was ihr Tränen erpreßte.

Auch der Oberst war bewegt. Wenn es auch nicht gerade Freude war, was sein Herz schneller schlagen ließ – denn dazu lag für ihn ja wahrlich keine Veranlassung vor – so fühlte er sich doch in seinem Innern freier als seit langer Zeit.

Eine halbe Stunde später verließen Vater und Tochter das Haus, um sich zum Untersuchungsrichter zu begeben. – – –

Zwei Tage später, als Silas Hempel gegen Abend den Major von Marchstätten aufsuchte, um sich nach dem Befinden von dessen Tochter zu erkundigen, sagte er unter anderem. »Sie haben mir neulich von diesem Fräulein v. Eltz erzählt, Herr Major, und ich las gestern mit großem Interesse über ihre Unterredung mit dem Untersuchungsrichter. Alle Achtung vor dem Mut der jungen Dame! Es gehört schon etwas dazu, sich in ihrer Stellung als reiche junge Dame von tadellosem Ruf vor der Öffentlichkeit als Verlobte eines Mannes zu bekennen, der als Mörder im Gefängnis sitzt!«

»Nicht wahr? Aber Serena hat noch viel Schwereres zustande gebracht. Wie sie mir gestern abends, wo sie einen Sprung zu uns machte, erzählte, hat ihr Vater sie aus freien Stücken zum Untersuchungsrichter begleitet und mit keinem Wort versucht, ihre Erklärungen abzuschwächen. Wenn man den herrischen, stolzen und hartnäckigen Charakter des Obersten v. Eltz kennt, der bisher ein leidenschaftlicher Gegner der Neigung seiner Tochter war, so kann man dies kaum begreifen! Serena selbst kam es ganz unerwartet, obwohl es schließlich nur eine Folge ihres eigenen tapferen Verhaltens sein kann. Die tiefe Liebe Serenas und der bewundernswerte Mut, mit dem sie an dem Mann ihrer Wahl festhielt, haben den Obersten offenbar überwunden.«

»Ja, dieser Mut ist zweifellos zu bewundern! Ich würde mich freuen, die junge Dame kennenzulernen, um ihr das selbst sagen zu können!«

»Wie wird Serena sich freuen, wenn ich ihr dies mitteile! Darf ich sie Ihnen nächstens einmal bringen?«

»Sie würden mir damit ein großes Vergnügen machen. Junge Damen mit so ausgeprägt heroischem Charakter sind selten.« – – –

In Gedanken verloren schritt Silas durch die Dämmerung heim. Indes wurden diese bald verdrängt durch heftigen Zahnschmerz, der ihn schon seit ein paar Tagen quälte, sich jetzt aber bis zur Unerträglichkeit steigerte.

Schon gestern hatte er einen Zahnarzt aufsuchen wollen, doch versäumte er so viel Zeit draußen an der Villa Lotos, deren Umgebung er nach frischen Fußspuren absuchte, daß es dann zu spät geworden war. Fußspuren – d. h. die eine, besondere, die er suchte, hatte er trotzdem nicht gefunden, woraus er schloß, daß Dr. Foster noch immer verreist sein mußte.

»Und das ist gut,« dachte Silas jetzt, »denn nun muß ich morgen doch endlich zum Zahnarzt, um die dummen Schmerzen, die mich am Arbeiten hindern, loszuwerden.«

Die Schmerzen wurden dann so arg, daß an Schlafen nicht zu denken war. So legte er sich gar nicht erst zu Bett, sondern blieb angekleidet am offenen Fenster, weil die Kühle der Nachtluft ihm wohltat. Übrigens war es, trotzdem man Dezember schrieb, eine auffallend milde, beinahe laue Nacht, da seit zwei Tagen Tauwetter eingetreten war und Schirokko sich bemerkbar machte.

Im Zimmer nebenan schlief Herr Rosner längst den Schlaf des Gerechten. Gegen Mitternacht ließen Hempels Schmerzen etwas nach und er wollte gerade zu Bett gehen, um doch noch zu versuchen, ein paar Stunden Schlaf zu finden, als ein Geräusch ihn aufhorchen ließ.

Es war ein ganz leises Knacken gewesen, gerade als ob etwas zugeklappt worden wäre.

Hempel stand noch am offenen Fenster. Angestrengt horchte er hinaus in die Nacht, dabei unwillkürlich den gegenüberliegenden Schuppen ins Auge fassend.

Sollte der Mörder endlich wiedergekommen, der heimliche Lichtsignalapparat doch nicht umsonst angelegt worden sein?

Wenn das Geräusch, das er vernommen, vom Öffnen des linken Seitenfensters herrührte, dann mußte der Apparat jetzt gleich funktionieren und hier im Zimmer das Licht aufflammen.

Aber es blieb dunkel und still.

Enttäuscht starrte der Detektiv hinaus in die Nacht. Hatte er sich getäuscht? Das Geräusch war allerdings so kurz und leise gewesen, daß trotz seines scharfen Gehörs eine Täuschung nicht ausgeschlossen war. . . .

Da fuhr Silas plötzlich zusammen. Draußen am Kiesplatz zuckte jäh ein scharfer Lichtstrahl auf, glitt sekundenlang wie ein schmales Band darüberhin und erlosch so plötzlich, wie er gekommen war.

Im ersten Augenblick konnte er nicht begreifen, woher der Lichtstrahl gekommen war. Denn der Schuppen war dabei völlig dunkel und der Kiesplatz davor leer geblieben, obwohl man in dem grellen Lichtschein, der darüberhin zuckte, selbst eine Maus hätte sehen müssen.

Aber schon in der nächsten Minute begriff Silas: Das Licht konnte nur aus den Fenstern des ersten Stockwerks gekommen sein, und zwar aus einer elektrischen Taschenlampe oder aus einer Blendlaterne, die für Sekunden mit der Lichtseite gegen die Fenster gekehrt gewesen war – vermutlich bloß zufällig.

Hempel stürzte ins Nebenzimmer und rüttelte den Hauswart wach.

»Schnell – es ist wieder jemand im Haus!« raunte er ihm zu und war auch schon draußen im Flur verschwunden. Dort erst kam ihm zum Bewußtsein, daß er Stiefel an hatte. Hastig entledigte er sich ihrer und flog die Treppe hinan.

Wie das erstemal stand die Wohnungstür oben offen. Silas war also überzeugt, daß abermals nur Lydia Holzmann die nächtliche Besucherin sein konnte, denn nur sie allein besaß die nötigen Schlüssel.

Silas horchte nach unten, aber von Rosner ließ sich nichts hören. Offenbar war er, so mitten aus tiefstem Schlaf geweckt, nicht gleich mit dem Ankleiden zurechtgekommen.

Silas betrat also die Wohnung oben allein. Diesmal war der Vorraum völlig dunkel, und der Detektiv bedauerte schon, in der Eile seine Taschenlampe nicht mitgenommen zu haben, als er unter einer der Türen einen fadendünnen Lichtstreifen sah.

Dort mußte sie also sein.

Es war die Tür zum Herrenzimmer.

Hempel überlegte. Sollte er die Tür einfach leise öffnen, um zu sehen, was Frau Holzmann innen tat? Wenn sie wie das erstemal im hypnotischen Schlaf war, würde sie ihn wahrscheinlich kaum gewahr werden. Indes schien es ihm dann doch zu gewagt. Sicherer war, erst durch das Schlüsselloch Einblick zu gewinnen.

Und das war sehr klug, denn schon der erste Blick durch dasselbe zeigte ihm etwas, auf das er nicht im entferntesten gefaßt gewesen.

Nicht Lydia stand mit dem Rücken gegen die Tür gekehrt vor einem Schreibtisch, dessen Laden aufgezogen waren, sondern ein junger schlanker Mann!

Der Mörder! durchfuhr es Hempel wie ein elektrischer Schlag. Ja, es konnte nur der Mörder sein, der irgendwie von Lydia die Schlüssel bekommen hatte und hier nun dasjenige suchte, wonach er bereits im Schuppen und Lydia in seinem Auftrag hier vergeblich gesucht hatte.

Silas war so aufgeregt, daß er am ganzen Leib zitterte. Er wagte kaum zu atmen und starrte nur fasziniert auf den Mann, den er so lange gesucht und nun endlich, wo er es am wenigstens erwartet hatte, in seine Gewalt bekam.

Welches Glück, daß der Schreibtisch gerade der Tür gegenüberstand, also in das kleine Gesichtsfeld fiel, das ihm durch das Schlüsselloch sichtbar war! Welches Glück, daß er den Haftbefehl in der Tasche trug! So brauchte er nur zu warten, bis der da drin fertig war, um ihn beim Verlassen des Zimmers in Empfang zu nehmen wie eine reife Frucht. . . .

Während er lautlos seinen Revolver zog und entsicherte, hing sein Blick unverwandt an dem Mann im Zimmer.

Dieser stand noch immer über ein aufgezogenes Fach gebeugt und kramte in dessen Inhalt. Silas sah einen Kopf mit schwarzlockigem Haar, der zuweilen ungeduldig geschüttelt wurde, er sah eine schlanke Männerhand mit langen weißen Fingern, an der zuweilen ein Solitär aufblitzte, und nun sah er auch bei einer Wendung, die der Mann machte, dessen Profil.

Es war dasselbe Gesicht, das er damals nachts an der rückwärtigen Gartenpforte erblickt hatte, das Gesicht, von dem Ingenieur Holzmann gesagt hatte, daß es, einmal erblickt, nie wieder vergessen werden könne. . . .

 


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