Annie Hruschka
Der Feind aus dem Dunkel
Annie Hruschka

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X.

Hartwig Henter war tagsüber ganz in die Arbeit vertieft und vermied es so viel wie möglich, sein Bureau zu verlassen. Der Gedanke, sobald er die Straße betrat, unablässig von einem Spion heimlich begleitet zu werden, war ihm unerträglich. Da ging er lieber gar nicht aus.

Aber auf die Dauer erwies sich dieser Entschluß doch als nicht durchführbar. Henter war gesund und kräftig, er bedurfte der Bewegung, und das anhaltende Sitzen raubte ihm bald Schlaf und Appetit. Kopfschmerzen quälten ihn, und er vermochte nicht mehr so zu arbeiten wie früher.

Sein Bahnprojekt war inzwischen fertiggestellt und eingereicht worden. Ehe er eine neue Arbeit begann, wollte er sich nun, um alle Unpäßlichkeiten loszuwerden, erst einmal gründlich auslaufen.

Er wählte dazu die späten Abendstunden, wo es überall wenig Menschen gab, und wanderte hinaus vor die Stadt, immer geradeaus der Landstraße nach. Hartwig kümmerte sich nicht darum, ob man ihm folgte oder nicht, er wollte es lieber gar nicht wissen.

Ringsum lag Schnee, denn es hatte in den letzten Tagen ausgiebig geschneit. Hartwigs Gedanken waren bei Serena, die er seit jener letzten Zusammenkunft im Ybbenburgerpark nicht mehr gesehen hatte. Wie es ihr wohl gehen mochte? Ob sie an ihn dachte und ob sie noch mit Lydia Holzmann verkehrte? Er hatte ganz vergessen, danach zu fragen. . . .

In seine Gedanken vertieft, war er bis an die zweite Bahnstation außerhalb der Stadt gekommen, denn die Straße lief immer neben der Eisenbahnlinie hin.

Unschlüssig blieb er stehen, gerade als in der kleinen Ortschaft hinter ihm die Kirchturmuhr Mitternacht schlug. Hartwig nahm es als Mahnung, umzukehren und den Heimweg anzutreten. Er war kaum fünf Minuten in der entgegengesetzten Richtung gegangen, als dicht vor ihm aus einem Seitenweg ein Auto in die Landstraße einbog. Es schien von einer seitwärts gelegenen Villa zu kommen, deren Erdgeschoßfenster trotz der späten Stunde noch erleuchtet waren.

Hartwig hätte nicht weiter darauf geachtet, wenn der Wagen nicht so rasch und knapp vor ihm in die Straße eingebogen wäre, daß er sich nur durch einen Sprung nach rückwärts vor dem Überfahrenwerden retten konnte.

Ärgerlich blickte er dem davonsausenden Auto nach, in dem, wie er sah, nur eine Dame allein saß. Dann setzte er seinen Weg nach der Stadt in beschleunigtem Tempo fort.

Eine halbe Stunde später, als er eben um eine Krümmung der Straße kam, sah er dasselbe Auto mitten auf der Straße stehen. Es schien eine Panne gehabt zu haben, denn der Wagenlenker hockte unter ausgekramten Werkzeugen davor und machte sich am rechten Vorderrad zu schaffen.

Die Dame war ausgestiegen und schritt an der rechten Straßenseite im tiefen Schatten des angrenzenden Waldes auf und ab, offenbar, um sich zu erwärmen, denn die Nacht war bitterkalt.

Ohne sie zu beachten, trat Hartwig an den Wagenlenker heran.

»Kann ich Ihnen behilflich sein? Ich verstehe mich auf Maschinen.«

»Danke, am Motor ist alles in Ordnung, nur eine Pneumatik ist geplatzt, aber ich werde es gleich wieder instand haben.«

Hartwig wollte noch etwas sagen, als eine bekannte Stimme hinter ihm, überrascht und erfreut, ausrief: »Hartwig, Sie? Ich habe Sie gleich an der Stimme erkannt! Welch unerwartetes Zusammentreffen!«

Maßlos erstaunt fuhr er herum.

»Lydia!?«

Aber war das wirklich Lydia Holzmann? Dieses krankhaft abgemagerte Wesen mit den übergroßen verstörten Augen und den nervös zuckenden Mundwinkeln?

Jugend und Schönheit schienen von ihr gewichen, seit er sie zum letztenmal kurz nach ihres Mannes Tod gesehen.

Unruhig und bestürzt starrte Hartwig die junge Witwe an.

»Lydia . . . wie kommen Sie hieher um diese späte Stunde . . .? Und – sind Sie denn krank gewesen?« drängte es sich unwillkürlich über seine Lippen.

»Warum? Weil ich schlecht aussehe?« antwortete sie mit schmerzlichem Lächeln. »Das ist doch so natürlich, Hartwig . . .! Wo ich war? Bei Alwingens. Sie wohnen in der Villa ›Lotos‹, und Justa Alwingen ist, wie Sie sich erinnern werden, eine Freundin von mir.« Sie sagte es rasch und mechanisch, wie eine Lektion, her.

»Justa Alwingen? Ach ja, jetzt erinnere ich mich: Die junge Dame mit den zusammengewachsenen Augenbrauen und dem merkwürdigen Blick! Sie ist, glaube ich, Spiritistin oder so etwas Ähnliches? Sie nannten sie früher ein wenig verrückt und verkehrten nicht gern mit ihr. Hat sich das nun geändert?«

»Gänzlich! Ich bin jede Woche mehrmals in der Villa Lotos und verkehre überhaupt nur mehr dort.«

»Aber Sie beteiligen sich doch hoffentlich nicht an spiritistischen Sitzungen oder sonstigen Verrücktheiten, Lydia?«

Sie blickte an ihm vorüber ins Weite, und es fiel ihm auf, daß ihr Blick etwas Starres und zugleich Unheimliches hatte.

»Es sind keine Verrücktheiten,« sagte sie dabei, »nur Uneingeweihten erscheint es so . . .«, sie machte eine abweisende Bewegung, »aber darüber darf ich nicht sprechen.«

Immer mehr befremdet und beunruhigt sah Hartwig die Sprecherin an, die ihm seltsam fremd erschien.

»Liebe Lydia, ich wundere mich, daß Sie sich Dingen zugewandt haben, die Sie früher abstoßend und lächerlich fanden! Auch ist es sicher nicht im Sinn unseres teuren Toten. . . . ich kann mir auch durchaus nicht vorstellen, daß Sie die Beschäftigung damit glücklich macht. Ihr Aussehen zeugt eher vom Gegenteil!«

»Das scheint nur so. Auch leben wir nicht des Glückes wegen.«

»Lydia!?«

»Nein, gewiß nicht! Das Leben weist uns höhere Ziele . . . wir müssen uns unablässig bemühen, sie zu erfassen!«

Sie sprach wieder eintönig, als sage sie etwas Auswendiggelerntes her.

»Lydia – um's Himmels willen, ich verstehe Sie wirklich nicht! Ist es denn möglich, daß solche Dinge Macht über Ihren bisher so gesunden Sinn erlangen konnten? Warum tun Sie das?«

Etwas wie Erwachen zuckte in ihrem starren Blick auf, zugleich lief ein Schauer durch ihren Leib. Sie beugte sich dicht an Hartwig heran. Leise und angstvoll flüsterte sie: »Ich habe auch einen irdischen Zweck dabei. Gerdy ist mir schon einmal erschienen . . . er wird wiederkommen . . . und mir dann sagen, wer sein Mörder ist!«

Hartwig starrte sie stumm und schmerzbewegt an.

War es nicht furchtbar, daß der Schicksalsschlag, der dieses arme junge Wesen getroffen, nicht bloß ihr Glück in Trümmer schlug, sondern nun auch ihren Verstand verwirrt hatte?

»Arme Lydia,« murmelte er unwillkürlich. Sie aber hatte es gehört, und wieder ließ ein Schauer ihren Leib erbeben.

»Ja, arm . . . so arm,« flüsterte sie und plötzlich seine Hand mit krampfartigem Druck pressend: »Ich fürchte mich so wahnsinnig . . . immer . . . Tag und Nacht . . . manchmal ist mir, als müsse ich sterben vor Angst . . .

»Wovor fürchten Sie sich, Lydia?«

Sie blickte scheu um sich. Etwas Gehetztes lag jetzt in ihrem Blick.

»Vor der dunklen Macht, die mich umkrallt . . . mehr, immer mehr . . . ich will nicht! Nein, ich will nicht . . . aber ich vermag sie nicht abzuschütteln . . . sie ist so stark, so schwer, sie wird mich erdrücken . . .«

Sie wußte also, daß Wahnsinn sie umschlich! Sie wehrte sich dagegen und fühlte doch, daß er wie ein unerbittliches Schicksal immer näher an sie heran kam . . .

»Wissen Ihre Eltern, daß Sie jetzt so viel bei Justa Alwingen sind?«

Lydia schrak zusammen. »Justa Alwingen?« murmelte sie grübelnd, um dann hastig fortzufahren: »Nein, niemand darf es wissen . . . o Gott, und nun hab' ich Ihnen . . . Hartwig, um alles in der Welt, verraten Sie mich nicht! Schwören Sie mir, daß Sie niemand erzählen, was ich heute zu Ihnen gesprochen habe! Schwören Sie es!«

Er antwortete nicht. Wie konnte er angesichts dessen, was er soeben gehört, Schweigen geloben? Es hieße ja tatenlos zusehen, wie ein Menschenleben zugrunde ging!

Er selbst war zur Untätigkeit verdammt durch den elenden Verdacht, den alberne Menschen um Lydia und ihn gesponnen. Aber sie hatte doch ihre Eltern! Die mußten gewarnt werden, auf daß sie alles in Bewegung setzten, das drohende Schicksal über Lydias Haupt zu beschwören. Auch Serena mußte davon in Kenntnis gesetzt werden. Ihr Vater hatte ihr zwar sicher jeden Verkehr mit Lydia Holzmann untersagt, aber wenn Serena erfuhr, wie es um ihre Freundin stand, würde sie sich nicht abhalten lassen, ihren Einfluß auf sie auszuüben.

Davon war Hartwig überzeugt, und auch daß Serenas Einfluß stark und heilsam sein würde, denn Lydia hatte immer große Stücke auf Serena Eltz gehalten.

Lydias Augen hingen in brennender Unruhe an ihm.

»Hartwig – schwören Sie! Oder geben Sie mir Ihr Ehrenwort, zu schweigen! Ich begreife ja kaum, daß ich mich so hinreißen ließ . . . es hat mich wider Willen übermannt. Weil ich Sie so lange nicht gesehen hatte und weil Sie mir doch immer ein so guter, lieber, treuer Freund waren. . . .«

»Nun sehen Sie,« antwortete er, sich zu fröhlich leichtem Ton zwingend, »eben darum sollen Sie doch meinethalben gar nicht in Sorge sein! Ich bin es ja noch immer: Ihr guter, vielleicht bester Freund, der stets nur Ihr Bestes will! Nun beruhigen Sie sich vor allem und denken Sie gar nicht mehr an die Sache. Es wird gewiß alles wieder gut werden – besser, als Sie im Augenblick vielleicht denken. Ihr Auto ist, wie ich sehe, wieder in Ordnung, und so fahren Sie nun vor allem ruhig nach Hause, um endlich zu Bett zu kommen! Gute Nacht!«

»Fahren Sie denn nicht mit mir?«

»Nein, ich bin auf dem Heimweg von einem Spaziergang begriffen, und Bewegung ist mir notwendig.«

»Dann also gute Nacht!«

Hartwig half ihr noch in das Auto, dann gab er dem Fahrer ein Zeichen, loszufahren.

Erst jetzt dachte er daran, in welches Licht diese zufällige Begegnung mit Lydia zu nächtlicher Stunde von böswilligen Leuten etwa gerückt werden könnte, falls sie beobachtet worden war.

Aber er tröstete sich, daß ja keine Menschenseele Zeuge davon gewesen außer dem Wagenführer, der wohl weder ihn noch Lydia kannte. Von seinem »Beobachter« hatte er ja gottlob heute noch nichts gesehen. Der schlief wohl irgendwo, sicher gemacht durch die vorhergegangenen Tage, und ahnte nicht, daß er gerade heute ausgegangen war.

Indes wäre Hartwig kaum so beruhigt gewesen, wenn er geahnt hätte, daß sein »Schatten« durchaus nicht schlief, sondern, gedeckt durch die Bäume des Waldes, alles gesehen hatte. – – – – –

In seiner Wohnung angekommen, schrieb Hartwig noch zwei Briefe. Einen kurzen an den Major v. Marchstätten, den er um seinen Besuch im Bureau bat, und einen langen an Serena v. Eltz, worin er ihr die Begegnung mit Lydia und seine daraus sich ergebenden Befürchtungen ausführlich schilderte und sie dringend bat, sich der Freundin anzunehmen.

Er schrieb diese Briefe auf seinem Schreibtisch im Bureau und ließ sie auch verschlossen und frankiert dort liegen, damit er sie morgens früh gleich zur Post schicken konnte.

Während er Briefpapier, Marken, Siegel und Petschaft aus den Fächern nahm, fiel ihm auf, daß die sonst dort herrschende peinliche Ordnung irgendwie gestört schien. Briefe lagen durcheinander und einzelne Gegenstände befanden sich nicht am gewohnten Ort.

Hartwig achtete nicht weiter darauf. Als er sich dann aber in seine am andern Ende des Flurs gelegene Privatwohnung begab, durchfuhr es ihn plötzlich wie eine verspätete, jetzt erst ins Bewußtsein tretende Erkenntnis: Die Unordnung drüben in seinem Schreibtisch konnte nur eine fremde Hand während seiner Abwesenheit hervorgerufen haben! Kein Dieb, ganz sicher kein Dieb, aber . . .

Das Blut schoß ihm jäh zu Kopf, schoß ebenso jäh zurück zum Herzen: Man beobachtete ihn nicht nur, sondern man durchsuchte auch heimlich seine Schränke! Hatte vielleicht die Waffe gesucht, mit der er angeblich den Freund erschossen haben sollte . . .?

Oder Liebesbriefe der unglücklichen Lydia, die er eben geistesgestört wiedergesehen hatte?

Ein niegekannter Ekel würgte ihm die Kehle. So weit war es gekommen?

Dann in plötzlichem Umschlag ein verächtliches Lächeln, ein wegwerfendes Achselzucken.

Mochten sie doch suchen und hinter ihm her spionieren! Er hatte wahrlich nichts zu verbergen!

 


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