Johann Gottfried Herder
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Johann Gottfried Herder

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7. Schöne Künste unter Ludwig XIV.

Wie fand das neue Jahrhundert diese Künste, die der junge König entweder geerbt hatte, oder die unter ihm durch Colbert aufgeblüht waren? Die meisten hatten den Greis verlassen; er stand im Andenken ihrer Vergangenheit allein. Corneille und Molière, Quinault und Lully waren längst, Racine mit dem Jahrhundert gestorben, selbst der Geschmack an ihren Werken hatte sich geläutert. Poussin, Le Sueur, Le Brun u. s. w. waren dahin; an den Werken des Letzten sowie des Le Moine, Puget, Girardon hatte man sich satt geschaut, und es war vorauszusehen, daß die Bäder des ApolloSo hieß einer der Säle im Schlosse zu Versailles. – D. einst mit Moos bedeckt ständen. Trauriges Schicksal der schönen Künste, wenn sie am Willen oder an der Lust eines Einzigen haften! In seiner Jugend spielen sie um ihn her, aus dem Frühlinge begleiten sie ihn etwa bis in den Sommer des Lebens; im Herbst, im Winter, wo sind sie? Der Nachfolger führt eine andre Jugend herbei.

Noch mißlicher ist ihr Loos, wenn sie gerade am Geschmack, gar an der Eitelkeit des Einzigen hangen, dem sie sich gleichsam einverleiben. Bald wird man dieser Enge satt, die Persönlichkeit geht vorüber. Corneille hatte seinen Geschmack, romantisch wie er war, selbst gebildet; Racine, mit weicherem Herzen und feinerem Studium, bildete ihn, zumal in den letzten Jahren, dem Hofe, der Maintenon gefällig zu. Und wie beschränkt war Molière selbst auf dem Hoftheater! Er hing am Wort, am bedeutenden Stillschweigen des Königes; seine lustigeren Stücke waren für die Provinzen. Die zartesten Stellen Quinault's bedauert man oft, daß sie neben dem übermäßigen Lobe stehen, das Ludwig indeß selbst mit- und nachsang. Daher die beschränkte Decenz der französischen Bühne, daher, daß bei den größten Talenten der Meister, bei unzählig Schönem im Einzelnen, sie sich fast in keiner Kunstart zur hohen Reinheit des griechischen Genius erheben durfte; denn dieser kennt das Hofetiquette nicht. Die wahre Kunst ist nicht eitel. Nicht der äußern Wirkung wegen steht sie da, viel weniger zu einer flüchtigen Parasiten-Wirkung. Ihr Gesetz des Wahren, Guten und Schönen hat sie in sich und muß es für sich strenge vollenden. Außer den Fesseln der Versification und Sprache unterscheidet sich der französische Ausdruck also am Meisten dadurch von der Kunst der Alten, daß er fast immer zu sehr auf äußere augenblickliche Wirkung gestellt ist, selten also der Eitelkeit ganz entsagt.

Durchaus aber nicht, daß man hiemit die Vorzüge der französischen Cultur verkennen oder verkleinern wolle. Allerdings war in den schöneren Tagen der Regierung Ludwig's sein und seines Hofes Geschmack in Europa der anständigste. Die italienischen Concetti vereinfachte er zu ächtem Witz und Geist; fast ist unter Ludwig nichts Grobes, nichts Barbarisches geschrieben. Und doch schrieb damals fast Jeder, der sprechen konnte, insonderheit Mémoires und Briefe. Männer und Weiber, Prinzen und Prinzessen, Feldherrn und Künstler, Jeder konnte sprechen und schreiben. Und der edelste Ton, in dem man schrieb, war, wie Ludwig sprach, anständig, höflich, mäßig; so daß jedesmal die Worte mehr zu bedeuten schienen, als sie bedeuteten, indem sie immer das Lindeste im weitesten Umfange sagten. Dieser erhabne Schein war Ludwig's Stärke; er ist Charakterstil der besten Schriftsteller und Schriftstellerinnen seines Zeitalters, die man immer noch, wenn auch nur ihres schönen Anstandes wegen, gern liest.Von Ludwig XIV. selbst hat man Mémoires; ihre Summarien sind eigenhändig von ihm geschrieben. Pelisson, der erste Schriftsteller Frankreichs im edeln Stil, hatte sie redigirt. – H.

Denke man nun, was aus diesem naiven oder erhabnen Schein ward, als ihn fremde Länder barbarisch nachahmten. Das Künstlich-Leere in ihm ward jetzt grobe Leerheit; jenes überhingehende sanfte Berühren der Empfindung, ein mit Fleiß gewählter Halbausdruck der Gesinnung, die ganze Zauberkunst des Witzes und der Phantasie, die geistreich sich bestrebte, Alles wohlanständig, leise und linde zu sagen, was ward sie im Munde ausländischer Lakais und Poissarden, die sie geradehin in eine affectirte Zierlichkeit, in plumpen Scherz oder gar in eine beleidigende Grobheit verkehrten? Der fremde Dialekt lag ihnen indeß so am Herzen, daß sie an ihn ihre Geburt, den Rang ihrer Kaste als einen wesentlichen Unterschied ihrer und der Eingebornen knüpften. Classen der Menschen schieden sich also von einander mit gegenseitiger Verachtung; die deutsche Nachäffung ward zum Sprichwort und dem eitelsten Franzosen verächtlich. Leider beging die andre Classe auch die Thorheit, daß sie, die Französisch nicht sprechen konnte, wenigstens französische Worte und Redarten in die deutsche Sprache mischte; jämmerliche Galantheit!

Kein Mißbrauch hebt indeß den Werth der Sache selbst auf. Daß, wie einst den Griechen, die große Mutter Natur der gallischen Nation an ihrer Sprache eine lebendige Quelle gegeben, die sich durch Reden und Schreiben weithin ergossen, das leugnet Niemand. Ihre Poesie und Beredsamkeit, was ist sie anders als anständige Rede? Nie z. B. hat ihre lyrische Poesie sich mit dem klangvollen Pindar, nie haben sich ihre Chöre mit den Chören der Athenischen Bühne messen sollen und dürfen; denn das Wesen der Sache, ihre Zwecke, Mittel und Hilfsmittel waren verschieden. Zwar ist jede Bühne ein Brettergerüst gewesen und wird es bleiben, keine indeß war es, zumal in Trauerspielen, mehr als die französische; das anständigste Declamationsgerüst ist ihr Theater. In dieser Decoration aus Uebereinkommniß beurtheile man sie nach ihr selbst. Mehr oder weniger ist sodann Alles an Ort und Stelle; vor und von ihrer Nation gegeben, erklärten sich in den Zeiten ihrer Blüthe Fehler und Mängel so deutlich, daß sie Schönheiten, geschweige ausschließende Forderungen nicht werden konnten. Der Bühne war ihr Maßstab in ihr selbst gegeben. Hat Jemand vom Weinstock Granatäpfel oder von der Tulpe, daß sie eine Rose sei, je begehrt?

Und was wäre es denn, wenn Chapelain an einem Richelieu oder am großen Alcander ein zweiter Homer geworden wäre?In dem von Voltaire verspotteten Epos des von Richelieu hochgehaltenen Akademikers Jean Chapelain »La Pucelle« (vollendet 1656) erscheint der König unter dem Namen Alcandre. – D. Haben wir am ersten wahren Homer, dem Griechen, nicht gnug? warum sollen sich, wenn sie es auch könnten, die Zeiten wiederholen? Lasset einmal statt der Pieriden am Helikon auch die Nymphen der Seine sich im Tanz zeigen; an Putz und Artigkeiten ließen sie es nicht fehlen.

Von einer französischen, zumal tragischen Bühne erwarte man also nichts, als was diese geben will und kann, Gespräche und Geberden (des gestes), mit Ordnung und Genauigkeit vertheilte Aufzüge. So auch bei der Oper. Wer, ehe Gluck der Nation eine andre Musik aufdrang, ihre Oper mit Wohlgefallen zu sehen verlangt, bereite sich auf französische Musik, auf ein anständiges Geberdenspiel, auf Decorationen und Tänze. Wer an ihrer kleinsten und größten Poesie Geschmack finden will, öffne sein Ohr für declamirte Verse, ohne einen andern als den prosaischen Accent, in einer angenehmen Haltung: dies gebietet ihre Sprache, ihr Zweck, ihre Manier. Dabei aber vergesse man nicht, daß eben diese Nation, auf der Bühne wie in Büchern, treffliche Sittengemälde dargestellt, daß sie die Leidenschaften der Menschen, wo nicht immer handelnd gemacht, doch sehr wahr beschrieben, daß sie die feinsten wie die größten Gedanken in Poesie und Prose für den menschlichen Verstand treffend accentuirt hat. Die Cabinetssprache des Gemüths, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist, konnte eine zu Abstractionen gebildete Sprache kaum sprechen; desto natürlicher spricht sie die Kanzleisprache der Empfindungen und Gedanken.

Bekannt ist der eitle Streit, den man ein halbes Jahrhundert hindurch in Frankreich, England und Deutschland, vorzüglich aber im ersten Lande, über die Vorzüge der Alten und Neuern führte. Obgleich von beiden Theilen dabei viel Gutes gesagt ward, so konnte der Streit doch nie zu Ende kommen, weil er ohne hellen Grund der Frage angefangen war und fast immer Eitelkeit den Proceß führte. Bei so unbestimmten Namen der Alten und Neueren, ohne Unterscheidung der Zeiten, in denen sie lebten, der Hilfsmittel, die sie hatten, der Werke, die sie schufen, der Zwecke, zu welchen sie solche zu Stande brachten, wie konnte man über die Frage nur streiten? Zuletzt kam es darauf hinaus, daß die Neueren zwar an sich nicht größer sein möchten als die Alten, gewiß aber höher stünden, weil sie mehrere Zeiten und Erfahrungen hinter sich, eine weitere Ansicht der Dinge vor und um sich hätten u. s. w. Die menschliche Vernunft und Sittlichkeit, sagte man, habe mit dem Fortgange der Jahrhunderte gereift. So reife sie denn fort und säe sich immer neu aus, zur glücklichen Ernte! Das überstandene Stroh aber sehe man nicht als ein Heiligthum an; es läßt sich wirthschaftlich gebrauchen.

Ist dem also, ist der höhere Standort, ein weiterer Horizont, eine aus mehreren Ereignissen gewonnene Belehrung der Neueren Vorzug, so folgt zugleich daraus, daß dieser Vorzug keiner Nation ausschließend angehöre; denn Alle sind wir die Spätergekommenen, die vom Schicksal oft und viel Belehrten, die Neueren. Alle sollen wir aus diesen Erfahrungen gelernt haben, Alle unsern höheren Standort mit seiner weitern Ansicht zu gemeinsamen Zwecken gebrauchen. In dieser Rücksicht was kümmert uns ein Rangstreit zwischen Nationen und Zeiten? Ob der Mann La Chapelle oder Anakreon, Perrault oder Palladio, Phidias oder Girardon hieß, der schöner sang, edler baute, würdiger formte? Haben Vernunft und Sittlichkeit gereift, so zeige man die Vernunft eben darin, daß man Völker und Zeiten vergißt und am Besten das Beste lernt.


Beilage.
Giebt es feste Formen des Schönen, die allen Völkern und Zeiten gemein sind? Verfeint sich mit dem Fortgange der Zeiten das Ideal der Schönheit?

Man hat den beliebten französischen Ausdruck Nachahmung der schönen Natur als unbestimmt und unzureichend getadelt; der Tadel ist gegründet, wenn der genannte Ausdruck ohne fernere Erklärung das Hauptgesetz aller Künste des Schönen sein soll. Sonst aber, hätte die Natur uns nicht schöne Formen dargestellt, die wir nachahmen, unter denen wir wählen, die wir vielleicht verbinden können, woher sollten wir sie nehmen? Ohne Natur und ohne uns selbst könnten wir uns weder Natur noch Empfindung erfinden.

Warum hat die Bildhauerkunst die festesten Regeln? Weil ihr Ideal selbst ein gegebnes Naturbild ist, die Gestalt des Menschen; unser edles Gebilde, mit Seele begabt, eine in alle Glieder ergossene Menschenseele, ist, nach Unterschieden des Alters und Charakters, der bildenden Kunst ewiges Vorbild. Welche Nation an eine Bildsäule tritt, kennt und fühlt ihren Ausdruck; also auch über die Regeln der Kunst, die sie darstellt, müssen alle Nationen eins werden.

So bei Darstellungen der Leidenschaft oder des Charakters in lebendigen Menschen. Den reinen Ausdruck der höchsten Schauspielkunst müssen, selbst ohne das Verständniß der Sprache, Griechen, Römer, Franzosen, Italiener, der Wilde selbst, Jeder in seinem Maß, empfinden, um so gewisser empfinden, je mehr der Ausdruck von allem Falschen oder Willkürlichen frei ist.

Verwickelter wird das Problem bei der Malerei, weil bei ihr Regeln sehr verschiedner Art zusammentreffen und sie auf Täuschung beruht. In Ansehung der Farben sowol als der Zusammenordnung der Figuren, noch mehr in Betreff der Haltung des ganzen Gemäldes müssen die Urtheile so verschieden sein, als verschieden die Organe, die Gewohnheiten zu sehen und zu bemerken, d. i. ein sichtlich Ganzes zusammenzufassen und zu ordnen sein mögen. Da aber endlich doch Licht und Farben sowol als das menschliche Auge und der Verstand allen Sehenden gemein sind oder als ihnen gemeinsam vorausgesetzt werden, so müssen sich, bei festen Regeln der Kunst, d. i. des organischen Verstandes, die verschiedensten Urtheile zuletzt verständigen und vereinen. Sie vereinen sich um so leichter, je mehr man Vorurtheile vermeidet und die Kunstaufgabe simplificirt. Ueber eine Zeichnung z. B. wird man eher einig als über ein Gemälde, über das Bestimmte in der Malerei leichter als über das Unbestimmte, das vielleicht vom persönlichen, flüchtigen Geschmack abhängt. Le Brun's Gemälde muß Apelles so gut beurtheilen können, als de Piles über Raphael urtheilt. Wo für alle Zeiten die Form dasteht, da muß sich nothwendig das Urtheil fortwährend an ihr schärfen, berichtigen, ergänzen.

Anders scheint es mit dem zu sein, was in der Luft verhallt, der Musik und der Sprache. Wer kann dies wellenergießende Meer, wo jede Woge mit dem Augenblick verschwindet, unter einen Blick fassen, in eine Form beschränken? Daher urtheilen Nationen, Zeiten, Menschen über Musik und Poesie so verschieden! daher verändern sich diese so sehr mit Nationen, Zeiten, Menschen! So scheint es; die Regeln des Einverständnisses liegen aber dennoch sowol im Material der Kunst als im Subject der diese Künste genießenden, immer nur menschlichen Empfindung. Die Verhältnisse der Harmonie sind allen Völkern dieselben; die Empfänglichkeit unsers Organs kann gradweise geübt, also auch berechnet und compensirt werden; mithin ist ein allgemeiner Maßstab, ein Einverständniß möglich. Und wollten auch die Meister der Kunst aus verschiedenen Zeiten und Völkern ihre Eigenheit nicht verleugnen, das musikalische Ohr des Verstandes ordnet dennoch sie alle, indem es jeden in seiner Eigenheit schätzt und aus ihr ins Allgemeine emporhebt. Die Sprachen gehen auf einer Wolke von Willkürlichkeiten; die Schälle in ihnen sind dem Ungewohnten sogar oft widrig; beim völligen Verständniß derselben öffnet sich indeß ein Ohr der Seele, das, über alles Willkürliche erhoben, sie wie reine Musik der Gedanken und Gesinnungen hört. Kühn also treten wir vor jedes Kunstwerk auch der Sprache, vergessen diese und vernehmen in ihr mit dem Verstande nur das Werk des Verstandes; unserm Blick verschwinden Völker und Zeiten.

Natürlich, daß sich mit diesen das Ideal des Schönen immer höher und höher hebt; wie eine Sonne der Menschheit geht es auf, die über alle Völker und Zeiten leuchtet. Je mehr Kunstwerke aus verschiednen Völkern und Zeiten uns zur Vergleichung dastehn, desto heller sehen wir, was jedem mangelt, worin dies und jenes vorzüglich glänzt. Von sichtlichen Formen steht die Bildhauerei im Vorhofe des großen Tempels, die Schauspielkunst mit allen ihren Geschwistern im AdytumDem Heiligthum, das nur der Priester betreten darf. – D. desselben; der Geist des Epos schwebt über dem ganzen Bau, und der lyrische Chor umschließt seine beiden Seiten. Heut und hierin hat dieses, gestern und darin hat jenes Volk, jene Sprache triumphirt. Wer sich an eine Zeit, gehöre sie Frankreich oder Griechenland zu, sclavisch schließt, das Zeitmäßige ihrer Formen für ewig hält und sich aus seiner lebendigen Natur in jene Scherbengestalt hineinwähnt, dem bleibt jene unerreichbare lebendige Idee fern und fremde, das Ideal, das über alle Völker und Zeiten reicht.



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