Johann Gottfried Herder
Adrastea
Johann Gottfried Herder

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I. Gegebenheiten und Charaktere des vergangenen Jahrhunderts.


1. Erbfolgekrieg.
Entscheidet Krieg über Recht?

Beim Anfange des verflossenen Jahrhunderts verwickelte sich der größte Theil von Europa in den langen und widrigen Krieg, den man unter dem Namen des spanischen Successionskrieges kennt. Er endigte damit, daß man im Frieden gab, was man durch ihn hatte verhindern wollen: Philipp bekam die spanische Krone.

Wie? müssen einer Erbfolge wegen blutige Kriege geführt werden? Wird durch den Krieg ein Recht gegründet, das man nicht hatte? oder in ihm ein dunkles Recht klarer? Umgekehrt; die Parteien erhitzen sich; der Sieger ist verblendet. Beim Glück der Waffen ward auf Ludwig's XIV. Anträge, der mit Theilen seines eignen Reichs den Frieden erkaufen wollte, nicht geachtet; seine Gesandten und er wurden, damit der Krieg fortgesetzt würde, mit Forderungen, die er mit Ehren nicht annehmen konnte, beschimpft. Und da sich durch Veranlassungen, die beinahe ein Nichts scheinen, das Blatt wandte, behielt er nicht nur, was er in der größten Enge dargeboten hatte, sondern erhielt auch seine Wünsche. Philipp blieb auf dem ungetheilten spanischen Throne. Was hatte der Krieg also entschieden? Verwirrt hatte er; Meinungen getheilt, Parteien gemacht, Länder gedrückt, geplagt, geängstet, entvölkert, ungeheure Summen gekostet, vielen Tausenden Gesundheit, Ruhe, Lebenszweck und Leben geraubt, unendliche Mühe nutzlos veranlaßt, Haß und Erbitterung der Nationen gegen einander gestärkt. Er endigte mit dem Mißvergnügen fast Aller, die ihn geführt hatten, zur Ehre Deß, der diesmal ungern an ihn ging, der ihn vermeiden wollte, Ludwig's.

In jeder Stadt, in jedem Dorf, ja in jeder Gemeinheit der Räuber und barbarischen Völker sind Uebereinkommnisse, Statuten, Gesetze oder Sitten über die Erbfolge der Verstorbenen vorhanden; oft unterscheiden sich hierin die nachbarlichsten Städte und Dörfer sonderbar. Alle aber erkennen, daß ein allgemeiner Wille über die Verlassenschaft eines Sterbenden vorhanden sein müsse, der dem Willen jedes Einzelnen Schranken setze oder Freiheit gebe, der, wenn der Verstorbene willenlos starb, den Hinterlassenen, wer es auch sei, ihre Rechte an ihn sichere. Der Staat oder die Gemeine sieht diese als Waisen an, die sie zu unterstützen, rechtlich zu vertreten, nicht aber zu berauben Pflicht auf sich haben. Plünderung der Habe eines Todten, Vertheilung derselben unter die Ersten und Stärksten als die Besten ist der offenste Act der Barbarei, ein häßlicher Anblick.

Waren die Theilungsvorschläge der spanischen Monarchie, die dem Tode Karls vorhergingen, und bei denen Wilhelm von Oranien so geschäftig war; war die große Allianz, die er zu Stande brachte, in deren Andenken er als ein geschworner Feind Ludwig's glücklich starb – waren sie, betreffend die Krone, die getheilt werden sollte, in den Augen Spaniens etwas Anders als Raubprojecte? Welche edle Nation läßt sich theilen? Die spanische, damals noch ganz im Gefühl ihrer Stärke und Würde, ertrug den Gedanken nicht. Der Staatsrath griff zu, vereinigte sich in der Stille kräftig, vermochte den kranken König, sein Testament zu ändern, dem Wohl der Nation zu gut seinen Liebling aufzugeben, Gewissens wegen hierüber den Papst zu befragen. Selbst dies Umhertappen nach Recht und Bestandheit, was zeigt's? Daß den Staaten Europa's, d. i. dem großen europäischen Staat wie dem kleinsten Dorf, ein Codex der Erbfolgen und mit ihm ein Tribunal des Rechts und der Wahrheit gebühre, das verwaisete Nationen wie Hinterlassene in Schutz nehme und Jedem zu seinem Recht helfe. Die gebornen Richter dieses Tribunals sind die großen Pairs von Europa, die höchsten Regenten selbst; ein großer Gedanke, ein kräftiger Wille in der Brust Einiger von ihnen kann sie zu diesem hohen Werk, zu einer sichern Norm aller Angelegenheiten dieser Art vereinen. Haben alle Regenten es für Pflicht gehalten, in ihren Ländern und Häusern die Erbfolge zu bestimmen, dem gehässigen Streit über dem Leichnam zuvorzukommen oder ihn aufs Eilfertigste zu schlichten: fordert es nicht der erste Begriff eines Rechts, einer Vernunft für das Wohl der Länder, die Regierung derselben, mithin auch die Erbfolge der Regenten in Ländern und Reichen so sicher zu setzen, daß über sie nie ein Krieg entstehen müsse, entstehen dürfe? eben weil der gewaltsame Krieg alles Recht, weil er Vernunft und gemeinsame Convenienz wie das Wohl der Staaten selbst aufhebt? Wer sein Recht nicht anders als durch die Faust beweisen kann, hat gewiß Unrecht. Wer den Ausspruch der Vernunft aus Mörsern erwartet, trägt in seinem obern Runde wenig Vernunft mit sich.

Ohne also in die liebenswürdige Thorheit eines St. PierreVgl. Herder's Werke, XIII. S. 244 f. - D. zu fallen und diesen Codex der Erbfälle und Erbfolgen bestimmen, ihren Gerichtshof einrichten zu wollen, geben wir die Hoffnung nicht auf, daß ihn irgend ein großer Regent oder mehrere große Regenten, dem Recht und der Vernunft zu Ehren, wenn die Zeit kommt, mit leichter Mühe durchsetzen und feststellen werden; denn sein Gegentheil, der blutige Proceß des Krieges, ist für die Interessenten selbst zu gefährlich, der Vernunft zu widersprechend, d. i. sinnlos. Hinter einem Successionskriege ist man in Ansehung des Rechts nicht nur gerade da, wo man vor dessen Anfange war, sondern man ist zurückgewichen, die Nationen sind erbittert, durch Unglück und Glück die Meinung der Menschen verführt und irre geleitet. Der Krieg selbst hat gekostet; er fordert Schadloshaltung, Ersatz, Vergütung. Durch einen ungerecht erzwungenen Frieden erben sich die Ursachen des Krieges mit Haß der Nationen gegen einander fort, und mit diesem Haß Vorurtheile, Blindheit. Ausrotten lassen sich die Kriege nicht oder schwerlich; vermindert aber werden sie unwidertreiblich, wenn man die Ursachen zu ihnen mindert. Nicht anders als durch Gesetze, durch Statuten der Vernunft, durch anerkannte Verträge zum gesammten Wohl aller Nationen kann dieses geschehen; wer sie aufheben oder durchlöchern wollte, würde als ein Gesammtfeind nicht nur der europäischen Republik, sondern der Menschenvernunft behandelt. Denn wer zu unsern Zeiten vor oder nach erhaltenem Rechtsspruch einem Tribunal das BaxenDie auch bei Bürger, Schiller und sonst für boxen vorkommende Form. – D. als die beste Auskunft, als das solideste Rechtsmittel antrüge, wie würde er angesehen werden?

Im ganzen verlaufenen Jahrhundert ist leider das blutig verheerende Baxen der Reiche und Nationen gegen einander als dies höchste Rechtsmittel angesehen worden; seine längsten, heftigsten, erbitterndsten Kriege waren Successionskriege, bei denen man also offenbar gestand: »das Recht wohne in der Faust, die Vernunft im Schwert; weiter gebe es in Europa kein Recht und keine Vernunft als diese. Gut und Blut der Unterthanen sei eine den Regenten zugehörige Nichtswürdigkeit, die der großen Rechtsfrage, ob Spaniens König Philipp oder Karl heißen solle, wol aufgeopfert werden dürfe.« Die Nachwelt wird sich wundern, daß bei allen Untersuchungen über das Völker-, Staats- und Naturrecht Europa so lange dem Raubgeist, der alles Völker-, Staats- und Naturrecht aufhebt, einer die Rechte aller Nationen höhnenden Unvernunft mit blutigen Striemen hat dienen und darüber lobsingen mögen. Das Possierlichste bei diesem Völkerstreit war, daß keiner der beiden Werber um die reiche Braut Spanien sich bei den Gefechten selbst einfand, denen sie in der Nähe waren; sie ließen (ein paar Fälle ausgenommen, denen sie nicht entgehen konnten) Andre für sich baxen.

Mit welchem Ehrennamen wird man die Männer nennen, die einst und bald den Namen »Successionskriege« als den schimpflichsten Titel vergossenen Völkerbluts, zerstörter und verarmter Staaten aus der Geschichte des Menschengeschlechts auf ewig verbannen? Vormünder der verwaiseten Länder, Schützer der unterjochten, Besänftiger der aus Noth aufgehetzten Nationen, tutores generis humani, wird sie Welt und Nachwelt nennen; giebt's einen höhern Namen? Einst mußte seiner Familienansprüche wegen der König mit seinen Vasallen und Leuten allein ausziehn und auf seine Kosten den Krieg führen; sein Reich bekümmerte sich nicht um denselben Jetzt, da das Familieninteresse der Regenten und ihrer Reiche in einander verschlungen ist, zu wem soll die gesammte europäische Menschheit ihre Zuflucht nehmen, als zu einem allgemeinen höchsten Gericht Ebenbürtiger, d. i. der höchsten Pairs von Europa, als zu einem parteilos entscheidenden, ohne Eigennutz vollziehenden Richterstuhl des Rechts und der Wahrheit?


Beilage.
Fénélon's Gewissensleitung eines Königes.Directions pour la conscience d'un Roi, composées pour l'instruction de Louis de France, duc de Bourgogne. – D.


Punkt 14.

»– Habt Ihr nicht Bedürfnisse des Staats genannt, was Eure eignen Ansprüche waren? Hattet Ihr persönliche Ansprüche auf irgend eine Nachfolge in benachbarten Staaten, so mußtet Ihr diesen Krieg aus Euren eignen Einkünften und Ersparnissen oder aus persönlichem Anleih führen, wenigstens in diesem Betracht nur die Beihilfe annehmen, die Euch aus reiner Zuneigung Eurer Völker verwilligt ward; nicht aber, um Ansprüche geltend zu machen, die Eure Unterthanen nicht angehn, sie mit Auflagen beschweren; denn sie werden dadurch um nichts glücklicher, wenn Ihr eine Provinz mehr habt. Als Karl VIII. nach Neapel ging, um die Erbfolge des Hauses Anjou sich anzueignen, unternahm er diesen Krieg auf seine Kosten; der Staat glaubte sich zu den Kosten dieser Unternehmung nicht verbunden. Höchstens könntet Ihr in solchen Fällen die freiwilligen Geschenke der Nation annehmen, die Euch aus Zuneigung und des engen Bandes wegen, das zwischen dem Interesse der Nation selbstD'une nation zélée. – D. und des Königes besteht, der sie als Vater regiert, dargeboten werden. Weit entfernt wäret Ihr aber in dieser Hinsicht, Eures besondern Interesse wegen die Völker mit Lasten zu beschweren.«


Punkt 27.

»– Könnt Ihr Eure Unterthanen wider ihren Willen mit Auflagen zu einem Kriege beschweren, der ihnen ganz unnütz ist? Gesetzt, der Krieg ginge auch genau den Staat an, so bleibt noch die Frage, ob er nützlich oder schädlich sei, indem man nämlich die Früchte, die man aus ihm zu ziehen hofft, wenigstens die Uebel, die man zu befürchten hätte, wenn man ihn nicht führte, mit den Inconvenienzen vergleicht, die er offenbar mit sich führt. Diese Berechnung genau angestellt, giebt es fast keinen Krieg, selbst wenn er glücklich geendigt würde, der dem Staat nicht weit mehr Uebels als Gutes brächte. Man ziehe nur in Erwägung, wie viele Familien er ruinirt, wie viele Menschen er umkommen macht, wie viele Länder er verwüstet und entvölkert; ferner, wie sehr er den Staat selbst aus seiner Regel setzt, Gesetze umkehrt, Ausschweifungen autorisirt, endlich wie viele Jahre erfordert werden, um die Uebel, die ein nur zweijähriger Krieg einer guten Staatseinrichtung anthut, zu vergüten. Jeder vernünftige Mann, der ohne Leidenschaft handelt, wird er sich in einen Proceß einlassen, dessen Sache zwar in den Gesetzen den besten Grund für sich hat, der aber, auch wenn er gewonnen würde, seiner zahlreichen Familie weit mehr Schaden als Nutzen brächte? – Wo steckt das Gute, das so vielen unvermeidlichen Uebeln des Kriegs (an die Gefahren eines übeln Erfolgs nicht einmal zu denken) das Gegengewicht leisten könnte? Nur ein Fall kann stattfinden, wo, ungeachtet aller seiner Uebel, der Krieg nothwendig wird; es ist der Fall, da man ihn nicht vermeiden könnte, ohne einem ungerechten, schlauen, übermächtigen Feinde zu vielen Vortheil über sich zu geben. Wollte man sodann aus Schwäche dem Kriege ausweichen, so liefe man ihm noch gefährlicher entgegen; man machte einen Frieden, der kein Friede, sondern nur ein betrügerischer Friedensanschein wäre. In solchem Fall muß man selbst wider Willen den Krieg herzhaft führen, aus reinem Verlangen nach einem guten, dauerhaften Frieden. Aber dieser einzige Fall ist seltner, als man sich einbildet; oft glaubt man ihn gegenwärtig, und es war doch nur ein Wahnbild.

Das Folgende steht unter Fénélon's Nachträgen zu Punkt 25–30. – D.»Alle nachbarlichen Nationen sind durch ihr Interesse so enge an einander und ans Ganze Europas gebunden, daß die kleinsten Fortschritte im Besondern das allgemeine System ändern können, das ein Gleichgewicht macht und dadurch allein öffentliche Sicherheit machen kann. Nehmt diesem Gewölb' einen Stein, so fällt das ganze Gebäude, weil alle Steine sich unter einander festhalten. Die Menschlichkeit (l'humanité) selbst legt also nachbarlichen Nationen die Verteidigung gemeinschaftlicher Wohlfahrt zur gegenseitigen Pflicht auf, wie es unter Mitbürgern gegenseitige Pflichten giebt zur Verteidigung der Freiheit des Vaterlandes. Ist der Bürger seinem Vaterlande viel schuldig, so ist aus noch viel stärkeren Gründen jede Nation es noch viel mehr der Ruhe und dem Wohl jener Gesammt-Republik, deren Mitglied sie ist, die das Wohl jedes einzelnen Vaterlandes in sich schließt. Alle Vertheidigungsbündnisse sind also gerecht und nothwendig, wenn es wirklich darauf ankommt, einer zu großen Macht zuvorzukommen, die im Stande wäre, Alles anzufallen. Diese größere Macht hat kein Recht, den Frieden mit schwächeren Staaten zu brechen; gegentheils haben diese ein Recht, dem Bruch zuvorzukommen und sich unter einander zur Verteidigung zu verbünden. Bündnisse zum Angriff hangen von Umständen ab. Sie müssen auf Friedensbrüche, auf Zurückhaltung eines Landes der Verbündeten oder auf ähnliche Gewißheiten gegründet sein, und noch muß man sich bei ihnen auf Bedingungen einschränken, die verhindern, was man so oft sieht, daß nämlich eine Nation sich der Notwendigkeit bedient, eine andre, die nach der Allgemeinherrschaft strebt, herunterzubringen, damit sie statt jener sich der Herrschaft bemächtige. Klugheit sowol als Gerechtigkeit und Treue wollen es, daß diese Bündnisse sehr genau abgefaßt seien, entfernt von allen Zweideutigkeiten und auf das nächste daher entspringende Gute beschränkt. Hält man sich nicht in diesen Schranken, so kehrt sich das Bündniß gegen Euch selbst; der Feind wird zu sehr geschwächt, Euer Bundsgenoß zu hoch erhoben. Ihr müßt sodann entweder Euer Wort brechen oder Eurem eignen Schaden zusehn; Beides ist gleich widrig.«



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