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Viere brechen auf!

Wie eine rotweiße Bildsäule ragte der Stadtbote Henchen Hanauwe neben des Rates Schreibstubentür, anscheinend leblos auf einen langen Läuferspeer gestützt. Fast eine Stunde schon wartete der hagere Gesell vergeblich im »Römer«, ohne daß sich der Flink von Hasselbach eingefunden hätte. Dem Hauptmann sollte das Sendschreiben an Hatzicho Wolf von Hattstein und die Ganerben auf dem Hattstein vorgelesen werden, das der Rat auf Flinks Fürspruch in den Taunus senden wollte. Der Inhalt des Briefes sollte danach angetan sein, den Raubritter in Sicherheit zu wiegen ob der schier törichten Geduld und furchtsamen Verzagtheit der Mainstadt, die endlich wenigstens zu diesem Briefe Mut zu finden schien, nachdem der Überfall auf der Ginnheimer Höhe fast einen Monat dahinten lag. Des Ratsherrn Gilbrecht Weiße Hoffnungen hatten sich dieser List Flinks fügen müssen. Ungeduld hatte den alten Herrn fast verzehrt … und nun hielt der Hauptmann noch nicht einmal die Stunde pünktlich ein, darin der zum Schein so arg verzögerte Ratsbrief abgehen sollte. Nur durch gründliche Kenntnis aller Schwächen des trutzbietenden Hattsteins und einen hieraus gefaßten Kriegsplan konnte nach Flinks Überzeugung die Burg gebrochen werden; dazu aber mußte der die Fehde Leitende das Raubnest selbst kennenlernen.

Und nun kam der Mann nicht, der das alles selbst vorgeschlagen hatte und von dem so vieles abhängen sollte! …

Endlich einmal Schritte unter dem Gewölbe vor der Ratsschreibstube. Henchen Hanauwe öffnete die Lider, doch blieben die lebhaften, dunkeln Augen das einzig sich Regende an ihm. Der da ging, war nicht der Hasselbach. Das wie aus gebräuntem Eichenholz geschnitzte Gesicht des Stadtboten erstarrte wieder. Er schlief im Stehen Vorrat für den weiten Hinweg durch die Julihitze des Nachmittags und für den Heimweg in der Nachtkühle der finstern Taunuswälder.

Der Nachmittag wurde später und später. Da endlich kamen Tritte und warfen dumpf widerhallenden Klang an das Deckengewölbe.

Henchen Hanauwe fuhr aus seinem Stehschläfchen auf und neigte sich vor: diesmal war's der Hauptmann Flink von Hasselbach.

»Gottlob – du bist noch nicht auf dem Wege!« sagte er vor dem Stadtboten stehenbleibend, schnappte nach Luft und wischte sich den Schweiß mit einem weibisch feinen Tüchlein.

»Herr Gilbrecht Weiße guckte schon ein paarmal aus der Tür«, gab Henchen in vorwurfsvollem Tone zurück. »Den Weg zum Hattstein laufe ich über Eschborn und Cronberg am Fuchstanz vorbei und durch Reifenberg zwar in vier guten Stunden. Aber immerhin wär's besser gewesen, ich hätte früher aufbrechen können. So komme ich erst nach Sonnenuntergang vor die Burg. Und wenn ein Sommerabend auch lange hell bleibt – der Heimweg über den nächtenden Taunus ist just kein Sonntagsspaziergang vor die Tore – indes, die Herren bedenken ja nie, daß sie nicht selbst mit der Botschaft rennen müssen.«

Da der Hasselbach mittlerweile in der Schreibstube verschwunden war, brummelte der Läufer in sich hinein, nahm den Botenspeer in den linken Arm und stützte mit der Waffe nun diese Seite.

Drinnen empfing der Ratsherr den verspäteten Hasselbach mit einem ernsten Blick voller Vorwürfe.

»Es ist das erstemal, daß ich Euch Unpünktlichkeit anrechnen muß. Da es sich aber um Versäumnis in hochwichtigen Angelegenheiten handelt, darf Euch der Vorhalt nicht erspart bleiben«, bedauerte Gilbrecht Weiße unmutig.

Der am Tisch sitzende Ratsschreiber machte ein hämisches Gesicht dazu. Er konnte den gedrechselten Flink nicht leiden.

Flink erging sich in einer wortreichen Entschuldigung, daß er mit dem Geschützmeister noch allerlei zu verabreden gehabt hätte, worüber die versäumte Stunde vergangen wäre. Er verschwieg, daß diese Zeit nur darum so lange gewährt, weil er vergeblich nach einem Alleinsein mit Hanns Grysen Hornes Merla getrachtet hatte; er wollte doch einen zärtlichen Abschied ergattern, und Hanns – wie wenn er das geahnt hätte – war nicht aus der Stube zu bringen gewesen. Als jedoch der scheppe Gürg gekommen war, um irgendeine Meldung zu bringen, hatte Flink endlich Gelegenheit gefunden, dem Mädchen zuzuflüstern, er käme auf den Abend und sie solle ihn einlassen. Auf ihren sichtlich zusagenden Blick hin, glaubte er sich verstanden und hatte endlich das Geschützmeisterhaus verlassen können.

»Muß Wichtiges gewesen sein, das Ihr mit Hanns besprochen?« meinte der Ratsherr, nachdem er eine Weile den in Gedanken Versunkenen angestaunt. Flink fuhr auf und wischte sich über das zufrieden lächelnde Gesicht. Herr Gilbrecht sprach weiter: »Gerade wollte ich den Henchen Hanauwe in Eure Wohnung senden, damit er Euch herbeihole.« Nun befahl er dem Ratsschreiber, den Sendbrief an den Hattsteiner vorzulesen.

Der Schreiber glättete umständlich das eng mit Schriftzeichen bedeckte Pergament. Dann erhob er sich wichtig, reckte den Brief in seinen gichtkrummen Fingern weit von sich und begann nach einigem Räuspern endlich mit näselnder Stimme den Text langsam Wort für Wort vorzutragen.

Es wurden darin den Ganerben auf Hattstein, insbesondere dem Hatzicho Wolf von Hattstein alle Missetaten vorgehalten, die in der letzten Zeit aus dem Raubnest her an Frankfurt begangen worden waren: »Große, viel und mancherlei Räuberei, Schinderei, Mord, Brand, Beschädigung und Ansturm auf des heiligen Reiches und unseren Straßen, Landen und Gebieten, und zwar an Geleiten, Kaufleuten, Pilgern und andern frommen Leuten, geistlichen sowohl als weltlichen.« Mit viel Geduld bat der Rat um Steuerung dieser unwürdigen Zustände, ersuchte um Frieden und verlangte: »Lasset das auf frankfurtischem Gebiet in Bonames verbrannte Haus wieder aufrichten und zahlet dem Eigner zwanzig Gulden Schadloshaltung, item liefert Wein und Schafe an unsere vieledeln Ratsmannen Gilbrecht Weiße und Klaus Keseler zurück, item dem Weinfuhrmann seine Rösser, item entrichtet dem wundgeschlagenen Schäfer so man den roten Geckir nennet drei Gulden Schmerzensgeld.« Zum Schluß wurde dann die Forderung gestellt, daß sich die Hattsteiner gemeinsam verpflichten sollten – und zwar in einer dem »unantastbaren Boten Henchen Hanauwe« mitzugebenden Schrift – weder auf den Straßen, noch zu Wasser und zu Lande ›allerlei ungefährliche Leute‹ anzugreifen oder durch ihre Mannen angreifen zu lassen, »ansonst sie für treulos, meineidig und ehrlos dem Zorn der Stadt und des Reiches Acht verfallen wären«. Dann schloß das langatmige, im Grundton absichtlich ein wenig wehmütig gehaltene Schreiben: »Ansehens dessen, daß der Fried' zwischen uns gewahrt bleibe ferner, wird dieses Briefes Urkunde versiegelt werden mit dem auch hier unten beigedrückten Insiegel der freien Reichsstadt Frankfurt an dem Maine und gegeben anno domini 1432 am Tage der Heiligen Martha von uns, dem Rate zu Frankfurt an dem Maine.«

Flink äußerte sich über den Brief sehr zufrieden – er wäre gut und wohl dazu angetan, den Hattsteiner in Sicherheit zu lullen, und nun könne er, der Hauptmann, sich ohne Sorge an das Auskundschaften der Burg machen, damit dem Landfrieden endlich Ruhe verschafft werde. Herr Gilbrecht malte nun seinen Namenszug unter das Schriftstück.

»Der Tag der Heiligen Martha ist der achtundzwanzigste Tag im Juli. Vier lange, für mich und meinen Unmut fast schreckliche Wochen sind ungenützt dahingegangen, seit mir der unruhige Ritter den Wein raubte – fast so lang ist es her, daß er Klaus Keseler die Schafe stahl und den roten Geckir blutig schlug. Wird also wohl von Wein und Hammeln nicht viel mehr auf dem Hattstein übrig sein!« rechnete Gilbrecht Weiße. Ein dunkler Schatten flog seinem trutzigen Gesichte an. »Der Hatzicho wird unserer Albernheit spotten. Käme der Ratschlag nicht von Euch, Hasselbach, so hätte ich wohl nimmer nachgegeben. Ich fürchte, das Geschreibsel wird nicht nur den Hattsteiner, es wird mir auch den zauderhaften Rat aufs neu einlullen. Drauf und dran und über die Mauern dem Kerl! … das wäre nach meinem Sinn gewesen.« Ärgerlich schob er dem Schreiber das Pergament zum Versiegeln hin und seufzte. »Hoffentlich bringt Euer Plan wenigstens Heil. – Wann gedenkt Ihr aufzubrechen?«

»Morgen mit dem frühesten«, gab Flink Auskunft und wollte beginnen, alle Vorteile seines Gedankens noch einmal ins rechte Licht zu setzen.

Herr Gilbrecht aber wehrte ihm, indem er die ihm bei unlieben Anlässen gewohnte Geste machte: er fuhr mit der flachen Hand durch die Luft. »Ich weiß Bescheid«, sagte er kurz und sah nachdenklich dem siegelnden Schreiber zu.

Ein mürrisches Schweigen, nur vom Geraschel des Pergaments unterbrochen, war zwischen den Männern. Nun war es spät geworden.

Endlich konnte Henchen hereingerufen und ihm der Brief übergeben werden. Der Mann haspelte eilig das bei wichtigen Wegen übliche Botengelöbnis Hand in Hand mit dem Ratsherrn ab, dann drängte er zum Aufbruch. Der Schreiber ging mit hinaus und geleitete ihn aus dem »Römer« bis vor den Ausgang nach dem Samstagsberg. Dort flitzte der Läufer los, den Botenspeer über der Schulter. Die Zatteln seiner Schaube wedelten und hüpften ihm um die langen Beine. Die Schellchen an seinem Gürtel gerieten in ein taktmäßiges Geklimper. Die Gänsefedern auf der weißroten Gogel bogen sich im Luftzug ein wenig rückwärts. In der schon abflauenden Hitze der langsam neigenden Sonne rannte Henchen Hanauwe dahin … Er war der erste, der nach den blauen Bergen der »Höhe« aufbrach.

In der Schreibstube aber sagte Gilbrecht Weiße zu Flink: »Ihr werdet wohl für den Abend mein Gast sein, denn meine Frene möchte Euch gewiß das letzte Behüt-Gott sagen?«

»Ich bin eines weiten Fußwegs entwöhnt und sollte vorher wohl einen tüchtigen Schlaf tun«, suchte der Hasselbach nach einer Ausrede und dachte dabei an die schwarze Merla und ihren roten Mund. Ein heißer Abschied von ihr war ihm lieber als ein feierliches Behüt-Gott der kühlen, stolzschönen Ratsherrntochter. Dabei fiel ihm ein, wie Frene in der letzten Zeit merkwürdig weniger Zuneigung zu ihm verraten. Nun war gar noch ihr Vater durch das Zuspätkommen verstimmt? Er faßte sich rasch und meinte: »Wenn ich jedoch nicht ungelegen käme, so bäte ich um den Verlaub, Euch wenigstens heimbegleiten zu dürfen.«

Herrn Gilbrecht kam zwar die verärgerte Meinung, daß es den Hasselbach just nicht allzusehr nach einem längeren Beisammensein mit Frene gelüste; er verschwieg diese Meinung jedoch gekränkt und bat ums Mitkommen.

Merkwürdig, wie Liebesleute von heutzutage sind! begann er auf dem Weg zu grübeln … als er, Gilbrecht Weiße, um Frau Barbara gefreit hatte, war ihm jeder Augenblick in ihrer Nähe teuer gewesen; und eine Einladung seines künftigen Schwiegervaters hätte er nicht auszuschlagen gewagt, selbst wenn sie ihn eine ganze Nachtruhe gekostet haben würde.

Jetzt erst fiel ihm ein, daß er so lange schweigend neben dem Hasselbach hergegangen war. »Nehmt mein Stummbleiben nicht für die Verstimmung, weil Ihr uns in der Ratsstube lang warten ließet«, hob er sich zu entschuldigen an. »Es bringt so allerlei Nachdenken und Sorge, wenn man ein Kind hat. Und so grübelte ich eben über meine Frene mancherlei. Fiel Euch nicht auch in der letzten Zeit eine Veränderung an ihr auf?«

»Nicht im geringsten!« widersprach Flink, weil er meinte, auf diese Art gefällig sein zu müssen.

»So, so – Ihr hättet also nicht über unleidiges Wesen zu klagen?« forschte Herr Gilbrecht dringlich.

»Da täte ich dem ehrsamen Fräulein wahrlich bitter unrecht«, versicherte Flink eifrig.

»Hm, hm!« machte der Ratsherr äußerst zufrieden … siehe da, demnach war also zwischen den beiden Leutchen alles in Ordnung? … Und daß es hinter des Vaters Rücken so war – nun, wer wollte darob zürnen. Die Hauptsache blieb, daß sich seine eigenen Wünsche mit denen der Tochter deckten, wie mit denen des Mannes an seiner Seite.

Auch weise Männer, und seelenstarke, charaktervolle wie Gilbrecht Weiße, können sich in Sachen der Liebe arg verzählen, wenn sie ob aller ihrer Klugheit vergessen, die Wünsche anderer in Betracht zu ziehen, während sie nur dem Gedanken um die Erfüllung ihrer eigenen Wünsche Rechnung tragen.

Und so war denn der Ratsherr völlig verblüfft, als er nach der gebrannten Mehlsuppe seine Tochter heimlich beiseite nahm und erklärte: der Hasselbach könne nur ein Stündlein im Hause weilen und begebe sich morgen in aller Frühe nach dem Hattstein; so hielte er, der Vater, es fürs beste, wenn man mit dem Verlöbnis heute noch Ernst mache, um es nach Flinks Heimkehr der Neugier Frankfurts preiszugeben, auf daß nach Schluß der Hattsteinfehde eine prunkvolle Vermählung könne gefeiert werden.

»Nein!« antwortete Frene nur; weiter nichts als ein glattes, blankes, ernstes und sehr kraftvolles Nein, wobei sie – nach des Vaters Gewohnheit – mit der flachen Hand die Luft durchschlug.

»Nein …?« Mehr brachte Herr Gilbrecht zunächst vor Verwunderung nicht heraus. Und als er endlich zu toben beginnen wollte, mußte er den Sprudel der Rede seines Kindes erst über sich ergehen lassen.

»Ich nehme überhaupt nie in meinem Leben einen Mann!« fing diese Rede an und schloß nach schlagkräftigen Beweisen für das vollkommen Überflüssige solch einer närrischen Handlung wie Heiraten mit der Ankündigung: das Kloster wäre die einzige Zuflucht für ein vom Leben arg enttäuschtes Menschenkind … und so werde sie, Frene Weiße, im Katharinenkloster nach den Regeln des Deutschordens versuchen, seliger zu werden, als bislang im »Grimmvogel«, wo man sie in eine Ehe mit einem Menschen drängen wolle, für den sie aber auch nicht das allermindeste fühle – nein, nicht das allermindeste!

Dann schlug hinter der Davonlaufenden die Tür mit einem Krach ins Schloß …

Gilbrecht Weiße saß sprachlos allein da. Er musterte seine vier Wände, räusperte und spuckte, kniff sich in die Nase und drehte den goldnen Ratsherrenring um den Finger, zog ihn ab und steckte ihn wieder auf, schloß einige Zeit die Lider und öffnete sie schnell wieder – alles nur, um sich zu vergewissern, daß ihn nicht bloß ein alberner Traum schrecke. Lange blieb er einsam und beobachtete, wie sich mählich das Dunkel im Gemach ausbreitete. Als alle Schatten die Stube füllten, hatte er sich endlich von seinem maßlosen Staunen erholt. Mit einem Ruck sprang er auf und eilte nach der Empfangsstube seines Hauses, getrieben vom Verlangen, sich dort auszuwettern und nunmehr auf dem Verlöbnis zu bestehen.

In der Stube aber saß schon ein neuer Besucher – der alte Klaus Keseler –, und der Hasselbach nahm das Kommen des Freundes Herrn Gilbrechts zum willkommenen Anlaß für den Abschied.

Der alte Keseler war ein sonderlich Menschenkind – ein Alterchen mit kahlem Kopf, eingefallenem Gesicht und mit flinken Huschaugen über der knolligen Nase, darunter der breite Mund in zwei Hartnäckigkeitsfalten zum spitzen Kinn hinab neigte. Die Augenbrauen fehlten ihm, die Tränensäcke traten stark hervor, während Hunderte von Krähenwinkeln wie ein krauses Gewirr nach den eingedrückten Schläfen hin strebten. Ein kleiner Rundbauch, unter dem die knickigen Beinchen seltsam dünn wirkten, wölbte den kostbar tuchenen Leibrock hervor. Und über jenem Bäuchlein wirbelte nun Klaus hastig die Daumen umeinander, während er den Ratsherrn mit lebhaftem Blick zwinkernd musterte.

»Ich bin ein Mensch, der niemals Umwege macht«, begann er mit schriller Stimme sehr laut zu reden. »Und wenn ich in den ›Grimmvogel‹ komme, so hat das mancherlei zwingende Gründe. – Mein Sohn Echter ist heute aus Speier zurückgekehrt. Man freut sich doch, wenn man nach vier langen Wochen – noch dazu bei so unsichern Zeiten auf den Landstraßen – sein Kind heil und gesund wieder vor sich sieht, das man selbst auf diese raubumlungerten, stegreifbedräuten Wege sendete. Obendrein, wenn einem der Erbe mit guten Botschaften heimkehrt. Notabene: von den guten Botschaften nachher! Also – in dieser meiner Freude konnte ich den Mund nicht halten und überraschte, des Dankes voll, meinen Buben mit der Einwilligung, daß er ein Fähnlein gegen den Hattstein führen dürfe. Er küßte mir die Hand, sein Gesicht glänzte wie eine Speckschwarte – vor lauter Freude. Da plötzlich kommt ihm der Ernst, und so bedrängte er mich um die Ursache meiner Sinnesänderung; ich hatte ihm den Anteil an der Fehde doch vorher scharf verweigert … es war also nur geziemend, daß er mich fragte. Der Echter ist ein Mensch wie ich, der allen Dingen nach dem Grunde trachtet. Wie er also nun aus seiner unbändigen Freude heraus wissen wollte, wer ihm die Fehde mitzureiten verschafft, nannte ich ihm deinen Namen, Gilbrecht.«

»Nun – eigentlich war ja meine Frene die Ursache und ich nur die Wirkung«, flocht der Ratsherr ein. Und da er Frene abermals mit einem Zornesblitz bedenken wollte, sah er zu seinem Erstaunen, daß des Mädchens Antlitz in geradezu verklärter Zufriedenheit schimmerte. Der Echter Keseler in Kampf, Fehde und Gefahr! … Was sie nur gegen den braven Menschen haben mochte? …

»Das weiß ich!« schrillte der alte Keseler, und Herr Gilbrecht erschrak, denn er meinte seinen Gedanken beantwortet, während Klaus sein Wissen nur auf Frenes Fürsprache bezog. »Wie ich also meinem Echter deinen Namen genannt hatte, Weiße, wird er plötzlich mucksstill, und seine Freude dämmte sich. – Sinkt dir das Herz in die Hosen jetzt, wo es Ernst wird? forsche ich. Da schüttelte er das Haupt und grübelte eine lange Weile. Der Frohe war mir mit einmal unfroh geworden.«

»Merkwürdig!« machte Herr Gilbrecht und war neugierig, was da wohl herauskäme.

Klaus machte einige sonderbare Mundbewegungen und schrillte dann weiter: »Endlich gesteht er mir traurig, er könne deiner Fürsprache nichts abgewinnen, und das Kommando mache ihm nur noch die halbe Freude, weil er nicht verstünde, was dich zu seinen Gunsten zu reden veranlaßt hätte. Denn: – das erstemal vor vier Wochen, bevor er gen Speier ritt … das zweitemal heute bei seiner Heimkehr – du übersähest absichtlich seinen Gruß und gingest stolz an ihm vorüber; noch dazu in Gesellschaft eines Mannes, in dessen Gegenwart er deine Mißachtung um so tiefer fühle.« Klaus schwieg und sah den Ratsherrn Antwort heischend an.

»Mißachtung?« verwunderte sich Herr Gilbrecht und versicherte eindringlich: »Die ist mir nie in den Sinn gekommen, bei Gott! Ich kann dich ehrlichen Gewissens versichern, daß ich deinen Echter vor vier Wochen gar nicht gesehen habe, und daß ich eines Grußes von ihm nicht gewahr geworden. Heute allerdings – schritt ich da achtlos weiter, so geschah's, weil ich in Gedanken versunken war und mich auf seinen Gruß erst besann, als ich den Echter von hinten sah. Man hat doch so seine mit Leid gemischten Freuden, wenn man Nachwuchs besitzt!« Ein zorniger Blick streifte die still zuhörende Frene.

»Möcht's meinen Kindern nicht geraten haben, daß sie mir die Freude an ihnen vergällen!« drohte Klaus und ließ die Huschaugen grimm an der Knollennase vorbeischielen. »Solch eine Verkennung väterlicher Gewalt und Rechte? Ei, Blitz! … Bei mir hängt der Bakel noch immer hinterm Ofen, und der Echter respektiert ihn.«

Frene lachte laut. Und dies Lachen unterschied sich wunderlich von dem von der Mutter ererbten Gluckhennen – es klang hell und fast silbern bei der Vorstellung, daß sich der große Echter vor dem Bakel fürchte. Gilbrecht Weiße erschien es schadenfroh, und so mißbilligte er es mit einem verweisenden Blick.

»Doch ich bin mit deiner Erklärung reichlich zufriedengestellt, Gilbrecht«, schnarrte der Alte. »Und so möcht' ich es meinem Sohne nicht geraten haben, Zweifel dran zu wagen.«

»Sage ihm in meinem Namen, daß er mir und meinem Weibe der willkommenste Gast ist«, bat der Ratsherr. Und wiederum mußte er staunen, denn Frene – er hatte sie abermals mit einem vorwurfsvoll wütenden Blick bedenken wollen – Frene nickte mit strahlenden Augen seinen Worten Beifall.

»Dabei lassen wir also meines Echters Verdacht bewenden!« schloß der alte Keseler mit knisternder Stimme diesen Teil der Unterredung. Nun hapste er ein paarmal mit dem herabgezogenen Munde und schloß ihn nachdenklich dann so fest, daß das spitze Kinn stark nach der Nase hinauf begehrte.

Gilbrecht Weiße kannte diese Eigenart. Sie ging stets einer großen Wichtigkeit voran. So störte er den Freund nicht im Sammeln der Gedanken und wartete.

Plötzlich begann Klaus Keselers Nase zu wackeln, und die Luft zischte daraus, während ihm die Augenlider in ein heftiges Blinkern gerieten. Der Mund mümmelte eine Weile, bis sich das Kinn aus der Nähe der Nasenspitze entfernen konnte. Jetzt öffneten sich weit die Lippen.

Nun kam's – auch das kannte Herr Gilbrecht.

»A–a–a–ber!« dehnte der Alte, holte dann tief Atem und schrillte los. »Da ist noch eins – und das macht mir die mehrste Sorge, machte mich stutzig, besorgt, verblüfft und so ratlos, daß ich zu dir kam. Nämlich: Hältst du es für möglich, daß ein Mensch den Sonnenstich davontragen kann – was ja bei der Hitze und der Schattenlosigkeit der Mainzer Landstraße kein Wunder wäre! – Also, daß ein Mensch mit dem Sonnenstich behaftet wäre, und daß er dennoch wie ein heil Gesunder vor dir stünde?«

»Das mußt du mir deutlicher erklären«, verlangte Herr Gilbrecht nach dieser wunderlichen Frage.

»Deutlicher – deutlicher? Hä! Also …« Der Mund hapste wieder einigemal, die kleinen Huschaugen standen still auf einen Punkt an der Wand gerichtet, und Klaus legte los. »Ich verkünde meinem Echter nach seiner Frage um den Grund deiner Fürsprache, du hättest mir gestanden: wie sich deine Frene mit flehentlichen Bitten um ein Fähnlein Reiter an dich gewendet, dich so lange mit Eifern malträtiert habe, so lange in Echters Namen bestürmt hätte, bis du dich endlich auf den Weg zu mir gemacht.« Die Sorge oder die Entrüstung – eine von beiden hob den alten Herrn vom Sitz auf, daß er nun mit dem Rundbauch über den dünnen Beinchen wie ein Zwetschenmännlein dastand. Die Huschaugen lösten sich von der Wand. Er reckte die Arme und schüttelte die Hände, als solle diese Gebärde das Kommende noch entsetzlicher darstellen, und nun stieß er mit vor Erregung meckernder Stimme hervor: »Kaum hatte ich deiner Frene Erwähnung getan, hebt dir der Mensch ein Gelächter an – ein Gelächter, daß es in der Stube widerhallte, mir in den Ohren dröhnte, an den Wänden entlang bollerte … und lacht und lacht und lacht – in einem fort und ohne Unterlaß, bis ihm die hellen Tränen in den Augen standen. Tränen, Gilbrecht, Tränen!« betonte er, griff den Ratsherrn bei der Brust und schüttelte ihn, als wolle er das Unfaßbare aus des Freundes Seele rütteln. »Plötzlich packt er mich lachend, wirbelt lachend mich um sich herum, setzt lachend mich in meinen Ohrenstuhl und rennt lachend aus der Stube … und ich muß dies Lachen noch durchs ganze Haus schallen hören! – Nach diesem Schreck lief ich zu dir herüber … was meinst du nun dazu …?«

»Das ist allerdings höchst erstaunlich«, gab Gilbrecht zu. »Indes ist Lachen noch längst kein Grund, an einen Sonnenstich zu glauben. Der Mensch weint oftmals oder lacht auch manchmal vor Glück – warum sollte er da nicht auch einmal vor Glück lachen und weinen zugleich?«

»Vor Glück – vor Glück?« wiederholte der Alte ganz befreit. Er neigte den Glatzkopf schief und sah mit den diesmal glitzernden Augen den Freund prüfend an. Er legte die Hände auf dem Rücken ineinander und begann auf eiligen Trippelbeinchen wie eine ratlose Bachstelze im Gemach auf und ab zu wippen. »Vor Glück – Glück – möchtest du da recht haben?« Er blieb auf einmal vor Herrn Gilbrecht stehen und blinkerte an der hochragenden Gestalt hinauf. »Sagte ich dir, warum eigentlich ich meinen Buben nach Speier schickte?«

»Kein Wort.«

»So will ich dir's nachträglich künden. In Speier lebt mir ein Gefreundeter, der eine schöne Tochter hat. Das ist der Wendlin Hecker, stammt aus Sachsenhausen, und sein Kind heißt Lene … oder wie der vornehm gewordene Sachsenhäuser jetzt sagt: Magdalena. Weil ich es nun an der Zeit hielt, daß der Echter endlich ein Weib nähme – ich kann's mit aller Gewalt nicht ergründen, was ihn darob so lange zögern macht! –, weil ich endlich eine Schwiegertochter und einen Sohnesenkel haben will, so verabredete ich mit dem Hecker, daß sich unsere beiden Kinder kennenlernen und – fänden sie Gefallen aneinander – ein Verlöbnis eingehen sollten. Bald nach der Ankunft meines Buben sendete mir der Hecker eine Botschaft: es verlaufe alles glatt und wohltunlich, und der Echter tuschele mit der Magdalena, die Magdalena aber tuschele mit dem Echter, daß kein Zweifel mehr sei, wie wir die gegenseitige Mitgift ausrechnen müßten. Da nun keins von den beiden eine Ahnung von unserer väterlichen Verabredung hat – keine Ahnung, nicht die allerallergeringste! – so muß da doch wohl die Liebe … ei, die verflixte Liebe! … muß da doch wohl die Liebe dazugekommen sein. Und daraus schlösse man denn auf das Richtige deiner Ansicht vom Glück … jawohl, vom Glück, in dem der Mensch unter Lachen weint oder unter Weinen lacht. Ganz richtig! – Ja, ja, so erweist sich's wieder, daß Elternverstand bessern Rat weiß denn Herzensgefühle der Jugend. Und Magdalena Hecker wird denn bald eine Keselern werden …«

Kopfnickend wollte Herr Gilbrecht seiner Frene die Weisheit seines alten Freundes bestätigen … aber er erschrak heftig. Das Mädchen saß mit totenbleichem Gesicht da und hielt die Lider gesenkt, weiß bis in die Lippen. Langsam erhob sie sich und stand plötzlich vor den beiden Alten. Schwer und dumpf kam die Frage aus ihrem bleichen Munde: »Demnach meint Ihr also, Echter hätte sich inzwischen mit Lene Hecker versprochen?«

»Das will ich meinen!« triumphierte Klaus und wackelte vor Freude mit der Knollennase. »Denn was soll es anders deuten, wenn er mir gleich nach der Heimkunft gestand: Du wirst bald ein ansehnlich Mädchen deine Schwieger nennen, Vater!«

»So, so – das sagte er!« Zum erstenmal seit langen Tagen kam das Gluckhennenlachen wieder über Frenes verzerrte Lippen. »Dann bringe ich den üblichen Glückwunsch dar, Herr Keseler. Und weil ich meine: Vertrauen verdient Wiedervertrauen … so mögt Ihr auch meinem Vater und mir Glück wünschen – dieweil ich mich just heute gleichfalls verlobte.« Sie sah den völlig erstarrten Gilbrecht Weiße mit seltsam flehenden Augen an, die Verschweigen und Einverständnis zugleich heischten. »Ich denke, es ist doch besser, lieber Vater, wenn wir meinen Verlobten bitten lassen, daß er diesen Abend noch auf ein halbes Stündlein zu uns komme. Ich möchte meinem Flink vor der Fahrt nach dem Hattstein noch allerlei Liebes sagen, was mir durch Herrn Klaus Keselers Anwesenheit verwehrt worden war. Auch möchte ich ihm die gestickte Schärpe noch zeigen, die er bei dem Zuge wider den Hatzicho tragen soll. Euer Sohn sah die Arbeit, Herr Keseler – als er damals, vielleicht in der Furcht vor Euerm Bakel hinterm Ofen, zu mir kam, auf daß ich um ein Fähnlein für ihn bäte. Mag ein rechter Kriegshelde sein – Euer Echter! Vielleicht nimmt er seine Magdalene Hecker mit, daß sie die Schürze über ihn breite, wenn es Bolzen und Klosser vom Hattstein hagelt.«

Klaus Keseler verkniff den aufwallenden Zorn vor dem gespenstisch bleichen Aussehen des Mädchens.

Einen Augenblick lehnte Frene stumm und schwer an ihres Vaters Schulter. Und der Ratsherr vernahm etwas, das wie ein starres Aufschluchzen war. Dann machte sie sich los und verließ mit wankenden Schritten das Gemach.

»Ist dein Kind im Fieber?« meinte der alte Klaus mitleidig, und er gestand: »Allzu fröhlich sieht das Mädel nicht drein. Nun, Bräute sollen ja oftmals vor dem fröhlichsten Ernst des Lebens – wie man den Brautstand wohl nennen kann – nicht anders sein. Ich bin auf meine zukünftige Schwiegertochter Lene Hecker höchst neugierig.«

Herr Gilbrecht blieb stumm. Des Erstaunlichen war ihm heute zuviel aufgestoßen. Er geleitete den Freund bis auf die Schwelle des »Grimmvogel«. Dann schickte er schweren Herzens einen Boten zu Flink von Hasselbach.

Als der Knecht nach langer Zeit ergebnislos heimkam und meldete: zu Hause wäre der Hauptmann nicht und auf den Wachen bei den Stadttoren habe ihn auch niemand gesehen … da blieb dem Ratsherrn nichts anderes übrig, als seine vor Ungeduld fiebernde und dabei so still-ernste Frene zu belügen. Er redete ihr ein, der Hasselbach wäre sicherlich noch den Abend nach dem Taunus aufgebrochen, um seine abenteuerliche Fahrt so recht im geheimen beginnen zu können; das von dem langen Schlafe habe er wohl nur geäußert, weil der alte Keseler zugegen gewesen wäre, und weil er vor dem nichts verraten wollte. Flink hätte wohl angenommen, daß Frene und er ihn verstünden, da man ja im »Grimmvogel« über seinen Aufbruch eingeweiht wäre.

»Ein starker Mensch begleitet ihn – der scheppe Gürg. Er ist also außer aller Gefahr, und du mußt nicht so kummervoll dreinschauen, Kind!« glaubte er das blasse Geschöpf trösten zu müssen. »Mich freut's, daß du deine Gefühle nicht länger verbirgst. Kehrt er in wenigen Tagen heim, so wollen wir ein frohes Wiedersehen und ein noch fröhlicheres Verspruchfest feiern.«

Da neigte sie den Kopf an des gütigen Vaters Brust.

Wortlos schlang sie die Arme um den Nacken des hohen Mannes, dem sie an Größe nachgeraten war wie an Wesen. Einmal öffnete sie die Lippen, als möchte sie reden, alles bekennen, um endlich Ruhe zu finden vor dem, das ihr Herz erfüllte seit jenem Zank mit Echter Keseler. Aber sie preßte die Qual stumm zurück.

»Ich muß den Hasselbach haben, Vater!« gestand sie endlich und umklammerte heftig Herrn Gilbrechts Nacken.

»Nun ja – nun ja – es war ja doch auch mein Wille«, erwiderte der Ratsherr zaghaft. »Aber was wehrtest du dich denn vorhin so dagegen?«

»Trotz, liebster Vater, Trotz«, hauchte sie. »Wie alles heute Trotz an mir ist.«

»Im Unglück ist Trotz ein arges Hindernis – möchte er dir nun nicht dein Glück hindern«, warnte Herr Gilbrecht weise. »Berate dich mit mir, nachdem du dich mit deinem Herzen beraten. Und meine Stimme mit der deines Herzens vereint, das gibt vielleicht den rechten Zusammenklang, der dich auf den Weg zu deinem Heil rufen wird.«

Sie küßte den Gütigen herzlich auf den Mund und wischte das Naß aus den Augen. Dann befreite sie sich und schlug mit der schlanken, weißen Hand durch die Luft. Den Kopf zurückgeworfen, das dem des Vaters ähnliche Kinn vorgereckt, stand sie da. »Gut – wenn du über Echters Hochzeitstag Bescheid weißt, dann wollen wir miteinander nach dem Katharinenkloster gehen und über meine Aufnahme verhandeln!« Sie sagte es in der früheren Klarheit und ließ den Vater allein.

Dies schuf für den Tag das letzte Erstaunen Gilbrecht Weißes … er dachte, darüber hinaus könne nun nichts mehr kommen. Die Welt war und blieb verwirrt, hin und her taumelnd wie eines Weibes in der Begriffsverwirrung anfechtbare Seele. Und so ging er heute – außerhalb des gewohnten Tages – nach der Trinkstube in der Allerheiligengasse und spülte alles Erstaunen und allen Ärger und mancherlei Enttäuschung mit Sachsenhäuser Apfelwein hinab. Ach, der war sauer geraten in diesem Jahr – und so suchte Herr Gilbrecht ein paar Stündlein später noch die Ratsweinstube auf, um sich schadlos zu halten. Und das Gemisch von Äpfelwein und Rheinrebensaft schien gar wunderliche Gesichte zu zeitigen – denn als der alte Herr auf nicht mehr ganz sichern Beinen heimwärts wandelte, hatte er die Vision, vor sich her im Häuserschatten den Flink von Hasselbach schleichen zu sehen, ihn vor einer Tür halt machen und den Türklopfer rühren zu sehen und dann gar zu gewahren, wie der edle Hauptmann in jenes Haus verschwand. Herr Gilbrecht sah sich in der Gasse um. Wenn ihn der Wein und Apfelwein nicht trog, so war's Hanns Grysen Hornes Haus gewesen. –

Und Herr Gilbrecht hatte sich nicht getäuscht …

Flink sah nach den Fenstern hinauf; dort oben war alles dunkel. Das bot dem Hauptmann jedoch nichts Überraschendes: er wußte, daß Hanns Grysen an diesem Wochentag in der Herberg bei der Galgenpforte seinen Abendschoppen zu trinken pflegte. Darauf hatte er seinen Plan gebaut, als er sich den heißen Abschied von Merla vorgenommen. Daß die Haustür verschlossen sein würde, hatte er allerdings nicht vermutet … das Mädchen schien ihn doch begriffen zu haben, als er am Nachmittag geflüstert, sie solle ihn diesen Abend erwarten. Es focht ihn nicht an, daß Merla sich äußerst zurückhaltend gegen ihn benommen seit einem Abend, an dem sie ihm wieder einmal bis zur Haustür geleuchtet hatte. Just als er da die sich heftig Wehrende in die Arme zwingen wollte, war plötzlich die Pforte aufgestoßen worden. Der Schäfer Geckir hatte vor dem Pärchen gestanden, erst Merla, dann den Hauptmann mit sonderbaren Blicken musternd. Das Mädchen war aber rasch gefaßt gewesen und tat – wenn auch sichtlich ängstlich – als wäre die Umarmung die Folge eines Ausgleitens. Das schien den Hirten beschwichtigt zu haben, aber er hatte mißtrauisch doch gewartet, bis er mit Merla gemeinsam ins Haus hinaufgehen konnte, während Flink davonschritt. Der Rotkopf schien jedoch beim Geschützmeister nicht geplaudert zu haben, wenn er auch vielleicht die Ursache war zu der in den letzten Tagen immer mehr abweisenden Haltung Merlas. Sie mochte ihn fürchten und sich vor ihm hüten. Inzwischen war der Bursche nun genesen und weilte wohl des Nachts nicht mehr im Hause, und so hatte die kleine Schlaue für heute in das Stelldichein gewilligt … der Blick, den sie ihm den Nachmittag zugeworfen, konnte demnach in seiner brennenden Größe nur auf ihr Einverständnis deuten.

Daß dieser Blick ein Blick heißen Zorns und zürnender Verachtung gewesen sein könnte, kam dem lebensfrohen Flink nicht in den Sinn …

Er sah sich vorsichtig in der verschlafen im Dunkel liegenden Gasse um und setzte nicht minder vorsichtig den Türklopfer in Bewegung. Gleich knarrte drinnen die enge Stiege, des Mädchens Schritte auf den ächzenden Stufen wurden vernehmlich, der Hausriegel wurde zurückgelegt – just im rechten Augenblick, denn eben kam ein Mann des Weges. Rasch drängte sich Flink in die Pforte und konnte dem nächtigen Wanderer noch entgehen – daß der sein Gönner und Wohltäter gewesen, wurde er nicht mehr gewahr. Hinter der von ihm flugs zugedrückten Tür hielt er des Geschützmeisters Kleinod im Arm und küßte wild drauflos. Das törichte Ding riß sich mit einem Aufschrei von ihm und eilte die Treppe empor. Der Riegel an der Hauspforte blieb vergessen. Der Hasselbach war rasch hinter dem Mädchen her und kam just noch zurecht, bevor sie ihre Kammertür versperren konnte. Beim schwachem Schein eines Öllämpchens sah er in ein von hellem Entsetzen verwirrtes Gesicht, in vor Schreck weit aufgerissene Augen. Mit gurrenden Worten suchte er die Verängstigte zu überzeugen, daß er doch nur eines Kusses wegen gekommen wäre, und daß er sich nicht auf die gefahrvolle Fahrt nach dem Taunus hätte begeben können, ohne ein holdes Wort aus ihrem Munde vernommen zu haben. Er wünsche doch nur ein tröstliches Gelöbnis, daß sie seiner gedenken und für ihn beten werde. Seit langen Tagen habe sie sich gegen jede Zärtlichkeit gesträubt, und nun wäre er da, um den süßen Lohn für alle Entsagungen zu ernten.

Ratlos zitternd in eine Ecke des engen Stübchens gedrückt, stand Merla da und hörte ihn mit entgeisterten Augen an. Die Hände hatte sie vorgereckt und stammelte hier und da ein kaum verständliches Nein, nein! – Doch dem Hasselbach begegnete so etwas nicht zum erstenmal. Er meinte, wie früher so klinge auch jetzt hinter dem Nein, nein! das begehrende Ja, ja! Mit lustigen Augen besah er seine Beute: Merlas dunkles Gesichtchen war hagerer geworden, nun entstellte gar noch eine unbegreifliche Furcht die bräunlichen Wangen. Erbarmenswürdig sah sie so aus …

Behutsam wollte er sich ihr nähern – doch mußte er an der Kammertür zuvorkommen und rasch den Riegel vorwerfen, sonst war sie ihm entwischt. Schwer und eilig atmend, floh Merla in ihre Ecke zurück und brach in Tränen des Zornes und der Scham aus.

Da kreischte die offen gebliebene Haustür in den Angeln, daß es durch den alten Bau knirschte. Eilige Füße wurden auf der Stiege laut, kamen vor die Kammer. Die Klinke rührte sich – jemand pochte vorsichtig an die Tür … mit einem wilden Aufgellen brach Merla zusammen und kauerte schluchzend im Winkel. Draußen bat einer um Einlaß. Der gefangene, verblüffte Hasselbach stand wie zur Bildsäule erstarrt. Das Klopfen wurde heftiger …

Da kam Merla zur Einsicht, daß es nichts anderes gab als zu öffnen. Sie erhob sich schwer, wankte hin und warf den Riegel zurück.

Mit einem verhaltenen Fluch sah Flink, daß auch diesmal wieder der Schäfer der Störenfried war.

Mit großen, verwunderten Augen stand der rote Geckir im schalen Hell des Lämpchens. Der blaue Blick lief ihm vom Hasselbach zu Merla, vom Mädchen zu dem Manne zurück. Mit einem verlegenen Lächeln schüttelte er wie vor etwas Unbegreiflichem den Kopf, auf dem der Prellschlag des Hattsteiners längst verharscht und von den bereits wieder gewachsenen kupferigen Stoppeln verdeckt war. Daß der Geckir vom Schafehüten heimkam, verriet der lange Schäferstecken, an dem im rötlichen Lampenlicht das Schnippchen wie die Spitze einer Gleve glänzte. Langsam hauchte der glutende Zorn Schatten in Geckirs sonnengedunkeltes Gesicht. Mit beiden Fäusten packte der Schäfer den Stab und senkte ihn wie einen Speer zu gewaltigem Stoß. Aber er ließ ihn in den Händen zurückgleiten, stützte sich und kreuzte die Arme. Das verlegene Lächeln kam ihm wieder, verwandelte sich jedoch immer mehr zu einem bittern, ratlos kummervollen Zug um den Mund, und bald war das Antlitz des jungen Menschen bleich verschleiert. Da ging das sanfte Blau seiner Augen in ein grimmiges Flackern über, und mit diesem erzürnten Schauen brannte er tief in Hasselbachs fassungslosen Blick.

»So, so – bin wohl ein bissel zu früh heimkommen?« brachte Geckir endlich hervor. Seine Stimme klang rauh und zerbrochen. »Hab' dir ja gesagt gehabt, Merla, daß ich vorm Neuneläuten heimkäme, dieweil sie mich neulich auf der Wache behalten wollten, als ich ein wenig zu spät die Schafe eintrieb. Hab' dir's gesagt gehabt – hättest dich danach richten können.« Er stand da, als warte er auf eine Antwort. Merla starrte ihn mit trockenen Augen an. Flink nagte verärgert an der Unterlippe. Dann sprach der Hirt weiter. Es war, als rede nicht seine Seele, sondern nur sein Mund. »Nun – es kann der Mensch wohl einmal zu zeitig sein und er kommt dennoch zu spät – und dabei wird das Zuzeitigsein ihm von Nutzen.« Der traurige Blick geriet aus der Wehmut in Grimm, vom Grimm zu enttäuschtem, schadenfrohem Spott. »Unzeitig kommen aber ist wohl bitter – bitter für alle. So rate ich dem Herrn, Hanns Grysens Haus zu verlassen, ehe sich der Meister einfindet. Ich traf ihn an der Ecke; er stand dort mit Gürg Putzmirslicht und wies mich an, voranzugehen. Stell' das Lämplein auf die Treppe, Merla, damit erst der Herr Hauptmann und dann der Vater den Weg sehen. Gute Nacht beisammen!«

Er stieß mit zornigem Gelächter den Schäferstecken hart auf, wendete sich stracks ab und stapfte die Stiege nach dem Dach hinauf. Müde mußte der Geckir sein, denn der Schritt war ihm schwer und langsam.

Schwüle Stille war zwischen den beiden Zurückbleibenden.

»Hätte ich gewußt, daß der Mensch noch bei euch im Hause nächtigt …«, begann Flink bedrückt.

Doch ohne seiner zu achten, nahm Merla das Lämpchen und ging stumm über den Flur in die Tagstube.

Der im Dunkeln bleibende Flink tappte sich mit einem Fluche aus der Kammer und tastete mit der Fußspitze nach der Stiege. Als er eben die erste Stufe gefunden hatte, ging drunten die Pforte. Mondlicht fiel durch den Türspalt, für einen Augenblick vom eintretenden Geschützmeister verschattet. Wollte Flink nun aus dem Hause kommen, so blieb ihm nichts übrig, als seine Anwesenheit preiszugeben. Einen flüchtigen Augenblick überlegte er, ob es nicht doch besser war, nach Merlas Kammer zurückzueilen … doch dann faßte er Mut.

»Laß erst einen verspäteten Besucher hinaus, Hanns!« rief er ins Dunkel hinab.

»Was … wer ist denn …?« Der Geschützmeister wollte eben den Riegel vortun. Nun hielt er inne und öffnete die Pforte weit, um den Flur durch das falbe Mondscheinen beleuchten zu lassen. In dem weißen Hell fand Flink die Stiege und blieb unten vor dem Erstaunten stehen. »Ihr, Herr …?!« Mehr konnte Hanns Grysen nicht sagen, denn er war fast geneigt, diese Erscheinung als aus dem schweren Weine der Herberg am Galgentor stammend zu nehmen.

Flink legte ihm beschwichtigend die Hand auf die Schulter. »Laß dein Mädel aus der Schuld, Hanns!« sagte er dazu. »Es war eine arge Dummheit, die ich beging. Wie's kam, sage ich dir, sobald ich aus dem Taunus heimkehre. Gute Nacht und Lebewohl!« Damit schritt er an ihm vorbei und verschwand im Schatten der gegenüberstehenden Häuser, um sich zu verbergen. Aber der Abend war unheilvoll – kaum wenige Schritte weiter traf er auf den scheppen Gürg …

Hanns stierte in den bleichen Mondglast hinaus, als hätte er Gespenster gesehen. Langsam dämmerte ihm der Zusammenhang und damit überkam ihn eine entsetzliche Wut. Er prallte die Pforte mit gewaltiger Hand zu, daß der Hall das ganze Gebäude durchzitterte, und stürmte mit langen Sätzen die Stiege hinauf.

In der Tagstube saß Merla mit blutlosem Gesicht bei dem flackernden Öllichtchen.

Dicht trat der Meister vor sie hin. »Hast du den Hasselbach eingelassen?« frug er knurrend.

Auf ihr stumm verzweifeltes Bejahen und bevor sie noch erklären konnte, wie der Zufall gespielt, klatschte ein Schlag durch die Öde der Stube – der erste Schlag, den der Geschützmeister je gegen sein Kind geführt.

Mit unsäglich müdem Blick erhob sich das Mädchen und ging still und starr hinaus. Drüben fiel die Kammertür ins Schloß. Kein Weinen ward hörbar, nur ein dumpfes, zerquältes Stöhnen und das dämpften die Kissen auf Merlas Lager.

Schwer brach der Geschützmeister auf der Ofenbank zusammen und blickte in schweigendem Leid vor sich nieder. Schlaff hingen ihm die gefalteten Hände zwischen den Knien. Langsam erhob er endlich die Rechte und besah die heißen Finger, als könne er's nicht fassen, daß dieses Glühen von einem Schlage kam, den er ins Gesicht seines Stolzes und seines Glücks getan. Er schüttelte sich vor innerm Grauen: war das Mädchen jener italischen Merla Kind – und daran hatte er nie gezweifelt –, dann lag im Blute, was er geschehen wähnte. Und der Schmerz des verlorenen reinen Glaubens an seine Merla rüttelte den alten Mann derart, daß er zitterte.

Über all dem Grübeln verging die kurzwährende Sommernacht. Hanns erhob sich mit schmerzenden Gliedern und öffnete das Fenster.

Die Dachtreppe herab kam des Schäfers Schritt. Der tappte schwer und langsam.

»So, so, bist du auch schon auf!« sagte der Geschützmeister und ließ sich die glühende Stirn vom Frühwind kühlen.

Still sah Geckir in das aschfahle Gesicht des Alten. Wirr und unordentlich hingen dem übernächtigen Hanns die Haare in die Stirn. Gealtert sah der Meister aus, kummervoll und leidbeschwert. Und da der Schäfer dies zermürbte Aussehen ganz richtig deutete, kam ihm ein heißes Mitleiden, gemischt mit der Reue: die Begegnung des Meisters mit dem Hasselbach hätte er verhindern sollen – auf irgendeine Art wäre das wohl möglich gewesen.

»Ich habe heute einen weiten Weg, drum bin ich so früh heraus«, erklärte Geckir bedrückt, weil er sich der Lüge schämte, die doch eigentlich keine war – nur daß es ein Abschied für immer werden sollte, verbarg er dem Hanns. Mit gesenkten Augen stand der Hirt da. Endlich faßte er sich ein Herz und trat mit ausgestreckter Hand vor den Geschützmeister hin. »Behüt Gott, Vater!« Ihn so zu nennen, hatte der Alte ihm geboten.

Hanns guckte erstaunt trotz seiner Sorgen. »Wie, ohne Frühlabe willst du aus dem Haus?«

»Mich hungert nicht«, entgegnete Geckir und dachte bitter daran, wie ihm – seit er die Tiere wieder auf die Weide getrieben – Merla morgens stets eine warme Suppe herzugetragen, wie sie ihm das Brot vorgeschnitten, ein liebes heimliches Wort mit ihm getauscht und ihm einen freundlichen Blick mit einem segenvollen Kuß auf den Weg geschenkt.

»Dich hungert nicht? Dann zwing deinen Magen zum Hunger!« befahl der Geschützmeister. »Der Mensch kann kein Amt tun, der mit schlappen Därmen darangeht. Eine Schüssel mit Dickmilch wird in der Küche vorhanden sein. Merla mag sie bringen. Ich will's ihr sagen und – noch eine Weile schlafen gehen!« Er reckte sich, als wäre er zu früh aufgestanden; dann verließ er die Stube.

Geckir sah ihm mit wehen Augen nach … nun kam er um den verheimlichten Abschied von Hanns, dem guten Hanns, der ihn wie ein Kind aufgenommen, gehütet und geheilt hatte. Das Naß wollte ihm in die kupferigen Wimpern, aber er zwang es mit quälendem Schlucken zurück. Drüben hörte er den Meister an des Mädchens Kammer pochen. Der Riegel glitt sofort zurück. Ein flehendes »Vater!« Merlas war vernehmlich  … die hatte also auch nicht geschlafen! Und nun würde ihm werden, was er zu vermeiden gesucht: eine letzte Begegnung mit ihr. Er tat einen raschen Schritt nach der Tür – vielleicht konnte er noch geschwind die Treppe hinab. Aber der Geschützmeister befahl dem Mädchen etwas und kam noch einmal in die Stube zurück.

»Ich wollte nur wissen: gingst du gestern abend sofort unters Dach?« frug er.

Einen Augenblick überdachte Geckir, ob er die Wahrheit sagen solle; dann antwortete er kurz: »Ich bin schlafen gegangen.« – Das war wenigstens nicht geradezu gelogen.

Hanns stand stumm mit gesenktem Haupte. Merla kam mit der irdenen Schüssel und dem Brotlaib. Ihr verlangender Blick in des Vaters starres Gesicht heischte nach einem guten Wort. Aber er sah über sie hinweg und ging wortlos in seine Schlafkammer. Darüber wandelte sich der jammervolle Ausdruck auf des Mädchens Zügen zum Ausdruck finstern Trotzes. Sie trug die Sauermilch auf den Tisch und gab das Brot daneben. Als sie nun zu Geckir trat, legte sie ihm die Hand auf die Schulter, nach einer Bitte, einem Wort der Aufklärung suchend. Er fühlte, wie diese Hand bebte. Und obwohl ihm das ins Herz schnitt, drängte er Merla von sich, verzehrt von grollender Eifersucht. Die Zähne knirschten ihm im Grimm – doch galt der Grimm dem Hasselbach. Geckir ballte die Fäuste.

»Willst du wie der Vater tun? Mich schlagen, ohne von mir erst zu hören, wie das gestern abend kam?« klagte sie, als sie vor dem zornig stählernen Blau seiner Augen zurückwich.

Geschlagen also hatte der Meister sie! … Schon öffnete er den Mund – das Mitleid wollte ihm über die Lippen, sein wehes Herz gebot ihm eine liebkosende Bewegung. Aber er sah in das verstörte Gesicht Merlas – und glaubte an ihre Schuld. Er sah den roten Mund von einem andern geküßt, dachte an den Abend, da er sie in Flinks Armen gefunden – die Erklärung, die sie ihm dazu geboten, schlug er heute in den Wind – Unwahrheit war sie – der Grimm stieg ihm heißer auf – nun auch gegen sie …

»Was wäre erst zu fragen und zu hören, wenn der Blick als Zeuge diente, Dinge sah, die kein Mund widerlegen kann?« antwortete er hart. Ein herbes, leises Lachen und dann ein Seufzen. »Wenn's dem vornehmen Hauptmann gestern nach einem Lebewohl in deiner Kammer zu tun war, wer wollte ihm das verdenken, wo ihm so frei Gewähr wurde.«

»Als ich die Haustür öffnete, dachte ich, du kämest heim. Er überfiel mich –«

»So, so – wie jenesmal ein Ausgleiten die Schuld war, daß er dich an seinem Herzen fand! Nun, es mag wohl ein Ausgleiten gewesen sein – denn auch der Mensch glitt aus, der auf schlechte Wege geriet!« spottete er. »Und wenn er dich gestern abend überfiel, so führtest du ihn in deine Kammer und schobst den Riegel vor, damit das Überfallen niemand gewahr werde?« Und diesmal war das bittere Lachen laut und klang recht häßlich.

»Den Riegel tat er doch vor!« empörte sie sich und stampfte, vor Verzweiflung die Hände ballend, mit dem Fuße.

»Er tat ihn vor? Gut – das mag dem Riegel nichts Neues gewesen sein, bevor er sich dran gewöhnen mußte, daß er auch von meiner Hand heimlich vorgetan ward. Was weiß so ein Riegel – dem ist's gleich, ob meine Hand, ob die des andern!« blieb er bei seinem Hohn.

Eine wilde Flamme schlug über Merlas Antlitz. »Du wirfst mir also vor, daß ich dich den Riegel …?« Die Flamme lohte zurück, das erbleichende Gesicht wurde steinern vor Scham, das Mädchen vermochte den Satz nicht zu beendigen. Tränen schossen ihr in die Augen. »Verdacht und Eifersucht hätte ich dir vergeben können – den ehrlosen Vorwurf aber verzeihe ich nimmer, nimmer!« Sie nestelte rasch am Brusttuch und ließ dann die geballte Hand sinken. Ein roter Faden hing zwischen den Fingern hervor, als rinne das Blut in einem dünnen Streif. »Aufbewahrte Haare trennen … den Glauben vergaß ich, als ich sie an mir verbarg. Das Kringlein hätte ich besser mit hinausgefegt. Vielleicht wäre dann Glück wie Unglück ferngeblieben.« Sie öffnete die Hand. Der rote Faden schlängelte ihr zu Füßen, von etwas Schwerem gezogen. Dann war Merla hinaus.

Als sich Geckir bückte und die rote Wolle aufnahm, glitzerte es gülden daran in der wach werdenden Morgensonne. Erstaunt erkannte er das Ding: ein Lockengeringel von seinem Haupte, sorgsam mit einem Zwirnfaden zum Reifchen gezwungen. Auf der Brust hatte sie das getragen? Alle Eifersucht schmolz bei dem Anblick, aller Trotz stob davon, aller Verdacht war wie nie gewesen. Was war dies Zeichen anders als ein Beweis ihrer Treue? Unbändig glomm das Freuen in ihm auf. Ein Zittern überkam ihn, und das Herz öffnete sich weit wie ein Brunnen – ein Brunnen, in dem ein Stein versank … und der Stein war der Verdacht, der in der ungründigen Tiefe ertrank. Der Morgen war plötzlich heller geworden – nicht nur, weil die Sonne draußen so freudig schien. Mit raschen, leichten Schritten sprang Geckir über den Flur und pochte leis an Merlas Kammer. Doch drinnen blieb es stumm und still, als läge eine Gestorbene in dem Gemach. Ein sanftes, zärtliches Locken und wieder ein Pochen – vergeblich … ein heißes Flüstern und Flehen – umsonst …

Da flog des Geschützmeisters Schlafkammer auf. Mit wutentstelltem Gesicht trat Hanns auf die Schwelle. Die Augen quollen ihm aus dem Kopf, als er den Schäfer vor des Mädchens Tür fand. »Was tust du da?« frug er bebend mit vor Zorn und maßloser Verwunderung erstickter Stimme. »Willst du versuchen, ob dir's wie dem Hasselbach glückt?«

Und während Geckir vergeblich nach einem Wort suchte, das den Meister beruhigen könnte – indes er mit blanken, frohen Augen nur das Gestammel fand: »Ich hab' sie ja so lieb, so lieb!« –, klirrte plötzlich der Riegel zurück und Merla stand mit verweinten Augen im Türrahmen. Ihr Antlitz war finster – wie in einem furchtbaren Entschluß; kurz nur kämpfte sie mit der Anklage, dann schallte sie sie dahin.

»Scheuch' den Schäfer augenblicklich aus dem Haus, Vater, wenn du nicht willst, daß ich flüchten soll – der Mensch stellt mir seit langem unehrlich nach!«

Das war alles, was das Mädchen sagte, zurücktretend und den Riegel wieder vorwerfend.

»Ei du verdammter Hund!« grollte der Geschützmeister tief und furchtbar los. »So also lohnst du Güt' und Gnad'? So vergiltst du Barmherzigkeit und möchtest den entehrten Hausfried' noch mehr entehren? Hinaus mit dir!« Mit jedem Wort war Hanns langsam nähergekommen. Beim letzten stieß er, blind vor Wut, mit der Faust nach des roten Geckir Gesicht.

Der Stoß ging fehl, der Schäferstecken prallte fort und kollerte die Stiege hinab. Das Schippchen daran sprang ab und hüpfte mit grellem Klingen über die Stufen; klirrend blieb es im Hausflur liegen. Das klang, als wäre mit des Geschützmeisters Faustschlag etwas zerbrochen und vernichtet: eines guten Menschenkindes Herz, das durch eines mitschuldigen Mädchens Wort zeihender Schuld den ersten Sprung davongetragen.

Nicht in Furcht – aus Verachtung und zugleich aufs tiefste beschämt, wich Geckir vor den blutunterlaufenen Augen des Geschützmeisters bis an den Rand der Treppe. Hier hob der ihm folgende, aufs maßloseste ergrimmte Hanns noch einmal die Faust. Vor dem starren, blitzenden Augenpaar des Hirten aber besann er sich, kehrte sich ab und ging zornig murmelnd in seine Schlafstube. Langsam wendete sich Geckir um und stieg ins Haus hinab. Er las seine Sachen zusammen, klemmte die Schäferschippe auf den Stecken und ging durch die helle, frohe Sonne wie träumend die Gasse entlang. Das neue Tageslicht vergoldete, umschimmerte und beglänzte die Häuser, als wäre nur eitel Glück und Freuen diese Erde, auf der kein Menschenkind doch ohne Weh bleibt. –

Als Merla später über den Flur in die Küche wollte, um dem Vater die Morgensuppe zu bereiten, sah sie auf ihrem Weg das kupferige Haarkraus am roten Wollfaden liegen. Sie schleuderte es verächtlich mit der Schuhspitze in eine Ecke. Wie aber das Herdfeuer in den Tannäpfeln prasselte, ging sie hinaus und suchte die Locke, um sie zu verbrennen. Schon wollte es flackernd an dem roten Wollfaden aufklettern, und schon begann das sengende Haar zu knistern. Da zuckte das Mädchen erschrocken zurück und löschte das beginnende Brennen mit hastigen Fingern. Und gleich darauf ruhte das unversehrte gerettete Haarreifchen wo es immer geruht – zwischen dem Hemdlein und der sich in gequältem Schluchzen regenden Brust. Die Flammen auf dem Herde lockten und leckten und verzehrten ungenützt die harzduftenden Tannäpfel. Merla wurde es nicht gewahr. Sie stand mit sehnend in ein Fern gerichteten Augen, und die aus dieser Sehnsucht kommenden, im Feuerschein glühenden Zähren rannen ihr über das schmal und ernst gewordene Gesicht. Träne um Träne. Sie griff an ihr Herz. Was sprach da drinnen – so rätselhaft und traurig und dennoch tief beglückt? … Langsam sank ihr das Kinn auf die Brust. Das Reden dieses Herzens war Glück und Unglück zugleich. Die Tropfen liefen über das Kinn und suchten sich den Weg zum Haarreifchen und netzten Haut und güldenes Kraus zugleich … Zähre über Zähre, dem Leid entfließend und der Schuld. –

Unter dem Bogen des Bockenheimer Tores stand ein Mann und unterhielt sich mit dem Wart, als der rote Geckir vorüberkam.

»Na, was ist? Wo hast du denn deine Schafe?« rief der Pförtner den Hirten an.

Aber der schüttelte nur stumm den kupferigen Borstenkopf und wanderte vereinsamt weiter – mit kahl geschorenem Haupte wie ein Büßer, der sich auf den Weg zur Sühne seiner Schuld machte.

Der andere Mann hinkte ein Stück Wegs in die Gasse zurück und sah, die Augen beschattend, in den flimmerigen Morgenschein und den Weg hinab. Ein Mensch kam eilig daher; zufrieden ging der scheppe Gürg wieder zum Wärtel.

»Ja, wie ich sagte«, setzte der alte Torwart die begonnene Unterhaltung fort. »Bei unserer Wache ist der Henchen Hanauwe auf dem Heimweg nicht durchgekommen. Müßt's denn sein, er nahm den Weg über Heddernheim; dann wäre er beim Eschenheimer Turm in die Stadt gelangt.«

»Er war wohl gescheit und blieb in Cronberg über nacht«, mutmaßte Gürg Putzmirslicht und lugte ungeduldig abermals die Gasse hinab. Aber der Mensch von vorhin war nun verschwunden – nur die Sonne griff an alle Fenster, als wolle sie die Langschläfer wecken, das strahlende Frühtagleuchten zu bestaunen. Und ein paar schilpende Spatzen hüpften froh im wärmenden Licht. Da hinkte der Gürg mißmutig unter der Bogenwölbung hin und trat vor das Stadttor hinaus. Er sah nach dem über den dampfenden Wiesen blau schimmernden Taunus. Breit und behaglich, wie eine Heimstatt sanfter Schönheit lag das Gebirge drüben. Wie zog's den Stückknecht nach den Wäldern jener Berge! … Der Blick hing ihm dort, seine Augen leuchteten, als hätte er nach langem, langem Irregehen den Weg zum Jugendglück auf einmal wiedergefunden …

Und noch ein anderer staunte nach dem Taunus hinüber. Ziellos war der rote Geckir aus der Stadt gegangen – nur irgendwohin – nur dahin, wo's keine Merla gab mit Lügen und Tücke – nur irgendwohin, wo kein ungerechter Hanns Grysen Horne mit rauhen Fäusten nach einem Herzen voller Liebe schlug! An den Lattenzaun eines Rebgartens gelehnt, stand der Schäfer und sah die blaue »Höhe« in der Ferne locken. Wie sie rief und rief. Was mochte dort Geheimnisvolles sein, wo die Berge wie eines Zaubergartens Mauer aufgetürmt vor dem dahinterliegenden Rätselhaften lagen? Was war da Wunderbares, das solche Sehnsucht wecken konnte? … Sehnsucht nach der fremden Weite. An manchen Tagen vorher hatte er stumm bei den äsenden Schafen gestanden und so gedacht wie heute, immer die stillen Höhen vor Augen, immer den lockenden Ruf im Herzen. Nun reckten sich dort unsichtbare Arme aus, bereit, ihn an eine Brust zu nehmen, Vergessen versprechend, davon raunend: daß hinter den dämmernden Wäldern dort Friede und Ruhe wohnten, die jeden Bekümmerten willkommen hießen.

Fast unbewußt drehte Geckir das Schippchen los und barg das blanke Metall in der umgehängten Hirtentasche. So schuf er den Schäferstab zum Wanderstecken und schlug den Weg geradeaus nach den Bergen ein. Über Wiesen und Felder, immer der Höhe zu – wie ein verirrter Wandervogel den nahesten Weg nimmt, wenn er Heim und Statt verfehlte.

Der rote Geckir war der zweite, der nach den Taunuswäldern aufbrach. –

Längst war der Schäfer hinter der Ginnheimer Höhe verschwunden, dort, wo damals einer vom Hattstein nach Hirt und Hund mit dem Schwerte schlug, als endlich der Hasselbach in ein zerschlissenes Söldnergewand gekleidet bei der Bockenheimer Pforte anlangte.

»Zum Teufel«, fuhr er auf Gürg los. »Ich wartete am Eschenheimer Tor auf dich. Und wenn ich nicht auf den Einfall komme, dich hier zu suchen, so lauern wir bei Sonnenuntergang noch aufeinander.«

»Ihr sagtet aber gestern abend bei des Geschützmeisters Haus ausdrücklich: bei Sonnenaufgang am Bockenheimer Tor«, verteidigte sich Gürg. Einesteils wußte er nicht, daß der Hasselbach bei Verspätungen nie um eine Ausrede verlegen war, andernteils ahnte er nicht, daß er den Flink mit der Erwähnung von Hanns Grysen Hornes Haus reizte.

»Ach, gestern abend – gestern abend!« brach der Hauptmann aus und wurde bei der Erinnerung an diesen gestrigen Abend noch schlimmerer Laune. »Vor allem merk' dir, daß ich nicht mehr Herr und Hauptmann bin, sondern dein Gesell und Kamerad. Von heute an sind wir du und du und ein Paar eidbrüchiger, fortgelaufener Söldner Frankfurts.«

»Wohl, wohl«, knurrte Gürg Putzmirslicht und hinkte gedankenvoll neben Hasselbach einher, hinaus in den schimmernden Tag. Und zählte auch das lahme Bein des Stückknechts »einunddreißig, zweiunddreißig«, das Herz schlug ihm nicht minder in gleichem Takt, und es schlug dem alt Aussehenden wie einem Jungen. Die Augen blinkten ihm wie in frohen Tagen … er mußte ein seltsames Wiedersehen erhoffen im Taunus.

Mißmutig schritt Flink im Staub dahin. Frohmütig hielt sich ihm Gürg zur linken Seite. Sie waren die letzten, deren Aufbruch heut dem grünen Taunus galt. –


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