Joseph Smith Fletcher
Der Amaranthklub
Joseph Smith Fletcher

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Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Der Kampf um die Lüge.

Diese Worte machten einen furchtbaren Eindruck auf die Versammelten. Wie erstarrt saßen alle da. Nur Letty griff instinktiv nach Stephan Ellingtons Hand. Der alte Mann warf einen entrüsteten Blick auf Hilda und stieß mit einer vor Ärger zitternden Stimme ein paar Worte heraus.

»Nie im Leben habe ich einer Dame gegenüber solche Ausdrücke gebraucht, aber ich habe kein Bedenken, sie jetzt anzuwenden. Sie haben eben gelogen, bewußt gelogen, bewußt gelogen.«

»Ihre Worte sind mir gleichgültig«, sagte Hilda mit verächtlichem Lachen. »Mag er leugnen, wenn er es wagt.«

Oberst Tressingham stöhnte.

»Er soll sprechen.« Und wütend wandte er sich an George. »So machen Sie doch den Mund auf, Mann. Warum sprechen Sie nicht?«

George saß da, als werde er durch ein schweres Gewicht niedergedrückt.

»Lassen Sie mich einen Augenblick nachdenken«, sagte er endlich.

Hartsdale warf seinen Stock auf die Erde.

»Nachdenken!« rief er aus, »wenn eine derartige Beschuldigung ausgesprochen wird! Hier gibt es nur ein Ja oder ein Nein!«

»Allerdings«, stimmte der Oberst bei. »Antworten Sie endlich, Herr.«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und der hohe Herr, den Hilda vorhin getroffen hatte, trat ein.

»Mir fiel gerade ein, Ellington«, begann er, »ich –«

Er brach ab und sah auf die Menschen im Zimmer.

»Bitte um Entschuldigung. Kann ich Sie einen Augenblick sprechen, Ellington? Ich habe einen Gedanken –«

»Einen Augenblick«, unterbrach ihn George, der auch einen Gedanken hatte. »Inzwischen ist etwas geschehen. Vielleicht hören Sie mich erst an.«

»Ja«, sagte der alte Ellington bestimmt, »so ist es am besten.«

Der hohe Herr zögerte einen Augenblick und trat dann weiter ins Zimmer. Er erkannte Lord Hartsdale sowie dessen Schwester und begrüßte beide mit kühler Verbeugung. Sein scharf geschnittenes Gesicht wurde ernst.

»Ich merke, daß etwas geschehen ist«, sagte er. »Hängt es mit unserem Fall zusammen?«

»Allerdings«, antwortete George. »In der Nacht, als die Tasche mit dem Dokument hier lag, war diese Dame, Frau Tressingham, in diesem Raum. Als ich sie überraschte, gab sie als Erklärung an, sie habe mit einem Drücker die Seitentür geöffnet, um in einem Schrank – ich habe das Haus von ihrem Bruder gemietet – nach Familienpapieren zu suchen.«

Der hohe Herr sah Hilda scharf an.

»Was, mitten in der Nacht?« fragte er.

»Das war ihre Erklärung. Ich ließ sie heute nachmittag hierherkommen, diese Erklärung zu wiederholen. Soeben bat ich sie, uns zu erzählen, ob sie bei dieser Gelegenheit Einsicht in das Dokument genommen habe. Das hat sie zugegeben.«

»Wirklich?«

Der Zorn, der in der Stimme des alten Staatsmannes lag, war nicht zu überhören, und Hilda erschrak vor dem erbarmungslosen Glanz seiner Augen.

»Sie gibt es zu und behauptet, ich hätte ihr das Dokument gezeigt.«

»Sie sollen es ihr gezeigt haben?«

»Natürlich«, sagte George, »ist das eine freche, wohl überdachte Lüge.«

Wütend sprang Oberst Tressingham auf, als wollte er sich auf den Ankläger seiner Frau stürzen. Aber eine Handbewegung des Ministers brachte den alten Soldaten zum Schweigen.

»Ihre Privatangelegenheiten können Sie später regeln, Herr Oberst«, sagte er in befehlendem Ton. »Hier handelt es sich um eine Staatsangelegenheit, die wichtiger ist, als Sie zu ahnen scheinen. Habe ich recht verstanden, Ellington, diese Dame war des Nachts in dem Zimmer, in dem das Geheimdokument lag?«

»Ja.«

»Sie hätte also Zeit genug gehabt, sich mit dem Inhalt bekanntzumachen?«

»Freilich. Aber als ich nachsah, waren Schlösser und Siegel an Tasche und Umschlag unversehrt.«

»Und Sie begnügten sich mit ihrer Erklärung?«

»Ja, so seltsam es mir jetzt auch vorkommt.«

Der Minister sah Hilda mit einem Blick an, den Angeklagte wie Zeugen vor Gericht gefürchtet hatten, als er noch das Amt des Staatsanwalts versah.

»Nun, gnädige Frau«, begann er in einem Ton, der Hildas Gerissenheit gegenüber freilich seine Wirkung durchaus verfehlte, »wollen Sie mir vielleicht eine Erklärung geben?«

»Und wenn ich mich weigere?« sagte sie schnippisch.

»Das werden Sie kaum tun. Beantworten Sie mir bitte eine Frage. Stimmt es, daß Mr. Ellington Ihnen das Dokument, dessen Übersetzung heute in einer ausländischen Zeitung erschienen ist, selbst gezeigt hat?«

»Ja.«

»Unter welchen Umständen?«

»Oh«, sagte sie leichthin, »unter sehr einfachen Umständen. Ich bin nicht die erste Frau, bei der sich ein werdender Staatsmann Rat geholt hätte, besonders wenn die eigene Frau kein Muster an Klugheit ist. Sie selbst, Mylord –«

»Bleiben Sie bei der Sache«, sagte der hohe Herr streng. »Ich bin nicht zum Plaudern hier. Unter welchen Umständen zeigte Ihnen Mr. Ellington das Schriftstück?«

»Ich muß Ihre Frage beantworten, wie es mir paßt«, sagte Hilda überlegen. »Ich habe Mr. Ellington bei seiner Wahl unterstützt und mich ihm nützlich gemacht. Ich habe hier das Haus für ihn eingerichtet. Infolgedessen suchte er meine Gesellschaft. Wir haben oft zusammen gegessen, auch in meiner Wohnung. Er war mehrmals dort allein bei mir.«

Der Minister sah George scharf an.

»Stimmt's?«

»Gewiß, aber die daraus gezogenen Schlüsse sind falsch.«

Der hohe Herr runzelte die Stirn.

»Ich kann meine Schlüsse selbst ziehen. Fahren Sie fort, gnädige Frau.«

»Mr. Ellington hat oft Staatsgeschäfte mit mir besprochen. Wir erörterten auch manchmal die Flottenprogramme der Weltmächte, und dabei gab er mir Andeutungen über unser Programm, das sehr weittragend sein würde. Er –«

»Kein Wort ist wahr davon«, unterbrach sie George.

Der hohe Herr sah George sonderbar an. Dann bedeutete er Hilda, fortzufahren.

»Auch hier erbat er sich eine Ansichtsäußerung von mir. Ich habe viel über Marineangelegenheiten gelesen. Und in dieser Nacht zeigte er mir jenes Dokument.«

»Vertraulich?«

Das Wort sollte wie ein Schuß wirken. Aber diese Zeugin war auf der Hut.

»Nicht vertraulich. Als eine interessante Angelegenheit.«

»Und wie behandelten Sie diese interessante Angelegenheit? Nahmen Sie eine Abschrift von dem Papier?«

»Nein, ich prägte mir den Inhalt ein.«

»Den ganzen?«

»Nur die Hauptpunkte.«

»Die Hauptpunkte, und die wörtlich. Das merkt man an der Übersetzung.«

Hilda zuckte die Achseln.

»Was geht mich die französische Presse an?« sagte sie.

Der Minister stand auf. Abwechselnd schloß er die Knöpfe seines Überrocks und öffnete sie wieder, ein Zeichen, daß er scharf nachdachte.

Plötzlich wandte er sich an George.

»Kommen Sie um fünf zu mir«, sagte er.

Mit kaum merklichem Neigen seines Hauptes verließ er das Zimmer. George begleitete ihn. Letty folgte George und der alte Ellington wiederum Letty.

Die beiden Männer, die mit Hilda zurückgeblieben waren, traten in eine Ecke und flüsterten miteinander. Hilda ging hinaus. Schließlich nahm Lord Hartsdale den Arm des alten Soldaten und führte ihn aus dem Zimmer. Während sie die Vortreppe hinuntergingen, sahen sie, wie Hilda in eine Droschke stieg. Sie fuhr an ihnen vorbei, ohne sie zu bemerken, und Oberst Tressingham schüttelte den Kopf.

»Hartsdale«, sagte er, »ich fange an, zu begreifen.«

 


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