Joseph Smith Fletcher
Der Amaranthklub
Joseph Smith Fletcher

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Elftes Kapitel.

Avory auf dem Anstand.

Gegen zwei Uhr morgens verließ Richard Avory mit den letzten Gästen den Amaranthklub. Die einen nahmen sich Droschken, die anderen bestiegen ihre eigenen Autos, die in der Nähe warteten. Avory selbst, der unter dem Vorwand, sich eine Zigarre anzustecken, ein wenig zurückgeblieben war, wartete, bis die Tür des Klubhauses geschlossen wurde. Dann ging er langsam seines Weges. Als er den St. James Square erreicht hatte, blieb er nachdenklich stehen. Schließlich starrte er zu den Sternen am Himmel, als wenn er sich dort oben Rat holen wollte.

»Es ist seltsam«, murmelte er, »über die Maßen seltsam. Ich kann es nicht verstehen.«

Dann machte er Kehrt und ging bis zur Jermynstraße, wo er dicht hinter der St. James-Kirche ein paar altmodische, aber sehr behagliche Zimmer bewohnte. Schon wollte er seine Korridortür öffnen, als er aus der gegenüberliegenden Wohnung die Töne einer Flöte vernahm. Er stutzte und nickte, als sei ihm mit der nächtlichen Musik eine Erleuchtung gekommen. »Banister King ist noch auf«, sagte er. »Ich will mir bei ihm Rat holen.«

Avory läutete. Die Flöte schwieg, und er hörte Schritte. Die Tür wurde geöffnet, und ein Mann erschien in ihrem Rahmen.

Ein Unbekannter wäre über den Anblick, der sich ihm plötzlich darbot, in Erstaunen geraten. Auf der Schwelle stand ein großer junger Mann, aus dessen hagerem ländlichem Gesicht ein paar große und ungewöhnlich scharfe Augen blitzten, und der mit einem schlafrockartigem Gewand von schwarzem, mit allerlei grotesken Figuren bestickten Samt bekleidet war. In der linken Hand hielt dieser Mann eine silberbeschlagene Flöte. Mit der andern Hand winkte er Avory wie ein Zauberkünstler, der Besucher für seine Bude anlocken will.

»Tritt ein, Avory«, sagte er in seiner sorglosen Weise. »In Zukunft werde ich meine Korridortür immer offenlassen, damit die Leute herein können, ohne mich zu stören.«

»Das wird für die Leute ein großes Vergnügen sein, und sie werden in hellen Haufen kommen, um dich zu sehen, wie du mitten in der Nacht in diesem Aufzug auf dem Wimmerholz tutest«, erwiderte Avory, indem er eintrat und die Tür hinter sich schloß. »Ich möchte wissen, ob man in ganz London noch einen Menschen findet, der morgens um drei Uhr die Flöte bläst.«

»Das stört mich nicht«, antwortete der andere gleichgültig. »Komm und trink einen Schnaps, denn das ist doch ohne Zweifel dein Begehren.«

»Nicht in erster Linie; an besseren Getränken habe ich in meiner Junggesellenbude selbst einen ganz hübschen Vorrat. Nein, ich wollte mit dir sprechen. Da du mich aber einladest –«

King ging voran in ein erleuchtetes Zimmer, warf sich in einen Sessel und deutete mit der Hand auf eine kleine Anrichte, wo Avory, der mit den Gewohnheiten seines Freundes vertraut war, sich selbst bediente. Dann sah er sich im Zimmer um und sagte:

»Lieber Himmel, King, was bist du für ein verdrehter Kauz, und was für eine schnurrige Höhle ist das, in der du wohnst.«

Neunundneunzig Menschen von hundert würden hier Mr. Richard Avory beigestimmt haben. Das Zimmer mutete wirklich ebenso schnurrig an wie sein Bewohner. Seltsam waren die Möbel, die Bilder, die Bücher, kurz alles, was sich in dem Raume befand. Sicherlich war alles wertvoll, von den japanischen Gobelins bis zu dem chinesischen Porzellan. Aber alles war exzentrisch, und das seltsamste befand sich mitten im Zimmer. Auf einem runden Tisch stand die diabolisch häßliche Figur irgendeiner Gottheit des Ostens, eine grotesk verbogene Gestalt aus grünem Nephrit, aus deren Gesicht ein paar gelbe Augen grausam starrten. Davor stieg aus einem wunderlich geformten Gefäß Weihrauch in schweren Wolken empor. Auf der anderen Seite stand eine Flasche mit Wein. Die Flasche war antik und von großer Schönheit, der Wein purpurrot. Daneben lag eine türkische Pfeife. Auf all diese Dinge sah Banister King mit rätselhaftem Blick.

»Ich war gerade im Begriff, Seiner Hoheit ein bißchen Weihrauch und ein bißchen Musik zu opfern«, bemerkte er. »Er bedarf dessen von Zeit zu Zeit. Den Wein trinke ich selbst, denn er mag ihn nicht.«

Avory schnitt der Figur eine Grimmasse.

»Es würde mich nicht überraschen, wenn du zur Teufelanbeterei übergingst. Aber du warst schon immer ein wunderlicher Vogel. Trotz deiner tollen Einfälle traue ich dir indessen immer noch mehr gesunden Menschenverstand zu als den meisten meiner Bekannten. Deshalb bin ich zu dir gekommen. Ich muß dir etwas erzählen.«

Banister King nahm ein viereckiges Seidentuch, in das fremdartige Zeichen gestickt waren, und verhüllte damit das Götzenbild. Dann blickte er auf den Besucher.

»Erzähle.«

»Schön«, fuhr Avory fort, der das Tun des anderen verblüffend beobachtet hatte, »du weißt, daß ich Mitglied des Amaranthklubs geworden bin. Du weißt auch, daß ich diesen Schritt getan habe, weil ich begierig bin, alle Seiten des menschlichen Lebens kennenzulernen. Dieses Bestreben hat mich schon zu den merkwürdigsten Orten geführt. Vielleicht der merkwürdigste davon ist der Amaranthklub.«

»Wieso?« fragte King.

»Ich will es dir erzählen, denn deshalb bin ich gekommen. Du kennst den Klub, obgleich du dich standhaft weigerst, einzutreten. Du weißt auch, daß Barthelemy der Besitzer ist. Nun kennt Barthelemy mich als einen Rechtsanwalt, der zwar selten einen Prozeß hat, aber vermögend und ein Lebemann ist, der solche Gesellschaft liebt, wie man sie im Amaranthklub trifft. Er weiß ferner – der Teufel mag wissen, woher dieser Mensch seine Informationen hat –, daß ich hinter einer reichen Erbin her bin, und er kennt sogar ihren Namen. So hält er mich für ein wertvolles Klubmitglied.«

»Augenscheinlich, sonst wärst du nicht aufgenommen worden.«

»Richtig. Aber Barthelemy kennt nicht meine unausrottbare Neugierde. Er weiß nicht, daß ich aus Passion und Gewohnheit überall spionieren, allen Dingen auf den Grund gehen muß. Damit bin ich zum Ende meiner Einleitung gekommen, und ich will zur Sache übergehen. Ich habe dich bereits davon in Kenntnis gesetzt, daß die Dame meiner Wahl Marcia Ellington ist, die einzige Tochter des millionenschweren Stephan Ellington aus Ashminster.«

»Ich trinke auf deine möglichst baldige Verbindung mit der Dame und ihren Geldsäcken«, sagte King.

»Sehr liebenswürdig. Kürzlich war ich dort, und ich besuchte mit Fräulein Ellington ihren Bruder, das Parlamentsmitglied, zum Lunch. Dort trafen wir Frau Tressingham, Lord Hartsdales Schwester. Sie ist die Frau von Oberst Tressingham, der sich zur Zeit in Indien befindet. Eine hübsche bezaubernde Frau. Sie unterstützte George Ellington bei der Wahl, ohne daß sich jemand den geringsten Grund für ihr plötzliches politisches Interesse denken kann. Aber darum handelt es sich erst in zweiter Linie. Das seltsamste ist, daß ich Frau Tressingham heute nacht im Amaranthklub traf.«

»Ah! So ist sie also Mitglied!«

»Und anscheinend Stammgast. Ob sie mich bemerkt hat, weiß ich nicht, jedenfalls sah ich sie. Ich fand sie in eifriger und anscheinend streng vertraulicher Unterhaltung mit einem gewissen Armand de Garnier, einem Franzosen, der ständig in London lebt und hier Finanzgeschäfte macht. Und nun komme ich zu der Hauptsache. Ich will bei dieser Frau Tressingham klar sehen. Denn ich bin überzeugt, daß sie etwas im Schilde führt und daß ihr Interesse an der Wahl in Ashminster damit zusammenhängt. Nachdem ich sie also mit Garnier gesehen hatte, nahm ich mir vor, ein wachsames Auge auf sie zu haben. Nun ist Barthelemy unerbittlich darauf bedacht, daß niemand mehr nach zwei Uhr im Klub bleibt. Bedenk' das, King.«

»Ich habe es bedacht, mein Sohn.«

»Im Amaranthklub gibt es eine Vorhalle mit Korbsesseln. Wer sich dort aufhält, kann genau beobachten, wer kommt und geht. Dort hatte ich mich postiert, um festzustellen, wann Garnier und Frau Tressingham fortgehen würden. Verstehst du?«

»Und was weiter?«

Avory lachte und warf seine Zigarette fort.

»Aber sie gingen nicht. Einer nach dem andern verließ das Haus, ich sah, wie die Tür abgeschlossen wurde. Nur Frau Tressingham und Garnier ließen sich nicht blicken.«

»Unsinn, sie haben einen anderen Ausgang benutzt.«

»Nein, es gibt keinen andern Ausgang. Und nun noch etwas. Ich dachte scharf über diesen sonderbaren Vorfall nach. Ich habe ein sehr gutes Gedächtnis, und so kam ich schließlich dahinter, daß noch verschiedene meiner Bekannten, die ich heute nacht im Klub getroffen hatte, um zwei Uhr nicht gegangen waren. Zum mindesten kann ich auf meinen Eid nehmen, daß Jack Hazeldene, der Schauspieler, Kapitän Dilkes, den du ja auch kennst, und Lydia Linkinshaw vom Hilarioustheater nicht an meinem Beobachtungsplatz vorübergekommen sind. Wo also stecken sie? Was tun sie dort? Die Statuten sind streng, und außerdem würde die Polizei dahinterkommen, wenn jemand den Klub nach zwei verließe, und Nachforschungen anstellen. Was denkst du darüber, King?«

Avorys Freund hatte die türkische Pfeife angezündet und rauchte träumerisch vor sich hin.

Er schüttelte den Kopf.

»Ich weiß nicht, die Sache sieht putzig aus. Ich muß auf meine Ansicht zurückkommen, daß es noch mehr Ausgänge gibt.«

»Aber ich sage dir doch, daß kein weiterer vorhanden ist.«

»Und für Dienstboten und Lieferanten?«

»Sie kommen vom Souterrain aus hinein.«

»Da könnten die Leute heute abend auch hinausgegangen sein.«

Avory stand auf.

»Unsinn, King. Kann man sich das vorstellen?«

»Nein, du hast recht. Aber was nun?«

»Ich will mir Mühe geben, mehr herauszubekommen. Inzwischen kannst du über dieses Problem nachdenken, vielleicht fällt dir etwas Gescheites ein. Natürlich habe ich eine Ahnung.«

King sah ihn fragend an, und Avory lachte, während er auf die Tür zu ging.

»Ja, so ist es. Ich ahne, daß der Amaranthklub etwas anderes maskiert. Aber was?«

 


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