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74. Kalli empört sich

Es war gegen neun Uhr abends, als Karl Siebrecht nach Haus kam, das Taxi stand schon, auf ihn für den Nachtdienst wartend, vor der Tür. Rieke und Kalli hatten aber nicht auf ihn gewartet, sie hatten schon zu Abend gegessen, auf einer Ecke des Tisches war noch für ihn gedeckt. Er sagte guten Abend, und sie antworteten ihm darauf, es klang wider in der Stube, und dann wurde es still. Er stand plötzlich so leer da, er war voll von Entschlüssen, er war besten Willens gewesen, nun war alles wie fortgeblasen. Rieke stand auf. »Ick will dein Essen warm machen«, sagte sie und ging bis zur Tür. Aber dann konnte sie es doch nicht über sich bringen, sie blieb stehen, sie sagte leise: »Ick finde, du übertreibst det jetzt, Karle! Mittags sagste, du jehst bloß mal schnell telefonieren, und abends um neune kommste nach Haus! Det nenne ick übertrieben.«

»Entschuldige, Rieke«, sagte Karl Siebrecht schuldbewußt. »Du hast vollkommen recht. Ich hatte den Herrn von Senden wegen des Kalubrigkeit angerufen, und der wollte mich gleich sprechen. Darüber habe ich dich dann ganz vergessen.«

Wieder gelogen, dachte er. Nicht der Rittmeister wollte mich gleich sprechen, ich wollte zu ihm ...

»Du vajißt een bißken ville die letzte Zeit«, sagte Rieke. »Na, es jeht in einem hin. Ick mache denn dein Essen warm.« Die Tür klappte, sie war gegangen.

Einen Augenblick stand Karl Siebrecht und sah diese Tür an, er überlegte, ob er Rieke nachgehen sollte, aber dann wandte er sich an den Freund, der schweigend am Fenster gesessen hatte. »Wie war der Tag heute?« fragte er. »Hat's einigermaßen geklappt mit der Kasse?«

Kalli Flau antwortete eine Weile gar nichts. Dann stand er plötzlich auf und trat nahe auf den Freund zu. »Rieke hat ganz recht«, sagte er, und diesmal konnte er nicht leise reden, dazu war er zu erregt. »Du nimmst dir die letzte Zeit ein bißchen viel raus, Karl! Wer, denkst du denn, daß du bist, ich glaube, dir gehört mal eine tüchtige Tracht Prügel, daß du dich wieder besinnst! Wie du es mit dem Taxi treibst, davon will ich gar nicht reden, du bist das Benzin nicht wert, das du verfährst!« Seine Stimme steigerte sich immer mehr. »Du kommst und gehst, wann du willst, du machst Landpartien, manchmal zeigt die Uhr sechzig Kilometer, und du lieferst für keine zehn Kilometer Geld ab ...«

Karl Siebrecht war schneeweiß geworden. Der Freund, dieser ruhige, geduldige Mensch, stand in höchstem Zorn vor ihm. Er schüttelte seine Hände, sein dunkles Gesicht sah rot aus. Und er konnte ihm mit keinem Wort antworten, alles, was Kalli sagte, war nur zu wahr.

»Aber davon wollen wir gar nicht reden«, fuhr Kalli immer wütender fort. »Ich will auch nichts davon sagen, daß du dich von uns durchfüttern läßt und noch große Ansprüche stellst, als müßte es so sein! Ewig paßt dir dies nicht und paßt dir das nicht! Aber wie du mit Rieke umgehst, das ist eine Hundsgemeinheit, das sage ich dir! Ich habe dich beizeiten gewarnt, aber da warst du ganz groß, Rieke war deine Heimat, Rieke liebtest du! Wenn das deine Liebe ist –! So möchte ich nicht zu meinem Dienstmädchen sein, so rede ich nicht zu einer Nutte, wie du mit Rieke sprichst! Ein eiskalter Kerl bist du! Jetzt weiß ich, was du bist, an keinem liegt dir was, nur an dir, an deinen Launen, an deinen Wünschen! Aber das sage ich dir, wenn du noch einmal in meiner Gegenwart so mit Rieke sprichst, du kriegst Schläge von mir! Dann kenne ich mich auch nicht mehr! Dies habe ich mir jetzt ein bißchen zu lange angesehen und angehört ...«

»Kalli!« rief Rieke und kam zornig in die Stube. »Wat fällt dir in?! Wat jeht dir mein Mann an?! Wat jehen dir unsere Sachen an? Ick kann for mir selba reden, vastehste, ich brauch keinen Vormund nich und dir schon lange nich!«

»Rieke«, sagte Kalli. »Er muß es einmal hören. Du machst dich ja hin mit all deiner Geduld! Der merkt es ja gar nicht. Der denkt, das muß alles so sein!«

»Stille biste!« rief Rieke. »Ick bin in diese Ehe rinjegangen, und ick habe jewußt, er liebt mir nich so, wie ick ihn liebe. Ick habe jehofft, det wird noch kommen bei ihm. Nu is et nicht jekommn, aber det war meine Schuld, det ick falsch jehofft habe, nich seine! Sei vanünftig, Kalli«, sagte sie plötzlich mit dieser geduldigen Stärke, die sie erst in ihrer Ehe erworben hatte. »Ick weeß, du meenst et jut, aber du machst alles bloß schlimmer. Ick denk imma, er wird noch von selbst aufwachen, ick denk imma, det ist die Zeit jetzt. Du weckst ihn nich uff, und ick ooch nich. Kalli, bitte vadrück dir jetzt, vaschlaf det, ihr seid doch Freunde – muß denn alles hin werden in diese verdammte Zeit?«

Diesem Ton konnte Kalli Flau nie widerstehen. Verlegen stand er in der Tür, er sagte: »Ich hab's ja nicht so gemeint, Karl. Nur, weißt du, manchmal reißt einem auch die Geduld, ich hab's auch über mit dieser ollen Fahrerei –«

»Hau ab!« sagte Rieke, »du oller Dussel! Du mußt dir ja nich entschuldigen. Karle vastehst dir schon, nich wahr, Karle? Jute Nacht, Kalli. – Komm, setz dir hin, Karle, mach dir nischt draus, iß wat. Er is heute uffjeschrieben worden von 'nem Schupo, er hat Krach mit 'nem Fahrgast jehabt, deswejen is der heute so. Iß doch, Karle, schmeckt et denn nich?«

»Nein«, sagte er und schob den Teller zurück. »Es schmeckt alles nicht mehr. Kann man denn so noch leben, Rieke?«

»Doch, det kann man, Karle!« sagte sie, hatte seine Hand genommen und streichelte sie. »Det is noch nich so schlimm. Andere leben schlimmer. Es is keen Verjnüjen, det is wahr, aber ick sehe ja, dir macht et ooch keen Vajnüjen, du wärst ooch jerne anders.«

So redete Rieke, und so war sie: unbestechlich, rein wie Gold, unwandelbar in ihrer Liebe und Geduld. Was konnte er ihr von all dem Dunkeln sagen, das in seiner Brust vorging? Nichts! Manchmal haßte er sie fast wegen ihrer geduldigen Liebe, es wäre so viel leichter für ihn gewesen, wenn sie sich mehr Blößen gegeben hätte! »Ach, Rieke«, sagte er. »Ich weiß nicht mehr aus noch ein. Ich bin ziemlich verzweifelt.«

»Det kommt noch anders«, sagte sie tröstend. »Wart man ab. Lange kann det nich mehr so weiterjehen mit dem Dollar. Und wenn wir erst wieda richtijet Jeld haben, kommen ooch wieda richtije Zeiten, wo du wat vornehmen kannst.« Ihr gesunder praktischer Sinn kam immer mehr zum Durchbruch. »Und, Karle, wat, du jibst dir heute recht Mühe, det de een bißcken Jeld nach Haus bringst! Wir sind mächtig knapp. Die Garage ist zwei Monate im Rückstand, und an de Tankstelle wollen se Kallin ooch nischt mehr pumpen. Schaff een bißchen an, Karle, sei freundlich zu die Leute!«

Und so saß er denn auch an diesem Abend wieder am Steuer des Taxi, wie alle Abende. Er hatte vorgehabt, zum Händler Engelbrecht zu gehen und ihn um irgendeine regelmäßige, feste Arbeit zu bitten. Jetzt konnte er es wieder nicht. Er kam nicht von seiner Kette los, er rüttelte an ihr, aber sie hielt ihn. Er kam nie wieder frei.


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